Nützlichkeit
Damit Menschen Technologien überhaupt einsetzen wollen und können müssen sie die Technologie akzeptieren. Diese so genannte Technologieakzeptanz hängt in Anlehnung an das Technologie-Akzeptanz-Modell (Technology Acceptance Model) nach Davis et al. (1989) bzw. Venkatesh und Davis (2000) entscheidend von zwei Variablen ab: der wahrgenommenen Nützlichkeit und der wahrgenommenen Benutzerfreundlichkeit (synonym: Bedienerfreundlichkeit, Usability). Im Folgenden wird die Nützlichkeit als wichtiger Erfolgsfaktor genauer angeschaut.
Dass eine Technologie den Endnutzer:innen einen Nutzen, einen Mehrwert bringen muss und entsprechend ihre Bedürfnissen adressiert, hört sich selbstverständlich an, ist es aber gerade mit Blick auf ältere Nutzergruppen leider bei Weitem nicht. So halten Birken et al. (2018, S. 2) fest: «Ein [...] Problemfeld ergibt sich daraus, dass bei der Entwicklung technischer Unterstützungssysteme im Vorfeld nicht genau genug geprüft wird, ob sich im Leben der älteren Menschen überhaupt relevante Probleme finden lassen, auf die die entwickelten Systeme eine Antwort liefern. Die Erhebung der konkreten Bedürfnisse und Wünsche stellt aus unserer Sicht ein zentrales Thema dar, das in der Forschung im Bereich ‹Alter und Technik› bisher noch nicht den Stellenwert einnimmt, den es mit Blick auf aktuelle und zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen haben sollte».
Der Blick auf die Bedürfnisse älterer Menschen mit und ohne lebensbegleitende Behinderung kann auf methodischer Ebene besondere Herausforderungen mit sich bringen, denen sich Entwickler:innen von Technologien sowie Projektschaffende stellen müssen: Gerade wenn kognitive und bzw. oder kommunikative Fähigkeiten eingeschränkt sind, etwa bei Menschen mit demenzieller Erkrankung oder bei Menschen mit kognitiver Behinderung, müssen zielgruppenspezifische Erhebungsinstrumente, Methoden und Vorgehensweisen entwickelt werden.
Good Practice: Be my eyes
Das Projekt und seine Ziele
Be my Eyes ist eine auf iOs und Android laufende kostenlose App, die Menschen mit Sehbehinderungen in ihrem Alltag unterstützen will. Dazu verbindet die App Menschen mit Sehbehinderung per Live-Videoanruf mit Freiwilligen in ihrer Sprach- und Zeitregion. Wenn ein Mensch mit Sehbehinderung Hilfe wünscht, fordert er diese über Be my Eyes an. Die App sendet daraufhin eine Nachricht an mehrere Freiwillige. Der:die erste Freiwillige, die antwortet, wird mit dem Menschen mit Sehbehinderung verbunden. Er:sie erklärt sodann im sprachlichen Austausch seine Bedürfnisse. Die Videoverbindung erlaubt es dem:der Freiwilligen, die Umgebung des:der Hilfesuchenden zu sehen und das aktuell vorhandene Problem gemeinsam zu lösen. Dank über fünf Millionen Freiwilligen in 180 Sprachen können die Anrufe der 350'000 Menschen mit Sehbehinderung, die die App nutzen, meistens innerhalb von 30 Sekunden beantwortet werden. So können beispielsweise heruntergefallene Gegenstände wiedergefunden, Kleidungsstücke farblich aufeinander abgestimmt, das Verfallsdatum von Lebensmitteln ermittelt oder Deko-Objekte ausgewählt werden – und vieles mehr.
Neu verbindet die App auch den Kundenservice von Unternehmen und Behörden mit Menschen mit Sehbehinderung: Speziell geschulte Mitarbeitende können so ihre sehbehinderten Kunden:innen optimal bei der Nutzung der Unternehmensprodukte und -Dienstleistungen unterstützen. Genutzt wird das Angebot beispielsweise bereits im IT-Support, für Unterstützung von Kunden:innen in Supermärkten, die nach Produkten suchen, für das Handling von Stimm- und Wahlunterlagen oder die Nutzung von Schwangerschafts- und Covid-Tests.
Herausforderung, Herangehensweise und Erfahrung in Bezug auf die Nützlichkeit
Voraussetzung für die Akzeptanz einer Technologie ist, dass sie dem:der Nutzer:in einen spezifischen Nutzen bringt. Sie muss deshalb auf die tatsächlichen Bedürfnisse dieser Menschen abgestimmt sein. Diese Bedürfnisse zu erkennen und zu definieren, ist nicht einfach, gerade bei Menschen im Alter und generell Menschen mit Einschränkungen. Es steht ausser Frage, dass Menschen mit Sehbehinderung im Alltag vor besonderen Herausforderungen stehen. Dies trifft in besonderem Mass auf Menschen zu, bei denen sich die Sehbehinderung erst mit dem Alter entwickelt hat, und die in der Regel nicht mit spezifischen Hilfsmitteln für blinde und sehbehinderte Menschen wie der Brailleschrift vertraut sind.
