FACHKRÄFTE | Vom Chef, der rügt, zum Chef, der unterstützt
Die Fondation Domus in Martigny hat es gewagt: Seit fünf Jahren leben die Mitarbeitenden partizipatives Management, in dem die Teams auch ihre Arbeits- und Ferienpläne selbergestalten. Ganz einfach lief das nicht ab. Aber alle finden es spannend, dass sie sich in die neuen Strukturen stärker einbringen können, und sehen einen grossen Mehrwert für ihre Arbeit.
Durch die Fenster der Büros in Martigny sieht man auf den fast 3000 Meter hohen Grand Chavalard. Massiv und unverrückbar steht er da. Alles andere als starr und unverrückbar hingegen ist die Fondation Domus: Die Institution, die 56 Menschen mit meist psychischer Beeinträchtigung beherbergt und 83 Plätze im therapeutischen Tageszentrum sowie 140 Wohnungen für Klientinnen und Klienten bietet, ist ausgesprochen lebendig und passt sich dem Wandel der Zeit an.
Genau genommen, sei der Bedarf nach neuen Strukturen schon lange dagewesen, sagt Geschäftsführer Philippe Besse. «Nur ich war noch nicht so weit.» Er schmunzelt. Es sei nicht so einfach, als «Directeur», der vor 20 Jahren in der Fondation angefangen und seine Führungsrolle gern wahrgenommen habe, so mir nichts, dir nichts Aufgaben und Kompetenzen abzutreten und im partizipativen Team zu funktionieren. Er überlegt kurz und sagt dann ehrlich, dass es ihm wohl nicht gelungen wäre, hätte ihn nicht ein komplettes Burnout für mehrere Monate zur Erholung gezwungen und ihm gezeigt, dass es so nicht weitergeht.
Zurückgekommen sei vor sechs Jahren quasi ein neuer Philippe Besse: einer, der die Zeichen der Zeit wahrnahm, wusste, dass besonders die jungen Nachwuchskräfte andere Ansprüche an ihre Stelle haben. Und der daher ohne langes Zaudern gemeinsam mit dem Leitungsteam eine neue partizipative Managementform plante und einführte.
«Die Leute, die wir begleiten, sollen lernen, wieder ihr eigenes Leben zu pilotieren. Das können wir ihnen nur glaubwürdig vermitteln, wenn wir auch im Team Selbstbestimmung leben.»
Ein Jahr Testlauf im achtköpfigen kooperativen Leitungsteam mit enger Begleitung durch einen externen Coach zeigte: Es kann funktionieren – wenn alle dahinterstehen und am selben Strick ziehen. Stéphanie Emery Haenni, Verantwortliche Personal und Bildung, stiess just zu dieser Zeit zum Team, sie lernte Philippe Besse bereits als offenen Chef kennen, einen, der allen Verantwortung für ihre jeweiligen Positionen zugesteht. Einen, der alle ermuntert, selber Verantwortung zu übernehmen, Initiative zu zeigen und mitzureden. Ihr entspricht diese Form sehr – für sie ist partizipatives Management sogar die einzig sinnvolle Form für eine Institution, die Menschen mit mehrheitlich psychischen Beeinträchtigungen bei der Wiedereingliederung in den Alltag helfen will: «Wir arbeiten mit psychosozialer Rehabilitation. Die Leute, die wir begleiten, sollen lernen, wieder ihr eigenes Leben zu pilotieren. Das können wir ihnen nur glaubwürdig vermitteln, wenn wir auch im Team Selbstbestimmung leben.»
Partizipation für alle 130 Mitarbeitenden
Nachdem das Direktionskollegium das Testjahr überstanden hatte, wagte es deshalb im Februar 2019 den Sprung, präsentierte den Teams die neue Vision und erklärte, dass die partizipative Führungsform nun für die gesamte Institution, also für alle rund 130 Mitarbeitenden, eingeführt werde. Die Reaktionen waren gemischt: Einige begegneten dem neuen Modell etwas zurückhaltend, ein paar waren total dagegen und wiederum andere superenthusiastisch. «Aber die meisten waren interessiert und offen gegenüber unseren Ideen», sagt Philippe Besse.
