Die Langzeitpflege wächst und wird anspruchsvoller
Der neue Bericht des schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) ist ein Weckruf für die Kantone und Gemeinden: Auch wenn gemäss aktualisierten Berechnungen die Zahl an zusätzlich benötigten Pflegeheimen bis 2040 im Vergleich zu früheren Schätzungen tiefer ist, bleiben die Herausforderungen hoch, auch aufgrund komplexer werdender Bedürfnisse. Es braucht zwingend den Bau neuer Heime und den Ausbau alternativer Strukturen.
Die Schweiz altert, und mit ihr wächst der Bedarf an Pflege und Betreuung. Das ist keine neue Erkenntnis. Doch wie stark die Nachfrage nach Langzeitpflege tatsächlich steigt und wie sich die Versorgungslage verändert, zeigt der neue Bericht des schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) zur Bedarfsplanung der Langzeitpflege eindrücklich auf. Er hat die Prognosen aus dem Jahr 2022 auf Basis der neuesten Bevölkerungszahlen (BFS 2025) und der Statistik der Pflegeheime Somed 2023 aktualisiert.
Das Fazit aus der aktuellen Vorhersage ist klar: Pflegeheime werden auch zukünftig ein unverzichtbarer Pfeiler der Gesundheitsversorgung bleiben, und ohne rasches Gegensteuern der Kantone und Gemeinden droht schon ab 2030 eine spürbare Versorgungsknappheit in der stationären Langzeitpflege.
Vom Schock zur Realität
Im Jahr 2022 ging das Gesundheitsobservatorium in einem mittleren Vorhersage-Szenario noch von einem Bedarf an 921 neuen Pflegeheimen mit durchschnittlich 59 Betten bis 2040 aus. Diese Zahl war für Viele ein Schock und ein gleichzeitiger Weckruf: ein massiver Ausbau der stationären Langzeitpflege schien unausweichlich. Nun liegt die aktualisierte Prognose vor, und sie scheint auf den ersten Blick etwas weniger dramatisch. Die Bevölkerungsszenarien wurden nämlich angepasst: Zwar steigt die Zahl der Hochbetagten weiterhin stark, das Wachstum fällt in den aktuellen Projektionen jedoch moderater aus.
Doch wer denkt, dass dieser Rückgang ein Ausdruck einer Entwarnung ist, täuscht sich. Die Kernaussage der Prognose bleibt unverändert: Die Nachfrage nach Pflegeheimbetten wird massiv steigen. Neu wird auch davon ausgegangen, dass dieses Wachstum am Anteil hochbetagter Menschen mindestens bis ins Jahr 2070 anhält, da gemäss dem Bericht die Kinder der Babyboomer und die hohen Migrationsflüsse eine Art zweite Babyboomer-Welle bilden. Diese Veränderung allein rechtfertigt eine Aktualisierung der Bedarfsprognosen, da die demografische Entwicklung deren Haupttreiber ist.
Das bedeutet konkret, dass bis 2040 gemäss mittlerem Vorhersage-Szenario etwa 626 zusätzliche Pflegeheime benötigt werden, was rund 36'900 Betten entspricht. Damit liegt die Schätzung um 300 Heime tiefer als in der Vorgängerstudie.
Die neuen Berechnungen spiegeln veränderte Rahmenbedingungen wider. Zum einen wirkt sich die stärkere Nutzung von ambulanten Angeboten und neuen Wohnformen dämpfend auf die Nachfrage aus, allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmass und abhängig von der jeweiligen Region.
Zum anderen werden die Aufenthalte stetig kürzer, während Bewohnende mit tendenziell höheren Pflegestufen eintreten. Im Jahr 2023 lag die durchschnittliche Verweildauer bereits bei nur noch rund 820 Tagen. Besonders eindrücklich ist der Anstieg der Pflegeintensität. So sind aktuell nur noch 13.4 Prozent der Bewohnenden in den tiefen Pflegestufen 0 bis 2 eingestuft, während fast fünf Prozent bereits die höchste Pflegestufe 12 erreicht haben. Der Durchschnittswert der Pflegeminuten ist seit dem letzten Bericht um fast sechs Prozent gestiegen, nämlich von 120.5 auf 127.7 Minuten pro Tag. Das bedeutet, dass Pflegeheime bereits heute deutlich komplexere und anspruchsvollere Aufgaben übernehmen als noch vor einigen Jahren.