Es gibt Unterstützungstechnologien, welche die möglichen Herausforderungen für sehbehinderte Menschen im Vorfeld zu definieren versuchen. So bietet etwa die App Seeing AI, die auf künstlicher Intelligenz basiert, Hilfe beim Lesen von kurzen Texten, beim Erkennen von Produkten über den Barcode, beim Beschreiben von Personen oder Szenen und beim Identifizieren von Bargeld oder Farben. Für die Akzeptanz ist es förderlich, wenn eine Technologie möglichst oft sinnstiftend eingesetzt werden kann. Der Alltag von Menschen mit Sehbehinderung ist aber ebenso verschieden, wie die Individuen, die ihn leben. Alle möglichen Herausforderungen zu definieren, für die eine Technologie eine potenzielle Lösung bieten könnte, ist nicht möglich. Einzigartig am Ansatz von Be my Eyes ist, dass diese Technologie dies gar nicht versucht. Das Entwicklungsteam hat eine innovative Lösung dafür gefunden, dass die Bedürfniserhebung schwierig und stets unvollständig ist: Man hat mit Be my Eyes eine Technologie zur Verfügung gestellt, die keine konkreten Bedürfnisse adressiert, sondern den nutzenden Menschen ermöglicht, den Hilfsbedarf, den sie gerade haben, selber zu definieren. Mit der direkten Verbindung zu Freiwilligen oder Kundendienstmitarbeitenden, steht ihnen eine Unterstützung zur Verfügung, die flexibel auf ihre Bedürfnisse reagieren kann. Diese Vielfältigkeit und Flexibilität ist einer der Erfolgsfaktoren, die zur breiten Nutzung und Verbreitung von Be my Eyes beitragen. Gleichzeitig unterstütz Be my Eyes seine sehbehinderten Nutzer:innen aber auch darin, den möglichen Nutzen der App zu erkennen, indem ihnen Erfahrungsberichte und Tipps für mögliche Nutzungssituationen angeboten werden.
Wichtigste Lessons Learned
- Die alltäglichen Bedürfnisse von Menschen sind individuell.
- Eine Technologie wird tendenziell breiter akzeptiert, wenn sie nicht auf wenige konkrete Funktionen beschränkt ist, sondern vielfältig einsetzbar ist.
Kontakt und weitere Informationen
www.bemyeyes.com
www.bemyeyes.com/language/german
Ansprechpartner für Interviews:
Will Butler
will@bemyeyes.com
Good Practice: CYBATHLON
Das Projekt und seine Ziele
CYBATHLON will die Forschung, Entwicklung und Umsetzung von alltagstauglichen assistiven Technologien für Menschen mit Behinderungen fördern. Fokussiert werden Assistenzsysteme wie beispielsweise Rollstühle, elektrische Muskelstimulation, Prothesen oder Geräte, die mittels Gedankensteuerung bedient werden. Hauptbestandteil von CYBATHLON ist ein Wettkampf für Menschen mit Behinderungen, die unterstützt von modernsten technischen Assistenzsystemen gegeneinander antreten. 2020 fand der CYBATHLON Global Edition statt, an dem 51 Teams aus 20 Ländern teilnahmen. Die Teams bestehen jeweils aus einem «Piloten» bzw. einer «Pilotin» mit Behinderung sowie Forscher:innen und Entwickler:innen einer oder mehrerer Hochschulen. Die Wettkämpfe werden als öffentliches Event veranstaltet. So sollen Barrieren zwischen Technologieentwicklern:innen, Menschen mit Behinderung und der Öffentlichkeit abgebaut und der Austausch unter ihnen gefördert werden.
Neben den Wettkämpfen führt CYBATHLON zahlreiche weitere Events und Projekte durch: Neben den CYBATHLON Series, die den weltweiten wissenschaftlichen Austausch antreiben sollen, und den CYBATHLON Experiences, die der Öffentlichkeit assistive Technologien näherbringen möchte, gibt es auch CYBATHLON @school. Dieses Projekt bietet Unterrichtsmodule in verschiedenen Fächern an – rund um die Themen Inklusion und Robotik.
CYBATHLON wurde 2013 von Robert Riener, Professor für sensomotorische Systeme an der ETH Zürich, lanciert und 2016 erstmals als CYBATHLON -Wettkampf durchgeführt. Unter dem Dach der ETH Zürich wird der CYBATHLON als gemeinnütziges Projekt geführt. Finanziert wird das Projekt durch die ETH Zürich (Organisation), die Hochschulen und anderer Finanzierungspartner der teilnehmenden Teams (Entwicklung) und Drittmittel (z.B. Travelfunding, Eventsponsoring etc.).
