GEWALT | «Nicht nur alt, sondern alte Persönlichkeiten!»

08.02.2023 Claudia Weiss

Gewalt gegenüber alten Menschen findet längst nicht nur in Form von körperlichen Misshandlungen statt, sondern weit häufiger als subtile Missachtung. «Das passiert oft deshalb, weil man alten Menschen abspricht, dass sie noch eigene Bedürfnisse haben», erklärt Psychologin Delphine Roulet Schwab. Sie schlägt vor, unbedingt bereits in der Berufsbildung den Blick dafür zu öffnen.

Sie forschen seit 20 Jahren auf dem Gebiet Gewalt im Alter und haben zahlreiche Studien publiziert. Gibt es etwas rund um dieses Thema, das Sie noch heute überrascht?

Delphine Roulet Schwab: Schon als ich während meines Psychologiestudiums als Pflegehilfe in einem Altersheim gearbeitet habe, wunderte ich mich darüber, wie jemand «ganz Normales», jemand wie Sie und ich, plötzlich fähig ist, gegenüber einer wehrlosen Person Gewalt auszuüben. Und noch wichtiger ist natürlich die Frage, wie man das verhindern kann. Diese Frage beschäftigt mich bis heute.
 

Im Lauf Ihrer Forschungstätigkeit haben Sie allerdings auch diverse Antworten gefunden.

Wichtig ist, dass wir uns stets bewusst sind: Längst steckt nicht immer eine böse Absicht hinter Gewalttätigkeit, sondern manche übergriffigen Verhaltensweisen geschehen auch eigentlich in guter Absicht. Aber das Hauptmotiv für Gewalt ist, dass wir den alten Menschen automatisch ihren Willen und ihre Wünsche absprechen! Natürlich wird beispielsweise durch eine Alzheimererkrankung die Autonomie der Betroffenen eingeschränkt, aber wir sprechen diese oft auch allen anderen alten Menschen ab.

«Die Persönlichkeit verschwinde im Alter – man ist dann nicht mehr eine alte Persönlichkeit, sondern nur noch alt.»

Sie sprechen also von einer ­klaren Altersdiskriminierung?

Ja, Altersdiskriminierung ist ein wichtiger sozialer Aspekt: Diese negative Bewertung, die Tatsache, dass alle von vornherein in denselben Topf geworfen werden. Dass «alt» sofort mit «fragil und verletzlich» konnotiert wird und dass sich irgendwie in unseren Köpfen die Idee eingenistet hat, die Persönlichkeit verschwinde im Alter – man ist dann nicht mehr eine alte Persönlichkeit, sondern nur noch alt.
Dasselbe passiert oft in Institutionen: Sie sind grosse Maschinen, die funktionieren müssen und in die sich alte Menschen irgendwie einfügen müssen.
 

Wie kommt es denn, dass wir die Persönlichkeit alter Menschen so einfach vergessen?

Ein Problem ist, dass alte Menschen sich selbst oft nicht als alt erkennen, da diese soziale Kategorie nicht wertgeschätzt wird. Ich erinnere mich an eine 96-jährige Frau im Altersheim, die auf die Frage, wie es ihr heute gehe, dezidiert antwortete: «Ach, es ist schrecklich langweilig hier – alles nur alte Leute!»
Anders als in den USA haben alte Menschen hier keine Lobby, und in Arbeitsgruppen sind zwar Altersorganisationen wie Pro Senectute vertreten, aber kaum die alten Menschen selbst. Letztlich ist es also dieses ganze Umfeld, das zu Gewalt gegenüber alten Menschen führt.
 

