ERFAHRUNG TEILEN | «Wir brauchen junge Alte»

14.12.2022 Anne-Marie Nicole

Im Juni dieses Jahres wurde der Verein Mont Solidaire ins Leben gerufen. Er entstand aus einem partizipativen Gemeinschaftsprojekt und wird von und für Seniorinnen und Senioren geführt. Pro Senectute Waadt, der Kanton Waadt und die Gemeinde Le Mont-sur-Lausanne unterstützen den Verein. Sein Ziel ist es, die sozialen Beziehungen der Seniorinnen und Senioren aufrechtzuerhalten und ihre Lebensqualität zu verbessern.

Im Kirchgemeindehaus von Le Mont-sur-Lausanne versammeln sich jeden Donnerstag um die zwanzig Personen für das «Café Solidaire». Manchmal sind es noch mehr. Diesen Donnerstag drängen ab halb zehn über dreissig Personen zum Eingang, wo sie von den heutigen Gastgebern Gérard Tissot und Edgard Raeber empfangen werden. Es herrscht eine herzliche Atmosphäre, man grüsst sich, ruft den bereits an den Tischen Sitzenden von Weitem etwas zu, erfährt Neuigkeiten von den einen und fragt nach der Gesundheit von anderen.

Das Café Solidaire gehört zu den Haupttätigkeiten des Vereins Mont Solidaire.

An der Bar nahe beim Eingang steht ein grosser Tisch. Die darauf liegenden Informationen erinnern an die bevorstehenden Aktivitäten. Interessierte werden dazu aufgefordert, sich für einen Ausflug, eine Konferenz oder auch eine solidarische Mahlzeit anzumelden. Zudem können Freiwillige auf einer Liste ihre Verfügbarkeit für den Transport des Gruppenältesten eintragen. Der 90-Jährige kann sich kaum noch allein fortbewegen. Gelegentlich liegt dort auch eine Karte mit Genesungswünschen für Kranke zur Unterschrift auf. Dieser Treff bietet nicht zuletzt auch die Gelegenheit, über zukünftige Projekte zu informieren. 

«Es ist ein magischer Ort»

Das Café Solidaire gehört zu den Haupttätigkeiten des Vereins Mont Solidaire. Zu seinen Zielen gehören die gegenseitige Hilfe, das Zuhören und der Austausch. Es ist ein Ort der Begegnung, wo die Seniorinnen und Senioren der Gemeinde Freundschaften schliessen können. Für die Neuzugezogenen ist es der erste Schritt zu neuen Bekanntschaften und Geselligkeit. «In unserem Alter droht manchmal Einsamkeit», warnt die achtzigjährige, rüstige Gisela Raeber. Sie gehört zur Verwaltungsgruppe des Vereins. «Hier ist für alle ein magischer Ort, egal, ob man allein, als Paar, im Alters- und Pflegeheim oder betreut wohnt», schwärmt die Frau. Mit Begeisterung erzählt sie von den Lebenswegen und -geschichten der Menschen, die sie im Café Solidaire trifft und die ihr nun auch auf der Strasse oder in den Geschäften begegnen. 

Gisela und Edgard Raeber leben seit vierzig Jahren in Le Mont-sur-Lausanne. Trotzdem kannten sie bis vor fünf Jahren abgesehen von den nächsten Nachbarn nicht viele Leute in der Gemeinde. Allerdings ist zu sagen, dass sich die Gemeinde von Le Mont-sur-Lausanne über etwa 980 Hektaren erstreckt und gegen 10 00 Einwohnerinnen und Einwohner zählt.

Es ist eher eine Stadt als ein Dorf. Aufgrund des raschen Bevölkerungswachstums von Le Mont war die Gefahr da, dass sich die sozialen Beziehungen innerhalb der Bevölkerung auflösen. Der bald 80-jährige Lucien Paillard ist Co-Vorsitzender der Verwaltungsgruppe und Antriebskraft des Projekts, das zur Gründung des Vereins Mont Solidaire führte. Im Jahr 2016 zeigte sich der Gemeindepräsident von Le Mont besorgt über das mangelnde Interesse der älteren Menschen an ihrem Wohlbefinden. Er vertraute sich Lucien Paillard an, und dieser machte ihn auf die Vorteile der seit Anfang 2000 von Pro Senectute Waadt initiierten Gemeinschaftsprojekte «Quartiers  illages Solidaires» aufmerksam.

«Das Projekt verfolgt auch das Ziel der Selbstorganisation.»

So startete im Juni 2017 offiziell ein «Quartier Soli­daire»-Projekt in Le Mont-sur-Lausanne. Geführt wird es von und für Seniorinnen und Senioren der Gemeinde unter der Federführung des Ressorts Bildung, Kultur und Umwelt. Für die Leitung ist die Abteilung Gemeinwesenarbeit von Pro Senectute Waadt zuständig. «Das Projekt wendet sich an Seniorinnen und Senioren und geht davon aus, dass sie die Experten für ihre nähere Umgebung sind», schrieb der Gemeinderat Philippe Somsky im Herbst 2017.

