ETHISCHE FRAGEN | In einer Pandemie die Grundrechte wahren

24.10.2022 Elisabeth Seifert

Alters- und Pflegeheime stehen in einer Pandemie vor der herausfordernden Aufgabe, die Bewohnerinnen und Bewohner zu schützen und gleichzeitig wichtige Persönlichkeitsrechte zu gewährleisten. Regula Mader von der Nationalen Anti-Folter-Kommission sowie der  Ethiker Settimio Monteverde sehen Handlungsbedarf. Bei den Institutionen und den Behörden.

Im Jahr 2020 und bis ins Jahr 2021 hinein blieben viele Alters- und Pflegeheime während Monaten in der Folge der Coronapandemie geschlossen. Besuche waren nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Von heute auf morgen waren die Bewohnerinnen und Bewohner von physischen sozialen Kontakten zu ihren Angehörigen weitgehend abgeschnitten. Die Besuchsverbote mit dem Ziel, die oft hochbetagten Bewohnerinnen und Bewohner vor dem gefährlichen Virus zu schützen, verletzten mit dem Recht auf soziale Kontakte ein wichtiges Persönlichkeitsrecht.

Gerade bei den fragilen Bewohnerinnen und Bewohnern der Alters- und Pflegeheime legte die Coronapandemie die eminente Bedeutung beider Grundrechte offen – das Recht auf den Schutz der Gesundheit und das Recht der persönlichen Freiheit. Über die Hälfte der Todesfälle der Corona­pandemie ereignete sich in den Alters- und Pflegeeinrichtungen. So besteht bei Menschen, die in grossen Haushalten zusammenleben, eine erhöhte Infektionsgefahr, darüber hinaus fehlte vor allem zu Beginn der Pandemie vielerorts die Schutzausrüstung für das Pflegepersonal.

Andererseits zeigten sich im Verlauf der Pandemie die schlimmen Folgen der weitgehenden Abschottung der Bewohnerinnen und Bewohner von ihrem Umfeld: Ganz besonders demenzbetroffene Menschen erlebten einen raschen kognitiven Abbau, auch einen körperlichen Zerfall, nicht selten verbunden mit Folgeerkrankungen, die zum Tod führen konnten.

Es gibt immer einen Spielraum

Damit wird deutlich, wie schwierig und gleichzeitig notwendig es für Behörden und Heime gleichermassen ist, in einer Pandemiesituation die Ausbreitung des Virus in den Institutionen so gut wie möglich einzudämmen, ohne die Persönlichkeitsrechte allzu stark zu beschneiden.

«Die grosse Herausforderung bestehe darin, in einer Pandemiesituation die Verhältnismässigkeit zu wahren.»

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF), die im Herbst 2021 ihre Kontrollbesuche in sozialmedizinischen und sozialen Institutionen gestartet hat, legte aus solchen Gründen auch ein Augenmerk darauf, wie umsichtig und verhältnismässig Pflegeheime Sicherheitskonzepte und behördlich verfügte Covidmassnahmen, unter anderem die Besuchsverbote, umgesetzt haben.

Mittlerweile hat die Kommission sieben Pflegeheimen aus allen Teilen der Schweiz einen Besuch abgestattet. «Einige dieser Heime haben die vom Bund und vor allem von den Kantonen verfügten Massnahmen restriktiver ausgelegt als andere», konstatiert Regula Mader, Präsidentin der Kommission. Die grosse Herausforderung bestehe darin, in einer Pandemiesituation die Verhältnismässigkeit zu wahren. Da die übergeordneten, von den Behörden verfügten Massnahmen keine Rücksicht nehmen können auf die spezifische Situation in einem Heim und die einzelnen Bewohnenden, stehen diese selbst in der Verantwortung.

«Die Heimleitungen müssen erkennen, welchen Spielraum sie im Einzelfall trotz übergeordneter Vorgaben haben.»

Dies erfordere aufseiten der Heimleitung und auch der Mitarbeitenden eine klare Wertehaltung der Selbstwirksamkeit und Autonomie, wie sie die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, unterstreicht die Kommissionspräsidentin. «Sie müssen erkennen, welchen Spielraum sie im Einzelfall trotz übergeordneter Vorgaben haben.»