Und, wie Sie erforscht haben, ­geschieht das eben nicht nur in Institutionen, sondern auch in Beziehungen von erwachsenen Kindern gegenüber ihren älter werdenden Eltern …

Oft handelt es sich dabei um eine Form der Machtübernahme, die anfangs fast unmerklich ist. Die Infantilisierung oder kleine Beleidigungen beginnen ganz langsam: «Komm, lass mich das machen, das verstehst du eh nie!» Oder: «Brauchst du wirklich noch einen neuen Mantel, willst du wirklich noch eine so teure Reise unternehmen, und brauchst du denn noch ein ganzes Haus für dich?» Auch wenn die Kinder frei über die Konten ihrer Eltern verfügen oder bei den Einkäufen deren Kreditkarte auch gleich für die eigenen Besorgungen verwenden, ist das Gewalt. Nur sind wir uns dessen oft gar nicht richtig bewusst.
 

Insgesamt sind geschätzte 300 000 Seniorinnen und Senioren jährlich von Misshandlungen ­betroffen.

Ja, eine enorme Zahl. Vor allem, weil in der Schweiz keine Statistik verfügbar ist und dies nur Schätzungen anhand von Statistiken aus dem umliegenden Ausland sind. Das heisst, die Dunkelziffer könnte massiv höher sein. Wir gehen davon aus, dass rund 20 Prozent der über 60-jährigen Menschen davon betroffen sind, also eine von fünf Personen. Dieselben Zahlen begegnen uns übrigens im Bereich Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen oder gegen Frauen in der Ehe.
 

Sie sagen, das passiere oft ganz subtil. Was sind erste Anzeichen?

Eine Form von Gewalt ist auch Ausbeutung, und diese beginnt oft schleichend. Beispielsweise indem die erwachsenen Kinder von ihren Eltern ganz selbstverständlich erwarten, regelmässig die Grosskinder zu hüten, und dann auch nicht zögern, Druck aufzusetzen à la: «Wenn ihr nie Zeit habt, seht ihr eure Grosskinder halt nicht mehr.»
 

Das klingt traurig. Deprimieren Ihre Forschungsarbeiten Sie nicht manchmal?

Doch, schon, aber meine Motivation ist es, Möglichkeiten für die Prävention zu finden und etwas an dieser traurigen Situation zu ändern.
 

Und, welche Möglichkeiten haben Sie gefunden?

Es geht hier nicht nur um die intellektuelle Frage, was abläuft, sondern das Thema muss auch emotional berühren, damit ein echtes Umdenken stattfindet. Die Prävention funktioniert oft sehr sachlich kühl oder mit Angst. Um «von innen heraus» zu verstehen, inwiefern ein Verhalten missbräuchlich ist und die Integrität und Würde verletzt, müssen Pflegende und Angehörige jedoch die Situation durch die Augen der ­älteren Person nachempfinden können. Das gelingt viel besser mit persönlichen Erlebnisberichten, indem man nicht nur Fakten präsentiert, sondern Geschichten erzählt. Dasselbe fordere ich auch für die Berufsausbildung.
 

Was schlagen Sie punkto Berufsausbildung konkret vor?

Man könnte viel mehr mit Rollenspielen arbeiten, bei denen die Studierenden beispielsweise einander gegenseitig füttern oder im Rollstuhl umherschieben müssten. Heute ist enorm wichtig zu zeigen, wie unverzichtbar Expertise auch in der Langzeitpflege ist, und wie spannend diese Arbeit ist: Die Pflegenden können analysieren, komplexe ­Situationen handhaben und mit Multimorbidität umgehen, und es gibt auch schöne menschliche Begegnungen.
 

Ein positives Berufsbild hätte letztlich einen guten Effekt für die Langzeitpflegeinstitutionen …

