29.09.2023

POLITIK | Rückblick auf die Herbstsession 2023

Die drei letzten Wochen debattierten die National- und Ständerät:innen zu einer Vielzahl von Geschäften. Nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit für die Rosinen aus dem Bundeshaus, die wir für Sie herausgepickt haben. 

Wird, was lange währt, auch endlich gut? 

Ganze drei Jahre beschäftigte sich das BSV mit der sprachlichen Modernisierung des IVG. Eine Knacknuss, die dem Amt von der Sozialkommission des Ständerats beschert wurde. Die wiederum konnte sich damit eines Problems entledigen, das im Rahmen der letzten IVG-Revision aufpoppte. Nämlich, wie und ob herabsetzende Begriffe ersetzt werden können. Nun liegt die Lösung auf dem Tisch. Bei künftigen Änderungen des Gesetzes will der Bundesrat betroffene Ausdrücke prüfen und sofern sinnvoll und möglich einen Ersatz vorschlagen. Er verzichtet aber, weil zu aufwändig, auf ein eigenes, umfassendes Gesetzesprojekt zur sprachlichen Modernisierung. Nicht nur auf Bundesebene, sondern auch auf kantonaler und kommunaler Ebene wäre der Aufwand hoch. Es müssten nicht nur unzählige Gesetze und Verordnungen angepasst werden, sondern auch eine enorme Anzahl sonstiger amtlicher und anderer Texte. Auch die Verfassung müsste geändert werden, was eine Volksabstimmung bedingt. Erdrückend viele Gründe, die der Ersetzung von Begriffen wie invalid, hilflos oder missgebildet entgegenstehen. 


09.528 pa. Iv. Humbel «Finanzierung der Gesundheitsleistungen aus einer Hand. Einführung des Monismus» 

Der Nationalrat hat der Integration der Pflege in EFAS (einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen) zugestimmt. Damit sind sich beide Räte im Grundsatz einig, dass der Einbezug der Pflege in EFAS ein zentraler Teil der Gesundheitsreform darstellt. So weit, so erfreulich. Allerdings sieht der Nationalrat von einem klar definierten Zeitpunkt der Integration der Pflege ab und stellt damit eine zielgerichtete Umsetzung der Reform infrage.  

Ohne verbindlichen Zeitpunkt, wann die Pflege Aufnahme in EFAS finden soll, besteht eine grosse Rechtsunsicherheit. Mit dieser Ausgangslage ist unklar, wie eine Tariforganisation für die Pflege und weitere Vorarbeiten aufgegleist werden können. Es liegt nun am Ständerat, die zeitlich verbindliche Aufnahme der Pflege in der Differenzbereinigung durchzusetzen. Seine klare Ansage in der Wintersession 2022, die Pflege sieben Jahre nach dem Inkrafttreten des Gesetzes in EFAS zu integrieren schafft Rechtssicherheit. Und ist gleichsam Garant dafür, EFAS als Reform für eine integrierte Gesundheitsversorgung zum Durchbruch zu verhelfen 


22.4261 Mo. SGK-N «Ambulant vor stationär für Menschen mit Behinderung nach Erreichen des AHV-Alters durch eine "smarte" Auswahl an Hilfsmitteln» 

Wenn es um Hilfsmittel geht, sind Menschen im AHV-Alter im Vergleich zu IV-Bezüger:innen schlechter gestellt. Dies ist erstaunlich in Anbetracht der Tatsache, dass ältere und betagte Menschen bzgl. Mobilität und Aufrechterhaltung ihrer Eigenständigkeit im Alltag oft auf Hilfsmittel angewiesen sind. Etwas bizarr wirkt darum die Haltung des Bundesrats, der sich in Sozialversicherungssemantik versteigt und seine Ablehnung damit begründet, dass die IV Menschen mit Behinderung integrieren wolle, während die AHV die finanzielle Existenz im Alter absichern solle. Weshalb diese artistische Unterscheidung der Finanzierung einer «smarten» Auswahl von Hilfsmitteln für ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung im Alter entgegensteht, weiss nur der Bundesrat. – Nach dem Nationalrat nahm nun auch der Ständerat nach einer längeren Diskussion, was denn eine «smarte» Auswahl umfasst, die Motion an. Damit muss sich der Bundesrat nun wohl oder übel an die Umsetzung machen. 


23.3167 Po. Hurni «Koordinationsprobleme zwischen der IV und der AHV bei Hilfsmitteln. Es ist an der Zeit, die Ungleichbehandlungen zu beseitigen!» 