Gilt das Besuchsverbot zum Beispiel auch, wenn Bewohnerinnen und Bewohner mit ihren Angehörigen im Garten spazieren gehen? «Es geht immer darum, wie eng man eine Massnahme auslegt», weiss Regula Mader aus eigener Erfahrung. Bis Herbst 2021 war sie als Direktorin im Schlossgarten Riggisberg tätig, einer grossen sozialen Institution, vor allem für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung. Dort versuchte man, möglichst individuelle Lösungen für die Bewohnerinnen und Bewohner zu treffen.

«Insbesondere bei betagten Menschen sollten Besuche durch Angehörige jederzeit möglich sein», unterstreicht sie. Ihren Spielraum genutzt hätten die Heime vor allem dann, wenn es darum ging, Besuche bei sterbenden Menschen zuzulassen. Generell gebe es bei der verhältnismässigen Umsetzung behördlich verordneter Massnahmen, wozu auch die Flexibilität im Einzelfall gehöre, indes durchaus noch Sensibilisierungsbedarf.

«Insgesamt waren die Heime kreativ und haben sich im Interesse der Bewohnenden um gute Lösungen bemüht.» Von der ersten über die zweite bis hin zur dritten Pandemiewelle sei dabei das Bewusstsein gestiegen, welche negativen Folgen die zum Teil massive Einschränkung sozialer Kontakte für die Lebensqualität der Bewohnenden hatte.

Neben den Bewohnenden waren davon auch die Mitarbeitenden betroffen, weil die wertvolle Unterstützung durch die Angehörigen fehlte. Als «problematisch» und für die Heime wenig hilfreich beurteilt Regula Mader die unterschiedliche Praxis in den verschiedenen Kantonen.

Kritik an «Diffusion der Verantwortung»

Während Regula Mader die Heime auffordert, den Spielraum der behördlich verfügten Massnahmen zu nutzen, nimmt Settimio Monteverde die Behörden, den Bund und die Kantone, in die Pflicht. «Die Behörden auf nationaler und kantonaler Ebene haben den Heimen zu viel Verantwortung aufgebürdet und damit auch zu viel Einfluss gegeben», kritisiert er. Monteverde ist Dozent für Ethik an der Berner Fachhochschule und Co-Leiter Klinische Ethik am Universitätsspital Zürich. Darüber hinaus ist er Mitglied der Begleitgruppe im Bereich der sozialen Einrichtungen der nationalen Kommission zur Verhütung von Folter.

«So habe der Bund keine expliziten Regelungen für Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf getroffen.»

Der Medizinethiker beobachtet eine verhängnisvolle «Diffusion der Verantwortung» vom Bund über die Kantone bis zu den Institutionen. So habe der Bund in seiner laufend angepassten Verordnung zur Regelung der ausserordentlichen Lage keine expliziten Regelungen für Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf getroffen. Entsprechende Regelungen fallen vielmehr in die Kompetenz der Kantone, etwa die Regelung der Besuchszeiten oder der Erlass eines Besuchsverbots.

Bemerkenswert sei vor diesem Hintergrund, so Monteverde, dass das Bundesamt für Gesundheit etwa in seinen «Informationen und Empfehlungen für Institutionen» von Anfang Juni 2020 empfehle, die Besuche vor allem von besonders gefährdeten Personen weiterhin umsichtig vorzusehen.

Viele Kantone haben ihrerseits entsprechend der ihnen vom Bund übertragenen Kompetenz Besuchsverbote beschlossen, wobei verschiedene Erlasse es den Heimen überlassen, in bestimmten Ausnahmefällen vom Besuchsverbot abzuweichen. Andere Erlasse verpflichten die Heime trotz eines Besuchsverbots dazu, Massnahmen zu ergreifen, um den Kontakt zwischen Bewohnenden und Angehörigen ­aufrechtzuerhalten, wozu nach Möglichkeit auch der ­persönliche Kontakt gehört.

«Aus Angst davor, dass Angehörige eine Verletzung der Sorgfaltspflicht geltend machen könnten, bekommt der Schutz des Lebens eine sehr grosse Bedeutung.»

Gefordert: Eine Entlastung der Heime

Aufgrund dieser vielfach schwammigen Verfügungen habe man, so Monteverde, die Heime gleichsam im Regen stehen lassen. In einer solchen Situation aber entscheide man sich schnell für die sicherste Lösung, sprich: Besuche eben kaum mehr zuzulassen, von Angehörigen, aber zum Teil auch von Beiständen oder Hausärztinnen und Hausärzten. Monteverde: «Aus Angst davor, dass Angehörige eine Verletzung der Sorgfaltspflicht geltend machen könnten, bekommt der Schutz des Lebens eine sehr grosse Bedeutung.»