Unbedingt. Und diese können ihrerseits wesentlich zur Prävention von Altersgewalt beitragen, indem sie ihre gesamte Organisation hinterfragen: Warum muss eine Pflegekraft, die an einem Vormittag vier Bewohnerinnen und Bewohner betreuen muss, diese unbedingt täglich duschen und ein eng strukturiertes Programm durchziehen, anstatt Zeit dafür zu verwenden, mit den alten Menschen zu sprechen, zu spazieren und ihnen einen Wunsch zu erfüllen? Was ist wirklich wichtig? Aus wessen Sicht? Und warum sind solche Freiheiten in einem Hotel möglich, ­sollen aber in einer Institution völlig unmöglich sein? Zudem ist man noch zu häufig davon überzeugt, dass ein Pflegeheim letztlich eine Wohlfahrtseinrichtung ist. Das mag früher so gewesen sein, aber heute bezahlen die Leute oft 6000 Franken monatlich für das Angebot. Dafür ist der Dienstleistungsgedanke noch viel zu wenig ausgeprägt – und das wiederum hängt ganz klar mit dem Thema Gewalt zusammen.

«Dieser Gedanke der Wohltätigkeit verleiht den Pflegenden und Betreuenden Macht, und dadurch erlauben sie sich oft wesentlich mehr, als sich das Angestellte in einem Hotel erlauben würden.»

Können Sie das bitte etwas konkreter ausführen?

Dieser Gedanke der Wohltätigkeit verleiht den Pflegenden und Betreuenden Macht, und dadurch erlauben sie sich wesentlich mehr, als sich das Angestellte in einem Hotel erlauben würden. Oft hat in Institutionen ganz klar der Dienstplan Vorrang statt der betreuten Personen: Falls Frau X gerne täglich frisch duscht, soll sie das dürfen. Wenn aber Frau Y lieber wöchentlich ein schönes Schaumbad wünscht und sich sonst am Lavabo wäscht, soll sie auch das dürfen. Institutionsangestellte sollten beim Setzen der Prioritäten auch die Rechte und den Wert der alten Menschen in Betracht ziehen – sie sollten die alten Menschen mit anderen Augen sehen statt nur als Arbeit oder als Dinge, die gepflegt werden müssen.

Natürlich muss man auch aufpassen, dass man nicht überall sofort Gewalt sieht, und Unstimmigkeiten gehören zum Leben, damit müssen wir alle umgehen.
 

Woran merken wir, ob wir noch im Bereich «Unstimmigkeiten» sind oder schon in Richtung ­Gewalt abdriften?

Die grosse Frage ist immer: Berührt es die Integrität, die Würde und die Rechte einer Person? Nehmen wir ein Beispiel: Als Heimbewohnerin bin ich vielleicht wütend oder enttäuscht, weil sich die Pflegefachfrau zuerst um meine Zimmernachbarin gekümmert hat. Aber das bedeutet nicht, dass ich ein Opfer von Gewalt bin. Wenn ich die Pflegerin jedoch darauf hinweise und sie antwortet: «Sie müssen warten. Sie meckern sowieso immer. Da es nun einmal so ist, müssen Sie sich eben selbst helfen», dann ist das etwas völlig anderes.
 

Lassen sich solche Verletzungen überhaupt verhindern?

Fehler können jederzeit passieren, sobald jemand mit Kindern oder alten, vulnerablen Menschen arbeitet. Sowohl in Institutionen als auch in Familien ist es daher enorm wichtig, eine gute Fehlerkultur zu pflegen: Es ist wichtig, das Fehlverhalten aufzuzeigen, sich zu entschuldigen und vor allem daraus zu lernen. Wurde beispielsweise eine Bewohnerin eine halbe Stunde auf der Toilette vergessen, wirkt es auf die aufgebrachten Angehörigen völlig anders, wenn die Pflegeverantwortlichen den Fehler zugeben, dazu stehen, sich entschuldigen und erklären, man werde Massnahmen ergreifen, damit das nicht mehr vorkomme, als wenn sie aufgebracht rufen, die Familie solle nicht so übertreiben und man habe halt einfach viel Stress.

«Alte Paare kommen in der Prävention häuslicher Gewalt gar nicht vor – als ob die Gewaltbereitschaft eines Ehemanns einfach verschwinden würde, sobald er seinen 60. Geburtstag feiert.»