Bei den Belegungsraten zeigt sich ein differenzierteres Bild. Besonders auffällig ist der «Pandemie-Knick», der zeigt, dass während der Covid-19-Pandemie die Eintritte spürbar zurückgingen. Seither haben sich die Eintritte jedoch wieder stabilisiert: 2019 lag die Auslastung bei 89.5 Prozent, 2021 sank sie pandemiebedingt auf 84.9 Prozent, 2023 betrug die Auslastung bereits wieder 88.5 Prozent. Vieles deutet darauf hin, dass die Belegungsrate in den letzten beiden Jahren den Stand von 2019 erreicht oder leicht übertroffen hat, und ein Aufwärtstrend beginnt. Zu beachten ist dabei, dass eine Belegungsrate von weit über 90 Prozent nicht erstrebenswert ist, denn freie Kapazitäten sind notwendig, um kurzfristige Aufnahmen aus Spitälern oder Privathaushalten gewährleisten zu können.
Regionale Unterschiede beeinflussen die Bedarfsplanung
Nicht alle Kantone sind gleich stark von den beschriebenen Entwicklungen betroffen; der Obsan-Bericht unterscheidet zwischen vier idealtypischen Versorgungsmodellen. In stark ambulant-basierten Kantonen wie Genf, Jura oder Waadt ist die Pflegeheim-Inanspruchnahme niedrig, dafür die Nutzung von ambulanten Diensten wie der Spitex sehr hoch. In zunehmend ambulant-basierten Kantonen wie in Bern, Basel-Stadt oder im Wallis wächst der ambulante Sektor zwar stark, doch bleibt die Nachfrage nach Pflegeheimplätzen hoch, insbesondere bei stark pflegebedürftigen Personen. In Kantonen wie Zürich, Luzern oder Thurgau zeigt sich ein Mischbild: Der Spitex-Ausbau liegt noch unter dem Schweizer Durchschnitt, gleichzeitig werden Pflegeheime auch von Personen mit leichtem Pflegebedarf genutzt. Schliesslich gibt es stationär geprägte Kantone wie St. Gallen oder Uri, in denen die Pflegeheim-Inanspruchnahme am höchsten ist und vergleichsweise wenig ambulante Strukturen existieren.
Diese Unterschiede verdeutlichen, dass es keine einheitliche Lösung gibt. Jede Region muss ihre Bedarfsplanung individuell evaluieren, bei Bedarf anpassen und dabei den Ausbau von ambulanten, intermediären und stationären Dienstleistungen beachten.
Zudem könnte auch EFAS die Bedarfsplanung beeinflussen. Ab 2032 wird mit EFAS die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen eingeführt. Der Obsan-Bericht hält fest, dass EFAS am steigenden Bedarf der Langzeitpflege nichts ändert, jedoch die Versorgungslandschaft beeinflussen könnte, abhängig davon, welche Anreize mit dessen Einführung gesetzt werden. Aus Sicht von CURAVIVA ist es zentral, dass die im Bericht eindrucksvoll aufgezeigte Steigerung der Pflegeintensität, sowie die aus der gleichzeitig sinkenden Verweildauer ableitbaren, steigenden Komplexität, im EFAS-Tarif abgebildet werden muss.