In eine ähnliche Richtung zielt dieses Postulat, das der Nationalrat angenommen hat. Der Bundesrat soll eine Analyse zu allfälligen Koordinationsproblemen zwischen der IV und der AHV bei der Vergütung von Hilfsmitteln durchführen. Zudem soll er Möglichkeiten aufzeigen, wie Ungleichheiten vor allem beim Übergang von der IV zur AHV beseitigt werden könnten. Der Bundesrat anerkennt Unklarheiten in diesem Zusammenhang und zeigt sich bereit, einen Bericht dazu zu verfassen. Aber halt, nach der Annahme der oben genannten Motion, arbeitet da Bundesbern nicht doppelspurig? 🙄 


21.4022 Po. Wyss «Finanzierung des Lebensbedarfs von "care leavers" während der Ausbildung» 

Der Nationalrat war der Meinung, dass Unterstützungsleistungen für Careleaver:innen vorwiegend im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe erfolgen, für welche die Kantone zuständig sind – und wollte von dieser föderalen Aufgabenteilung nicht abweichen. Die interkantonalen Konferenzen KOKES und SODK haben im November 2020 Empfehlungen zur ausserfamiliären Unterbringung erarbeitet, die auch die Austrittsphase berücksichtigen. Das soll genügen, meinte eine knappe Mehrheit (92 zu 87 Stimmen). Diese war offensichtlich auch für das Argument von Bundesrat Alain Berset empfänglich, dass der Bund ja nicht untätig sei – etwa mit der Unterstützung von Vereinen wie YOUVITA und des Kompetenzzentrum Leaving Care. Dieser Hinweis auf die wertvolle Arbeit der Verbände ist zwar nett. Er löst das Problem von Ungleichbehandlungen und Lücken der Careleaver:innen je nach Wohnsitzkanton jedoch nicht. 


20.3374 Mo. Gugger «Unter-16-Jährige wirksam vor pornografischen Inhalten auf dem Internet schützen. #banporn4kids 

Die Verfügbarkeit von pornographischen Inhalten im Internet ist aktuell unzureichend eingeschränkt – und der Jugendschutz entsprechend mangelhaft. Der Nationalrat hatte der Motion im Mai 2022 bereits ein erstes Mal zugestimmt. Der Ständerat zweifelte hingegen, ob die in der ersten Fassung vorgeschlagenen Netzsperren von fahrlässigen Internetplattformen wirklich wirksam seien. Sein Vorschlag: Die Telekomanbieter verpflichten, Erziehungsberechtigte auf technische Möglichkeiten hinzuweisen, mit denen Jugendliche wirksam vor pornografischen Inhalten geschützt werden können. Nun stimmte der Nationalrat ein zweites Mal der Motion mit angepasstem Text zu. Ob auf diese oder die andere Variante, der gewünschte Ausbau des Jugendschutzes ist auf alle Fälle zu begrüssen.  


21.4089 Mo. Lohr «Effizientere Eingliederung am Arbeitsplatz. Auch Arbeitgebende sollen Gesuche für Anpassungen am Arbeitsplatz stellen können» 
und 
23.3669 Ip. Stöckli «Anreize bzw. Massnahmen zum nachhaltigen Verbleib am Arbeitsplatz für "Arbeitskräfte mit Beeinträchtigung" fördern» 

Einen nicht zu unterschätzenden ersten Schritt für eine bessere Arbeitsintegration von Menschen mit Behinderung hat der Nationalrat gegen den Willen des Bundesrats unternommen. Christian Lohr hat beispielhaft aufgezeigt, wie das politische Handwerk funktioniert: Eine Motion, die bereits bei der Ausarbeitung mit den massgebenden Verbänden vorbereitet und in der Folge im politischen Prozess von Nationalrät:innen quer durch alle Parteien getragen wird. Gemäss der Motion sollen nicht nur Arbeitnehmer:innen, sondern auch Arbeitgebende neu die Möglichkeit haben, bei der IV ein Gesuch für ein Hilfsmittel am Arbeitsplatz zu stellen. Heute können nur Arbeitnehmende bei der IV für die Unterstützung am Arbeitsplatz vorstellig werden. Mit der Ausdehnung auf die Arbeitgebenden wird ein Anreiz geschaffen, die Integration von Menschen mit Behinderung im regulären Arbeitsmarkt zu fördern. Allerdings ist erst die halbe Hürde übersprungen Der Ständerat muss der Motion gegen die ablehnende Haltung des Bundesrats noch zustimmen. 