Herausforderung, Herangehensweise und Erfahrung in Bezug auf die Nützlichkeit
Die ETH Zürich hat erkannt: Millionen von Menschen mit Behinderungen nutzen in ihrem Alltag technische Assistenzsysteme. Diesen Technologien mangelt es jedoch häufig an praktischen Funktionen, was die Nutzer:innen enttäuscht. Hinzu kommt, dass die Anpassung und Nutzung vieler Assistenzsysteme im Alltag zeitintensiv und anstrengend ist und im Alltag Probleme auftauchen können, die hohes Frustrationspotential bergen (z.B. zu geringe Batterielaufzeit, Fehlfunktionen). Das resultiert darin, dass neue Technologien entweder nicht genutzt und gar nicht erst akzeptiert werden. Zusätzlich gibt es im öffentlichen Umfeld Barrieren, die den Einsatz von Assistenztechnologien oft umständlich oder sogar unmöglich machen.
CYBATHLON legt deshalb den expliziten Fokus auf die Entwicklung alltagstauglicher Assistenzsysteme. Die CYBATHLON-Wettkämpfe sollen sich am Meistern von tatsächlichen Alltagssituationen ausrichten. Die Definition der Wettkampfdisziplinen und die Gestaltung der Parcours erfolgt deshalb in engem Austausch mit Menschen, die aufgrund von Behinderungen assistive Technologien nutzen sowie mit Behindertenorganisationen. Ausserdem fliessen die praktischen Erfahrungen von Krankenhäusern, Industrie und Politik ein. Auch die mit den Wettkämpfen verbundenen Aktivitäten werden in Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung entwickelt.
Neben den Anforderungen des Alltags spielen die individuellen Bedürfnisse und Voraussetzungen der Menschen mit Behinderung eine wichtige Rolle für die Alltagstauglichkeit der Assistenzsysteme. Die Individualisierung von z.B. Funktionalitäten, Bedienungsmöglichkeiten und Tragekomfort sind deshalb zentral für das erfolgreiche und zügige Meistern der Wettkämpfe. Jedes Entwicklungsteam arbeitet darum während der ganzen Projektdauer eng mit Menschen mit Behinderung zusammen, insbesondere mit seinem:r Piloten:in. Die Entwicklung findet etappenweise statt und stellt eine ständige Ausrichtung an den konkreten Anforderungen und Bedürfnissen des Menschen mit Behinderung im Alltag sicher. Die Anzahl der Austausche, die Art des Testens und die Kommunikation mit den Menschen mit Behinderung sind von Team zu Team unterschiedlich, je nach Technologie, die entwickelt wird und den individuellen Voraussetzungen der Menschen mit Behinderung.
Die Forschungsteams stellen jedoch immer wieder fest, dass es eine Herausforderung sein kann, interessierte Menschen mit Behinderung zu finden, die über das nötige hohe Mass an Neugier und Bereitschaft zum Testen und Evaluieren verfügen, den teilweise sehr hohen Zeitaufwand stemmen können, sich für die vier Jahre dauernde Entwicklungsphase verpflichten und bereit sind, sich der Öffentlichkeit auszusetzen. Es ist deshalb für die Teams und CYBATHLON ein zentraler Punkt, frühzeitig und gezielt nach Partnern:innen aus der Zielgruppe zu suchen.
Wichtigste Lessons Learned
- Menschen mit Behinderungen müssen von Anfang an in die Entwicklungen von Technologien (d.h. bereits vor der Entwicklungsplanung) einbezogen werden, die für sie gedacht sind. Der Kontaktaufbau zu Vertretern:innen der Zielgruppe ist keine Nebensächlichkeit, sondern von zentraler Bedeutung und es benötigt Zeit und Aufwand.
- Es braucht die Inputs und das Feedback verschiedener Vertretern:innen der Zielgruppe.
- Die Alltagssituationen müssen genau analysiert werden und jedes Testen von Technologie muss im Alltag stattfinden.
- Eine etappenweise Entwicklung ist wichtig: Nur so können Rückmeldungen wirklich berücksichtigt und Fehler bzw. Ärgernisse effizient behoben oder vermieden werden. Hingegen sind die Korrekturmöglichkeiten kurz vor Entwicklungsende oft beschränkt.
Kontakt und weitere Informationen
Anni Kern
Stellvertretende Leiterin CYBATHLON, Leiterin Kommunikation, Strategie, Teams und CYBATHLON @school
anni.kern@cybathlon.com
Literaturangaben
- Birken, T., Pelizäus-Hoffmeister, H., Schweiger, P., und Sontheimer, R. (2018). Technik für ein selbstbestimmtes Leben im Alter – eine Forschungsstrategie zur kontextintegrierenden und praxiszentrierten Bedarfsanalyse. In: Forum Qualitative Sozialforschung, 19 (1), Art. 3. Zugriff am 16.12.2012.
- Davis, F. D., Bagozzi, R. P., Warshaw, P. R. (1989). User acceptance of computer technology: a comparison of two theoretical models. In: Management Science 35(8), 982–1003 (verfügbar in Englisch).
- Venkatesh, V., und Davis, F. D. (2000). A Theoretical Extension of the Technology Acceptance Model: Four Longitudinal Field Studies. In: Management Science, 186–204 (verfügbar in Englisch).