So starteten alle Teams mit dem Coaching in partizipativem Management – begeistert, aber immer wieder überrascht, wie komplex die Fragen rund um diesen Wechsel sind.
«Es geht nicht nur darum, partizipativ zu arbeiten, sondern verantwortlich. Man muss sich viel mehr persönlich einbringen.»
Und rasch zeigte sich: Es geht keineswegs darum, dass alle demokratisch über alles bestimmen, vielmehr müssen die Rahmen punkto Regeln, Finanzen oder Ziele noch viel exakter definiert sein als zuvor. «Die grosse Freiheit liegt innerhalb dieses Rahmens», erklärt Stéphanie Emery Haenni. Einfach war der Wechsel nicht. Philippe Besse schmunzelt. «Anfangs war ich naiv und dachte einfach, es sei eine schöne Idee.» Rasch merkten er und sein Team: Mit der externen Schulung und dem Coaching, nach dem Direktionskollegium auch für jede einzelne Gruppe, war erst der Anfang getan.
Danach habe es eine ganze Haltungsänderung gebraucht: «Es geht nicht nur darum, partizipativ zu arbeiten, sondern verantwortlich. Das heisst, man muss sich viel mehr persönlich einbringen.» Stéphanie Emery Haenni nickt und erklärt: «Ich muss Philippe geradeaus sagen können, wenn mir etwas nicht passt. Er hingegen muss auch hinhören können – es ist ein beidseitiges Einlassen.» Das liege nicht allen gleich gut, und anfangs sei die Führung durch das Kollegium noch instabil und zerrissen gewesen. Einige konnten nicht mit der neuen Verantwortung umgehen und verliessen das Team. «Nicht alle mögen das – und nicht alle können das», das war Philippe Besse von Anfang an klar.
Mehr Autonomie, mehr Wert der Arbeit
Andere hingegen waren begeistert. Sozialarbeiterin Charlotte Reuse, die seit 10 Jahren in der Fondation Domus arbeitet, fand nach dem Wechsel: «Es braucht viel persönlichen Einsatz. Dafür habe ich viel Autonomie gewonnen und neue Kompetenzen entwickelt, und meine Arbeit hat dadurch an Wert gewonnen.» Pflegefachmann Sébastien Cattiez stieg gleich mit der neuen Managementform ein und fand schon bald: «Die zusätzliche Verantwortung macht mir Lust, mich selber einzubringen und Sachen auf meine Weise zu machen – auch wenn mal ein Fehler passiert.» Denn Fehler sind offiziell erlaubt, alle haben ein «Recht auf Irrtum», und das Direktorenteam setzt auf eine gute Fehlerkultur. Die jeweiligen Vorgesetzten bis hinauf zum Direktor haben deshalb einen ganz neuen Umgang damit gefunden: Philippe Besse sagt, er habe sich inzwischen «vom Chef, der rügt, zum Chef, der unterstützt» gemausert.
Vieles hätten er und sein Team mangels Vorkenntnissen quasi im Blindflug gemacht, viele Fragen durch Versuch und Irrtum gelöst und dabei laufend gelernt. Besse ist heute froh, dass er damals nicht alle Schwierigkeiten kannte, «sonst hätte ich den Schritt vielleicht nicht gewagt». Aber zurück zur alten Führungsform möchte niemand mehr, denn die Arbeit sei nicht nur viel komplexer, sondern auch viel reicher geworden: «Alle müssen mehr wissen, müssen erkennen, wie sie zu den nötigen Antworten kommen, und sich deshalb auf eine engere Zusammenarbeit einlassen.»
«Man muss interdisziplinär zusammenarbeiten, einander fragen und Qualität und Quantität selber mitgestalten.»