Nachvollziehbar sei dieser Reflex in der initialen Phase einer Pandemie. Man habe aber vielerorts zu lange mit Öffnungsschritten zugewartet, obwohl bereits bekannt war, wie man sich schützen konnte, und auch klar wurde, welche negativen Folgen das Besuchsverbot hatte. Problematisch ist aus Sicht des Ethikers vor allem, dass Heimleitungen über die Beschneidung der Persönlichkeitsrechte entscheiden können respektive entscheiden müssen.

«Es darf nicht sein, dass die Heimleitung darüber bestimmt, ob die Angehörigen auf Besuch kommen dürfen oder ob es einen Beistand oder Hausarzt braucht.» Die Entscheidung darüber müsse bei den Bewohnenden respektive bei deren Vertretungspersonen liegen, zumal die Heime ja das Zuhause der Betagten sind.

Settimio Monteverde ist mit dieser Sichtweise nicht alleine. In ihrem Appell vom 1. Juli 2020 «Pandemie: Lebensschutz und Lebensqualität in der Langzeitpflege» haben sich zahlreiche Medizinethikerinnen und Medizinethiker in der Schweiz dazu bekannt. So heisst es hier zum Beispiel: «Menschen in Langzeitinstitutionen leben in privat genutzten Räumlichkeiten. Das Recht auf Selbstbestimmung in der eigenen Privatsphäre muss ihnen auch in ausserordentlichen Lagen zugestanden werden, selbstredend unter Einhaltung empfohlener Schutzstandards und Beachtung bestehender Schutzkonzepte, deren Wirksamkeit und Verhältnismässigkeit kontinuierlich zu überprüfen sind.»

Der Appell postuliert, dass selbst unter Isolationsbedingungen der Zugang von Vertretungspersonen, Beiständen, engen Bezugspersonen und von notwendigen Fachpersonen gewährleistet sein müsse.

«Es darf nicht sein, dass die Heimleitung darüber bestimmt, ob die Angehörigen auf Besuch kommen dürfen.»

Damit diese Forderung auch tatsächlich gelebt werden kann, braucht es gemäss Settimio Monteverde eine Entlastung der Heime durch die Behörden. «Bund und Kantone müssen sich verbindlich dazu bekennen, dass bei verletzlichen Personen physische Kontakte gewährleistet sein müssen.» Je nach Pandemiesituation sind das minimale, aber tägliche soziale Kontakte bis hin zur Ermöglichung eines beinahe uneingeschränkten Zugangs. Gerade die Angehörigen, so Monteverde, bedeuten in einer Pandemie für die Pflegenden eine grosse Unterstützung.

Eine Ressource, auf welche die Heime gerade in einer Zeit, in der auch viele Pflegende krankheitshalber ausfallen, nicht verzichten können.
 


Nationale Kommission zur Verhütung von Folter

Im Herbst 2021 hat die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) damit begonnen, die Einhaltung grundrechtlicher Standards in Institutionen der Langzeitpflege und im Behindertenbereich zu überprüfen. Mittlerweile hat sie sieben Pflegeheime aus allen Landesteilen besucht. Die seit 2010 bestehende Kommission inspiziert die Menschen- und Grundrechtskonformität freiheitsbeschränkender Massnahmen in Einrichtungen, wo Menschen durch einen behördlichen Entscheid in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Der gesetzliche Auftrag betrifft zudem die Beurteilung von bewegungseinschränkenden Massnahmen an Patientinnen und Patienten respektive Bewohnenden in psychiatrischen Einrichtungen sowie in sozialen und sozialmedizinischen Einrichtungen. Die Besuche der NKVF dauern jeweils ein bis zwei Tage. Danach verfasst die Kommission einen Bericht zuhanden der Aufsichtsbehörde. Diese hat zwei Monate Zeit, Stellung zu nehmen. Liegt deren Stellungnahme vor, wird der Bericht veröffentlicht. Die ersten Berichte über die Besuche in Pflegeheimen werden voraussichtlich Ende Jahr veröffentlicht.