«Begegnungen auf allen Ebenen ermöglichen»

24.10.2022 Elisabeth Seifert

Anfang Dezember öffnet die Messe Swiss Handicap in ­Luzern zum sechsten Mal ihre Tore. Gegen 100 Aussteller werden ihre Produkte und Dienstleistungen präsentieren. Wie Mit-Initiant Fiore Capone betont, versteht sich die Messe als eine Massnahme, um den Postulaten der ­UN-BRK Nachdruck zu verleihen.

Die Messe Swiss Handicap wurde erstmals 2013 durchgeführt – im Dezember findet sie zum sechsten Mal statt. Weshalb haben Sie und drei weitere Initianten die Swiss Handicap ins Leben gerufen?

Wir stellten fest, dass eine nationale Plattform fehlt, bei der das Thema Menschen mit Beeinträchtigung ganzheitlich beleuchtet wird. Wir haben in der Schweiz viele Veranstaltungen für Menschen mit bestimmten Behinderungen, etwa für Querschnittgelähmte, Menschen mit Cerebralparese, Autisten oder für Blinde- und Sehbehinderte. Wir Initianten erkannten in einer Messe für alle Arten von Beeinträchtigung ein grosses Potenzial.
 

Swiss Handicap will Transparenz schaffen, aktuelle Themen auf den Tisch bringen und Menschen mit Behinderung bessere Lebensbedingungen ermöglichen. Ist das nicht ein sehr hoher Anspruch?

Das ist eine Vision, und wir versuchen diesen Anspruch mit unserer Messe so gut wie möglich umzusetzen. Wir verstehen Swiss Handicap nicht in erster Linie als Hilfsmittelmesse, obwohl drei der vier Initianten aus diesem Bereich kommen. Die Messe ist eine Begegnungs- und Sensibilisierungsplattform. Ganz bewusst verzichten wir im Titel der Messe auch auf den Begriff Rehabilitation. Wir wissen allerdings, dass wir noch Entwicklungspotenzial haben.
 

Sie knüpften mit Ihrer Vision an die Postulate der UN-Behindertenrechtskonvention an?

Wir haben die Messe praktisch zeitgleich mit der Ratifikation der UN-BRK durch die Schweiz ins Leben gerufen. Wir sehen die Messe als eine der Massnahmen, um das Bekenntnis der Schweiz zu unterstützen. Sobald wir als Gesellschaft die Inklusion verwirklicht haben, braucht es eine solche Messe nicht mehr.
 

Wie hat die Messe seit der erstmaligen Durchführung dazu beigetragen, diese Ziele zu erfüllen?

Im Jahr 2019 konnten wir erstmals Regelschulklassen dazu bewegen, an die Swiss Handicap zu kommen. Wir hatten damals 35 Klassen aus der Primar- und Oberstufe. Sie besuchten klassenweise gemeinsam mit einem Betroffenen die Messe. Im Verlauf dieser Rundgänge konnte man im Zeitraffer feststellen, wie Inklusion entsteht. Zuerst spürte man ­Barrieren und Vorurteile, vor allem auch deshalb, weil man keine Berührungspunkte hat. Am Ende des Rundgangs spielt es keine Rolle mehr, dass jemand im Rollstuhl sitzt, weil die Schülerinnen und Schüler den Menschen, die Person kennengelernt hatten. Jetzt im Dezember werden über 50 Klassen die Messe besuchen.
 

Welche weiteren Aktivitäten können Sie benennen?

In den zwei Hallen der Swiss Handicap haben wir eine Reihe von Projekten, die sich nicht einer klassischen Hilfsmittelmesse zuordnen lassen. Gemeinsam mit unserem Partner Plussport zeigen wir etwa, wie man mit Sport und Freizeitaktivitäten Barrieren abbauen kann. In einem anderen Projekt werden Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam Guetzli backen. Zudem haben wir ein Vortragsprogramm mit Themen aus Handlungsfeldern der UN-BRK.
 

Sie sprechen damit auf das Rahmenprogramm an. Ein Blick auf die Liste der Aussteller zeigt indes: Im Zentrum stehen Hilfsmittel aller Art, oder täuscht der Eindruck?

Sehr viele Aussteller kommen tatsächlich aus dem Hilfsmittelbereich. Das sehen wir und versuchen, zusätzlich Aussteller aus anderen Bereichen zu gewinnen. Vor allem fehlen uns immer noch Aussteller aus dem Bereich der Dienstleister für Menschen mit Beeinträchtigung, besonders Betroffenenorganisationen. Wenn wir diese ansprechen, sagen sie uns jeweils mit dem Argument ab, dass sie ja nichts verkaufen und die Messeteilnahme für sie deshalb uninteressant ist.
 