Es sei eigentlich ein ganz anderes, neues Berufsbild, ergänzt Stéphanie Emery Haenni: «Man muss interdisziplinär zusammenarbeiten, einander fragen und Qualität und Quantität selber mitgestalten.» Das komme begeisterten, energischen und talentierten Mitarbeitenden entgegen, die willens sind, sich viel stärker persönlich einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. Und es entspricht jenen Frischausgebildeten und Studierenden von der Team-Akademie der Fachhochschule HES-SO Wallis, die ihre Studieninhalte mit Hilfe von Coaches selber zusammenstellen: Sie möchten ihre Selbstständigkeit und Eigenverantwortung nicht wieder hergeben, und die Fondation Domus findet bei ihnen dank dem partizipativen System genug Nachwuchs.
«Ausserdem können alle ihre Arbeit nach Wunsch bereichern, indem sie sich in Spezialkommissionen einbringen», sagt Emery Haenni. Gruppen für Kommunikation, Lagerplanung oder Gesundheit am Arbeitsplatz: Damit können die Mitarbeitenden auch eigene Stärken einbringen und selbst den Takt angeben, statt nur nach dem Takt der Leitung zu funktionieren. In den Gruppen sind übrigens auch Klientinnen und Klienten vertreten: Auch sie dürfen zu ihrem Erstaunen mitreden – das gehört zum ganzheitlichen Ansatz des Hauses.
Motivierte Mitarbeitende, die länger bleiben
In einem Jahr wird eine neue Herausforderung auf das Leitungskollegium zukommen: Wenn das neue Gebäude im nahegelegenen Ardon eröffnet wird, ziehen nebst den Bewohnerinnen und Bewohnern aus dem Provisorium in Martigny auch 18 neue Bewohnerinnen und Bewohner dort ein, und das Team wird dementsprechend vergrössert. «Das wird schwierig, dann müssen wir sämtliche neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Grund auf schulen, und sie werden sich an die ganz neue Arbeitsweise gewöhnen müssen», sagt Besse. Die anderen Teams haben bereits gelernt, wie sie sich absprechen müssen, um Arbeitspläne zu erstellen, selbstständig Vertretungen zu organisieren oder Ferienpläne einzubauen. Sie regeln das weitgehend selbstständig. Das geht, weil auch hier klare Richtlinien bestehen, wer wie oft einspringen muss und wer als Nächstes an der Reihe ist. Bei Uneinigkeiten hilft der oder die jeweilige Vorgesetzte, und zwar im Sinn eines Coachings – sie servieren keine fertigen Lösungen, sondern helfen beim Suchen von Lösungsmöglichkeiten. Einfach sei das nicht, sagt Stéphanie Emery Haenni. «Aber es ermöglicht allen, über sich hinauszuwachsen und sich immer besser zu qualifizieren.»
«Ausserdem hat die Fondation heute keine Probleme, neue Mitarbeitende zu finden.»,
Was aber kostet ein solcher Wechsel? Mehrkosten, antwortet Philippe Besse, seien vor allem im Bereich Bildung entstanden. Aber diese, davon ist er überzeugt, zahlten sich längst aus, weil die Mitarbeitenden produktiver, motivierter und glücklicher seien und deshalb länger blieben. «Ausserdem hat die Fondation heute keine Probleme, neue Mitarbeitende zu finden, und die Studierenden sind begeistert», ergänzt Stéphanie Emery Haenni. Alles in allem, sagt Besse: «Heute sind wir im ersten Mount-Everest-Basiscamp angekommen.» Seine Kollegin nickt und findet dann, eigentlich seien sie sogar schon weiter: «Wir können erstmals ernten.»
Darum arbeite ich gerne hier - Fachkräfte erzählen
Auf dem Bild: Sozialarbeiterin Charlotte Reuse, Pflegefachmann Sébastien Cattiez, Personalverantwortliche Stéphanie Emery Haenni und Direktor Philippe Besse (von links)
Foto: cw