Gleichzeitig diskutierte der Ständerat eine Interpellation, die sich ebenfalls für eine stärkere Unterstützung von Arbeitsgeber:innen bei der Anstellung und Begleitung von Menschen mit Behinderung im regulären Arbeitsmarkt stark machte. Der Bundesrat teilt diese Ansicht nicht und betont, dass staatliche Stellen sich für eine berufliche Inklusion bereits stark engagieren. Seine Ausführungen schliesst er trocken ab: «Da bereits zahlreiche Instrumente zur Verfügung stehen, sind keine weiteren Massnahmen notwendig.» – Dieser Sichtweise kann sich der abtretende Hans Stöckli nicht anschliessen. Er empfiehlt «einen Paradigmenwechsel ins Auge zu fassen, indem man beim Bundesgesetz über die Invalidenversicherung nicht nur auf den Arbeitnehmer schaut, sondern auch die Seite des Arbeitgebers beleuchtet.» Zielt eigentlich genau in die Richtung, die der Nationalrat mit der Annahme der Motion Lohr eingeschlagen hat. Ständerat Engler unterstützte dieses Anliegen und wies unter anderem auf diesbezügliche Arbeiten der Caritas oder der Stiftung La Capriola in Graubünden hin. Er stellte bei dieser Gelegenheit in Aussicht, das Anliegen seines abtretenden Kollegen weiter zu unterstützen und gab grad mal ein Versprechen ab: «Sollte ich wiedergewählt werden, würde ich das Vermächtnis von Kollege Stöckli in diesem Themenbereich gerne übernehmen.» Eine gute Gelegenheit dazu bietet sich bei der Behandlung der Motion Lohr im Ständerat. 😉 


22.3342 Mo. Mäder «Ostral 1. Belohnung von Stromeffizienzmassnahmen als Versicherung gegen allfällige Stromkontingentierung» 

Unternehmen, die in den letzten Jahren Investitionen zur Verringerung ihres Stromverbrauchs getätigt haben, sollen diese bei einer allfälligen Stromkontingentierung in die Waagschale werfen können. Bei einer möglichen Kontingentierung würden so die vorgenommen Stromeffizienz-Massnahmen angerechnet. Diese «Belohnung» kommt vorausschauenden Betrieben zugute. Zugleich wirkt sie auch als Anreiz für Unternehmen, jetzt in die Senkung ihres Stromverbrauchs zu investieren. Der Bundesrat argumentierte dagegen, das sei kompliziert bei der Umsetzung. Jörg Mäder konterte mit Klartext: «Das, was hier gefordert ist, ist administrativ machbar, aber irgendwie unsere Wirtschaft zu resetten, neu zu starten, wenn es dann wirklich mal - was hoffentlich nie passiert - zu einem Blackout oder was auch immer kommt, das ist wirklich kompliziert.» Die Unternehmen, die jetzt vorausschauend Vorleistungen gegen ein Blackout leisten, sollten belohnt und nicht noch bestraft werden. Das leuchtete der Mehrheit des Nationalrats ein. Die Motion geht damit in den Ständerat.  


21.3294 Mo. Stöckli «Erstellen und Bewirtschaften von Medikationsplänen zur Erhöhung der Medikationsqualität und Patientensicherheit von polymorbiden Patientinnen und Patienten»  

Angesichts der Bevölkerungsalterung und der steigenden Zahl von polymorbiden Patient:innen nimmt die Bedeutung der Medikationssicherheit zu. Sie könnte mit einer einfachen Massnahme verbessert werden: die Erstellung und Bewirtschaftung von Medikationsplänen. Die Parlamentarier:innen stellen dies grundsätzlich nicht in Frage. Hingegen waren sie sich bei der Beratung der Motion uneinig, ob die Arbeit mit einem Medikationsplan für Gesundheitsfachpersonen verpflichtend erklärt werden soll und ab wie vielen Medikamenten ein solcher zu eröffnen sei. Mit der Annahme der Motion in beiden Räten haben sich letztlich die Befürworter:innen einer verpflichtenden Regelung durchgesetzt. Die umstrittenen Fragen werden damit wohl im Kleingedruckten, also in der passenden Verordnung dazu, geregelt. 


23.3233 Po. Python «Für eine Anpassung des Gesundheitswesens an die Zunahme von Hitzewellen» 

Die letzte Hitzewelle ist noch keinen Monat her. Eine Zunahme dieser Ereignisse für die kommenden Jahren in Aussicht zu stellen, ist wohl kaum vermessen. Das Gesundheitswesen muss sich darauf einstellen, nicht zuletzt in Anbetracht der Alterung der Bevölkerung. Trotz der Dringlichkeit des Anliegens wurde das Postulat vom Nationalrat abgelehnt. Und dies, obwohl der Bundesrat in seiner Stellungnahme auf laufende Forschungsprojekte hinwies und sich bereit erklärte, dazu einen Bericht zu verfassen. Ob wohl das bundesrätliche Evergreen, dass die Kantone für die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung in Hitzeperioden zuständig sind, den Nationalrat zur Ablehnung verleitete? 