Wie begegnen Sie diesem Argument?

Aus meiner Sicht gehört es zu den Aufgaben von Betroffenenorganisationen, ihre Dienstleistungen öffentlich zu präsentieren. Swiss Handicap bietet allen Akteuren rund um Menschen mit Behinderung eine Plattform. Nicht zwingend mittels eines Messestandes, sondern auch im Rahmen eines Projekts. Wir werden jetzt verstärkt mit verschiedenen Akteuren persönlich in Kontakt treten, um sie für eine Zusammenarbeit zu gewinnen.
 

Welche Zielgruppen sprechen Sie mit der Swiss Handicap an?

Es gibt die grosse Zielgruppe der Betroffenen gemeinsam mit ihrem Umfeld, dem privaten und auch dem beruflichen Umfeld. Zudem Fachpersonen aus dem schulischen, begleitenden oder pflegerischen Bereich. Hinzu kommen alle Akteure im Bereich von Menschen mit Beeinträchtigung, dazu gehören die Kostenträger, auch die Politik. Wir würden gerne noch mehr Politikerinnen und Politiker an der Messe begrüssen.
 

Was sehen die Besucherinnen und Besucher an den Messeständen?

Die Aussteller im Bereich der Hilfsmittel ver­treten zwei Arten von ­Innovationen. Zum einen die technologischen Neuigkeiten, wie neue Produkte oder sogar Produktbereiche, da denke ich etwa an den Bereich der Robotik. Hier kann die Messe viel Aufklärungsarbeit leisten. Zum anderen gibt es viele Innovationen im Sinne von Produktoptimierungen, über die sich Besucherinnen und Besucher informieren können. Eine Messe ist heute aber vor allem eine Begegnungsplattform, und zwar auf allen Ebenen.
 

Gerade die Entwicklung auf dem Hilfsmittelmarkt ist stark technologiegetrieben. Die Produkte sind damit entsprechend teuer. Wer zahlt das?

Viele Produktanbieter und Betroffene vertreten heute immer noch die Meinung, dass man etwas nur verkaufen respektive kaufen kann, wenn ein Produkt durch einen staatlichen Kostenträger, also etwa die IV, bezahlt wird. Diese Kostenträger können aber nur die Grundversorgung sicherstellen und nicht das für einen Kunden oder Kundin womöglich geeignetste und beste Produkt. Die Technologie bietet sehr viele Möglichkeiten, und die Entwicklung auf diesem Gebiet ist rasant.
 

Was ist zu tun?

Ich möchte alle in die Pflicht nehmen: Die Produktanbieter sind gefordert, die Betroffenen auf andere Finanzierungsmöglichketen aufmerksam zu machen. Es gibt Anlaufstellen und Organisationen, an die man Anträge stellen kann. Auch Arbeitgebende sind womöglich gewillt, gewisse Kosten zu übernehmen. Für grös­sere Abnehmerorganisationen kann das Fundraising eine Möglichkeit sein. Die Betroffenen müssen offen dafür sein, ­solche neuen Möglichkeiten zu prüfen. Und was die staatlichen Kostenträger ­betrifft: Hier wünschte ich mir etwas weniger Bürokratie und mehr unternehmerisches Denken.
 

Wo sehen Sie das Entwicklungs­potenzial für die Messe?

Wie ich bereits erwähnt habe, möchten wir möglichst mit allen Akteuren rund um die Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigung zusammenarbeiten. Noch zu wenig angesprochen fühlen sich zudem Menschen mit sensorischen Beeinträchtigungen oder auch Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Wir möchten eine Plattform sein für Menschen mit allen Arten von Beeinträchtigungen.
 


Unser Gesprächspartner

Fiore Capone ist Mit-Initiant der Swiss Handicap und Geschäftsführer der Active Communication AG, die im Bereich der digitalen assistiven Technologien tätig ist.

 

Foto: Privat
 


Die Messe Swiss Handicap

Die Messe Swiss Handicap findet vom 2. bis 4. Dezember 2022 in den Hallen der Messe Luzern statt. Magazin ARTISET-Leserinnen und Leser haben einen 5 Franken Rabatt auf den Ticketpreis: Auf der Messe-Website unter «Ticket» die Gutscheinnummer 0104 7443 9629 1813 eingeben und Online-Ticket lösen.

www.swiss-handicap.ch