Und weiter: «Es bietet ihnen die Möglichkeit, Empfehlungen für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen an die Behörden zu übermitteln (…) Das Projekt verfolgt aber auch das Ziel der Selbstorganisation.»

In diesem Frühling wurde der Partizipationsprozess offiziell abgeschlossen und der neu gegründete Verein Mont Solidaire übernahm das Projekt. Auch wenn eine Verwaltungsgruppe eingesetzt wurde, bleibt die Struktur doch horizontal und partizipativ. Die Seniorinnen und Senioren entwickeln Projekte und Aktivitäten und entscheiden über deren Durchführung. Eine Ressourcengruppe gewährleistet den Kontakt zu den Akteuren vor Ort.

Zur Gruppe gehören die ­Gemeinde Mont, die reformierte Kirchgemeinde, das sozialmedizinische Zentrum, das Alters- und Pflegeheim La Paix du Soir, verschiedene Vereine und Stiftungen sowie die Abteilung Regionale Sozialarbeit von Pro Senectute Waadt. Die Gemeinde unterstützt das Projekt seit 2023 mit Beiträgen. 

Vom Cyber-Café bis zur «Zeitbank»

Mitte September wurde für das flügge gewordene Projekt anlässlich der Gründung des Vereins Mont Solidaire ein Fest organisiert. Die Seniorinnen und Senioren präsentierten einen Sketch mit dem Namen «Der Zauberstab». Die Theaterproduktion schildert auf anschauliche Weise die vielen Aktivitäten des Vereins. Man erfährt, dass Adriana jeden ersten Montag im Monat eine Wanderung vorschlägt, dass Daniel verantwortlich für das Cyber-Café ist, dass ­Françoise für die kulturellen Anlässe zuständig ist und dass Johanna den «Club der Bonvivants» leitet. 

«Für ein Lächeln und ein Merci.»

Zudem entdeckt man, dass eine auf Biodiversität bedachte Gruppe einen Permakulturgarten mit Nistkästen, einem Insektenhotel, zwei Teichen und einem Blumenfeld angelegt hat. Dazu kommen der Mittwochs-Jass, Pétanque am ­Freitag, die intergenerationellen Begegnungen, der Literaturclub, das Strick- und Häkelatelier, die Kornothek und Kurse für sanfte Gymnastik. 

Und nicht zu vergessen die «Zeitbank». Hierbei handelt es sich laut den Erklärungen von Lucien Paillard um ein Netzwerk für kostenlose gegenseitige Hilfestellung – «Für ein Lächeln und ein Merci» steht auf dem Angebotsformular. Alle können hier ihre Kenntnisse und Talente oder die gewünschten Hilfestellungen einbringen: Kleinreparaturen, Möbelmontage, Personentransport, Rechts- oder Immo­bilienberatung, Bäume schneiden, Informatik-Support oder Sprachkurse. Knapp zwanzig Personen stellen in der Zeitbank ihre Fähigkeiten zur Verfügung.

Die Ressourcen der Gruppe sind vielfältig, werden aber noch zu wenig genutzt. «Viele wollen nicht um Hilfe bitten», beobachtet Gisela Raeber. 

Junge Seniorinnen und Senioren sind gesucht

Mont Solidaire vereinigt Menschen mit sehr unterschiedlichen kulturellen, beruflichen und sozialen Hintergründen. «Eine Verständigung ist immer möglich und man lacht auch viel zusammen», versichert Gisela Raeber. «Man muss seine Vorurteile beiseitelassen und mehr Toleranz und Respekt lernen», ergänzt Lucien Paillard. Von den rund 170 Personen, die sich dem Verein Mont Solidaire angeschlossen haben, engagieren sich knapp 40 aktiv. Neben dem Stolz und der Freude, ein Teil dieser Bürgerbewegung zu sein, ist auch eine gewisse Unsicherheit zu spüren.

«Es wimmelt von Ideen und Initiativen, aber die Dynamik ist fragil»

Obwohl die Mitglieder trotz ihres Alters noch sehr aktiv sind, würden sie die Teilnahme jüngerer Seniorinnen und Senioren zwecks Ablösung begrüssen. «Uns verbindet eine erstaunliche Dynamik. Es wimmelt von Ideen und Initiativen, aber die Dynamik ist fragil», gesteht Nano de Vries ein. Heute war er der Chauffeur für den 90-jährigen Ältesten. «Wir brauchen junge Alte» Dieses Thema wird die zukünftigen Überlegungen und Aktionen sicher noch beeinflussen. 


Quartiers & villages solidaires

Das Ziel der «Quartiers & Villages Solidaires» von Pro Senectute Waadt sind bessere Lebensbedingungen für die älteren Menschen in einem Dorf oder Quartier. Dies geschieht durch den Aufbau sozialer Beziehungen und nach einem partizipativen Ansatz. Die Methodik zur Begleitung von Gemeinschaftsprojekten umfasst sechs Etappen: Voranalyse, Diagnose, Aufbau, Entstehung, Realisierung, Autonomie. In zwanzig Jahren hat Pro Senectute Waadt rund vierzig solcher Quartieroder Dorfprojekte begleitet.

www.quartiers-solidaires.ch


 

Foto: Mont Solidaire