Trotz Ambulantisierung bleiben Pflegeheime zentral
Der Ausbau von ambulanten Angeboten, betreutem Wohnen und intermediären Strukturen ist wichtig und notwendig, doch er ersetzt die Pflegeheime nicht. Viele ältere Menschen mit Demenz oder psychogeriatrischen Erkrankungen können selbst bei moderatem Pflegebedarf und trotz Spitex nicht mehr in der eigenen Wohnung bleiben. Für sie sind Pflegeheime oft die einzige Option auf eine umfassende Pflege und Betreuung, die rund um die Uhr gewährleistet wird. Die steigende Pflegeintensität in den Pflegeheimen verdeutlicht weiterhin, dass ohne spezialisierte, professionelle Pflegeheime die Versorgung der alternden Bevölkerung zukünftig nicht zu stemmen ist.
Neue Pflegeheime zu bauen, ist eine planerische und finanzielle Herausforderung; sie auch zu betreiben, ist jedoch mindestens genauso anspruchsvoll. Denn es braucht genügend qualifiziertes Fachpersonal. Schon heute sind stellenweise Engpässe in der Pflege und Betreuung spürbar. Mit steigender Pflegeintensität und steigenden Bewohnerzahlen wird sich dieser Trend verschärfen. Hier verweist ARTISET auf die kürzlich verabschiedete Resolution zur Eindämmung des Fachkräftemangels. Klar ist: Ohne wirksame Massnahmen, um Fachkräfte auszubilden, anzuwerben und zu behalten, droht die Umsetzung der Bedarfsplanung zu scheitern.
Ein Auftrag an die Kantone und Gemeinden
Die Bedarfsplanung ist in der Verantwortung der Kantone und der Gemeinden. Sie müssen sicherstellen, dass die Prognose des Gesundheitsobservatoriums in konkrete Handlungsfelder übersetzt wird, damit die Bevölkerung auch künftig auf ein funktionierendes Angebot zählen kann, sei es durch den Bau neuer Pflegeheime oder den Ausbau alternativer Strukturen. Dabei ist Abwarten keine Option. Ohne eine rechtzeitige Planung könnten Kapazitätsengpässe entstehen, die die gesamte Gesundheitsversorgung belasten würden, etwa wenn Spitalbetten blockiert bleiben, weil keine Pflegeheimplätze frei sind oder wenn pflegende Angehörige zunehmend belastet sind, weil sie eine Person mit hohem Pflegegrad weiterhin zuhause mitbetreuen. Hinzu kommt: Der steigende Pflegebedarf fällt in eine Zeit, in der der Fachkräftemangel längst Realität ist. Neue Pflegeheime und Betten allein reichen nicht aus, sie müssen auch mit qualifiziertem Personal betrieben werden können. Das erfordert nicht nur mehr Ausbildungskapazitäten und bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch das Vorantreiben der integrierten Versorgung.
Daniel Gysin, Leiter vom Alters- und Pflegzentrum Früeling und Leiter der Geschäftsstelle ARTISET Schaffhausen, schätzt die Situation folgendermassen ein: «Die Prognose zeigt vor allem eines: Die integrierte Versorgung wurde bisher zu wenig konsequent gefördert. Neben neuen Pflegeheimen braucht es den Ausbau flexibler Angebote wie Tages- und Nachtbetreuung sowie eine einheitliche Altersarbeit, die Pflegeheime und Spitex verbindet. Damit liesse sich der Bedarf an zusätzlichen Plätzen verringern, die Versorgung durchlässiger gestalten und das wiederum würde den Menschen mehr Lebensqualität zu tieferen Kosten ermöglichen.»
Die nüchterne Prognose des Gesundheitsobservatoriums wird damit zum deutlichen Handlungsauftrag: Die Schweiz braucht in Zukunft neue Versorgungsstrukturen für die Langzeitpflege, sie braucht engagierte Fachkräfte, und sie braucht mehr strategische Weitsicht in der Planung. Kantone und Gemeinden müssen daher bereits heute die Grundlagen schaffen, damit sie den Herausforderungen von morgen gewachsen sind.
Reka Schweighoffer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin von CURAVIVA.
Laurent Zemp ist Projektleiter Gesundheitsökonomie von CURAVIVA.