23.3629 Ip. Dittli «Meldesysteme und künftige Strategie in der Pandemie-Früherkennung»  

Die Covid-Pandemie hat uns eindrücklich gelehrt, wie wichtig verlässliche Daten sind, und zwar nicht nur aus der Schweiz, sondern aus der ganzen Welt. Zur Erinnerung: Das Corona-Virus brach in China aus und bahnte sich seinen Weg über Italien und Frankreich in die Schweiz. Die Pandemie hat uns aber auch gelehrt, dass unsere Meldesysteme nicht auf dem neusten Stand waren. Stichwort Fax! Entsprechend erkundigt sich Ständerat Dittli beim Bundesrat über den Stand der Meldesysteme. Schliesslich will eine Pandemie frühzeitig erkannt werden, um adäquate Massnahmen ergreifen zu können. Der Bundesrat weist in seiner Antwort auf verschiedene Massnahmen hin, die ergriffen wurden. Dazu gehört z.B. die anstehende Revision des Epidemiengesetzes. Er wies aber auch auf die Wichtigkeit des Informationsaustauschs mit internationalen Organisationen wie z.B. der WHO hin. Dies sei aber nicht immer ganz einfach, da der politische Diskurs zur internationalen Zusammenarbeit nicht unbedingt von einem Wohlwollen geprägt sei. 


22.045 Bundesrat Internationale Arbeitsorganisation: Übereinkommen Nr. 190 und Bericht über die Erklärung zu ihrem hundertjährigen Bestehen 
und 
22.3564 Mo. Fehlmann Rielle «Für eine Verstärkung der Massnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz» 

Der Ständerat hat dem internationalen Übereinkommen auch in zweiter Lesung seinen Segen verweigert und verlangt vom Bundesrat weitere Abklärungen. Er erachtet es als nicht opportun, die Anstrengungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO eine von vielen Ländern bereits anerkannte, einheitliche Definition von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu verankern. Bedauerlich, dass damit die Bemühungen der Schweiz zur Bekämpfung von Belästigung am Arbeitsplatz keine internationale Sichtbarkeit erhalten. Gleichzeitig lehnte der Nationalrat eine Motion zur Verstärkung von Massnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ab. Der Vorstoss wollte Unternehmen mit mehr als 50 Arbeitnehmenden verpflichten, eine klare Politik gegen sexuelle Belästigung festzulegen, Schulungen für Führungskräfte durchzuführen und das Personal zu sensibilisieren. Keine Sternstunde des Parlaments. 


22.484 Pa. Iv. Fraktion Grüne «Kinder vor Armut schützen» 

Der Nationalrat lehnte es ab, Kinderarmut trotz ihren vielseitigen negativen Folgen mit einem existenzsichernden Unterstützungsmodell entgegenzuwirken, Aus Sicht von ARTISET eine verpasste Chance für die Betroffenen und auch für die Stabilität der Gesellschaft. Klar, ein solcher noch nicht vollständig ausformulierter Vorschlag aus einer eher kleinen Partei hat im Vorfeld Parlamentswahlen nur wenig Chancen auf Erfolg. Trotzdem hätte der Ratsplenum das Geschäft an die zuständige Kommission zwecks Konkretisierung der an sich begrüssenswerten Stossrichtung überweisen können. 


23.3601 Mo. Fraktion FDP «Schluss mit teuren Doppelspurigkeiten bei Gesundheitsdaten. Mehrfachnutzung jetzt anpacken!»  

Der Bund und insbesondere die Kantone verlangen als Finanzierer eine Effizienzsteigerung seitens der Leistungserbringer, um Kosten einzusparen. Da ist es nur folgerichtig, dass auch sie ihren Teil mit der konsequenten Umsetzung des «Once-Only-Prinzips» beitragen. Mit dem «Once-Only-Prinzip» wird das Ziel verfolgt, dass Personen und Unternehmen den Behörden bestimmte Angaben nur noch einmal melden müssen. Was den staatlich generierten Verwaltungsaufwand bei den Institutionen stark minimieren würde. Sowohl Bundesrat wie Nationalrat haben ein Einsehen, dass es in dieser Frage Hausaufgaben zu erledigen gibt und sprechen sich für die Umsetzung der Motion aus. Ein Steilpass für den Ständerat. Mal schauen, ob er diesen nutzt.