Eines Ihrer neueren Forschungsthemen betrifft die eheliche ­Gewalt bei alten Paaren. Auch das ist ein Thema, das in unseren Köpfen gar nicht so richtig existiert. Warum?

Bei älteren Paaren denken wir nicht an Sexualität oder Emotionen, sie werden irgendwie gestaltlos. Deshalb kommen alte Paare in der Prävention häuslicher Gewalt gar nicht vor – als ob die Gewaltbereitschaft eines Ehemanns einfach verschwinden würde, sobald er seinen 60. Geburtstag feiert. Doch nur wenige ältere Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, melden sich bei einer Anlaufstelle.
Zum einen aus generationellen Gründen, weil eine 80-jährige Frau noch fest verinnerlicht hat, dass ihr Mann das Familienoberhaupt ist. Zum anderen, weil die Hilfsangebote nicht immer auf die Bedürfnisse älterer Menschen zugeschnitten sind: Viele Infos finden sich nur via Internet, und im Frauenhaus werden nur nicht-pflegebedürftige Frauen aufgenommen. Deshalb fürchten viele die Konsequenzen, beispielsweise dass sie in ein Pflegeheim gehen müssen, die Familie gegen sich aufbringen oder ­ihren Hund verlieren.

«Eine einheitliche Anlaufstelle und eine gute Vernetzung sind dringend nötig.»

Der Bundesrat prüft, ob ein «Impulsprogramm zu Gewalt im Alter» nötig ist, um die Situation zu verbessern. Braucht es das? Könnten wir nicht einfach als Gesellschaft besser darauf achten?

Ja, ein offizielles Impulsprogramm ist sehr wichtig, weil das Thema so wenig sichtbar ist und so selten besprochen wurde. Mittel für das Thema freizusetzen, heisst letztlich auch, dem Thema einen Wert zu geben. Ausserdem existieren zwar viele Einzelangebote, aber sie sind sehr zerstückelt, und auch die Institutionen arbeiten in diesem Thema noch überhaupt nicht zusammen.
Eine einheitliche Anlaufstelle wie das nationale Kompetenzzentrum «Alter ohne Gewalt» und eine gute Vernetzung sind dringend nötig. Deshalb wird man Ende Jahr mehr hören zu diesem Thema.
 

Wie sehen aus Ihrer Sicht die ­idealen Voraussetzungen dafür aus, dass Pflegende und Angehörige die alten Menschen ­gewaltfrei betreuen können?

In einer idealen Welt hätten alle Menschen die gleichen Rechte, unabhängig von Alter, Geschlecht und Landeszugehörigkeit. In der Schweiz, einem reichen, zivilisierten Land, dürften alte Menschen ihren Platz und ihren Wert trotz fortgeschrittenen Jahren behalten. Es gibt ein Sprichwort, das besagt, dass die Gesundheit eines Landes daran gemessen werden kann, wie es seine Alten behandelt. Da hat die Schweiz noch Verbesserungsbedarf.
Man darf aber auch nicht vergessen, dass es auch systembedingte und politische Elemente gibt: Alters- und Pflegeheime werden im Gesundheitssystem oft nicht angemessen anerkannt und die Rahmenbedingungen erzeugen einen grossen Druck auf die Einrichtungen und ihre Angestellten. Natürlich ist jeder Einzelne für seine Taten verantwortlich, aber die Gesellschaft trägt auch eine kollektive Verantwortung für Gewalt gegen ältere Menschen.
 


Delphine Roulet Schwab, Dr. phil. Psychologie, 44 Jahre, ist Professorin an der Fachhochschule für Gesundheit La Source (HES-SO) in Lausanne. Sie lehrt und forscht im Bereich Alterung. Zudem präsidiert sie den Westschweizer Verein Alter Ego, der sich in der Gewaltprävention für alte Menschen engagiert. Sie ist Präsidentin des Nationalen Kompetenzzentrums Alter ohne Gewalt und von Gerontologie ch



Foto: Hélène Tobler