ETHISCHE FRAGEN | «Um gutes Leben und gutes Sterben ringen»

24.10.2022 Claudia Weiss

Täglich können im Umgang mit unterstützungsbedürftigen Menschen Dilemmata auftreten, in denen zwei gleich wichtige Werte nicht gleichzeitig erfüllt werden können. «In solchen Situationen hilft ein gutes Ethikkonzept sehr», sagt die klinische Ethikerin Daniela Ritzenthaler.

Sie haben eine Dissertation geschrieben zum Thema «Lebensendentscheidungen bei Menschen mit einer Beeinträchtigung» und diverse Arbeiten zu ethischen Fragen im Pflege- und Sozialbereich: Könnte man sagen, Ethikfragen stellen sich uns Menschen von Geburt bis Tod?

Daniela Ritzenthaler: Ja, Ethik betrifft alle unsere Lebensbereiche. Während sich die Moralvorstellungen je nach Zeit oder Gesellschaft wandeln können, liefert die Ethik die Argumente, welche Moralvorstellungen warum zu gutem Handeln führen. Verschiedene Ethikerinnen und Ethiker können jedoch zu gleichen Themen andere Schlüsse ziehen: Die einen plädieren, man dürfe nie lügen, während andere die Ansicht vertreten, eine Notlüge, die Schlimmeres verhindert, sei gerechtfertigt.

Eine theoretisch fundierte, aber alltagstaugliche Ethik sollte abwägen, wie man die wichtigen Prinzipien erreicht: Gutes tun, nicht schaden, Gerechtigkeit für möglichst viele erreichen und Autonomie gewähren.
 

Ist Ethik ein weltumspannender Wert, oder unterscheidet sie sich je nach Kultur?

Werte wie Menschenrechte oder Selbstbestimmung sind universal. Und auch das Prinzip «Gutes tun» und das Nachdenken darüber gelten in allen Kulturen. Aber tatsächlich ist die Gewichtung unterschiedlich: In Asien hat die Autonomie einer Einzelperson weniger Gewicht und die Familie wird viel stärker in die Entscheidfindung miteinbezogen. Gelebte Ethik hat viel damit zu tun, welche Haltung und welches Menschenbild wir pflegen.

Das hat eine Wirkung auf die Art, wie wir entscheiden, besonders auch auf die «Bedside Manners», also die Art, wie Pflegende mit unterstützungsbedürftigen Menschen umgehen – damit wird letztlich unsere Lebensqualität beeinflusst.
 

Das heisst, Ethik spielt besonders in den drei Fachbereichen des Branchenverbands ARTISET eine wichtige Rolle…

Ja, angefangen mit dem Bereich Kinder und Jugendliche: Die ethisch wirklich heiklen Fragen nach Kinderrechten, Kindeswohl und Kindeswillen treten zwar genau genommen bereits vor der Platzierung auf. Im Institutionsablauf stellen sich aber immer noch zahlreiche Alltagsfragen, beispielsweise im Umgang mit Regeln oder mit Nähe und Distanz.

«Ein ethisches Dilemma entsteht dann, wenn sich zwei bedeutende Werte gegenüberstehen und keine Handlung es ermöglicht, beiden gerecht zu werden.»

Deshalb müssen die Sozialpädagoginnen und -pädagogen unbedingt gute Konzepte zur Hand haben. Die meisten von ihnen haben zum Glück in der Ausbildung bereits viele solche Fragestellungen behandelt, sind also in der Regel gut vorbereitet.

Natürlich läuft dann im Alltag nicht alles so einfach, aber insgesamt sind ihnen ethische Fragen geläufig.
 

Schwierig wird es vor allem dann, wenn ein ethisches Dilemma auftritt. Wie erkennt man denn ein solches?

Ein ethisches Dilemma entsteht dann, wenn sich zwei bedeutende Werte gegenüberstehen und keine Handlung es ermöglicht, beiden gerecht zu werden. Also wenn beispielsweise die Werte Schutz und Freiheit einander gegenüberstehen, wie wir das in der Coronapandemie alle erlebt haben – beides zugleich war nicht zu gewährleisten.
 

Und welche Wertekonflikte können in der Jugendbetreuung auftreten?

Hier stehen wir gleich vor mehreren Spannungsfeldern: Die Verantwortlichen müssen gleichzeitig das Wohl der Jugendlichen, aber auch das der Eltern und Geschwister miteinbeziehen. In Bezug auf die Kinder und Jugendlichen stehen sie zwischen Kindeswohl und Kindeswille, aber auch zwischen Schutz und Kontrolle oder der Freiheit der Jugendlichen, sich zu entwickeln.

«Es ist wichtig, solche Fragen immer wieder im Team präsent zu haben.»

Ein konkretes Beispiel ist die Urinprobe: Ist sie notwendig zum Schutz der Jugendlichen? Oder schadet sie der pädagogischen Beziehung so stark, dass sie die Entwicklung hemmt? Hier ist es spannend, die Haltung der Institution zu diskutieren und herauszufinden, welche Werte wichtig sind. Die ethische Sicht hilft, die verschiedenen Werte zu gewichten.

Es ist wichtig, solche Fragen immer wieder im Team präsent zu haben, pädagogische Überlegungen zu machen und zu einer gemeinsamen Haltung zu finden.
 

Welche ethischen Fragen stellen sich im Bereich Menschen mit Beeinträchtigung?

Hier geht es oft um Themen wie Schutz versus Selbstbestimmung und Freiheit. Die Fragen betreffen unzählige Bereiche des täglichen Lebens: Darf beispielsweise eine Person mit einer kognitiven Beeinträchtigung selber bestimmen, wie viel Schokolade sie isst, wenn sie übergewichtig ist und vielleicht noch an Diabetes und Bluthochdruck leidet? Auch all die Fragen rund um Sexualität, Familiengründung, Arbeit oder die Themen Selbstbestimmung und Entscheide am Lebensende stellen sich im Behindertenbereich immer wieder.
 

Und wo stecken in diesem Bereich kaum lösbare ethische Dilemmata?

Hier bestehen schwierige Spannungsfelder rund um freiheitseinschränkende Massnahmen bei selbstverletzendem Verhalten oder bezüglich Selbstbestimmung bei Ernährung und Gesundheit: Hier muss man jeweils auch die Urteilsfähigkeit in Bezug auf eine konkrete Handlung beachten.

Zeigt sich beispielsweise, dass ein Bewohner nach einer Tasse Kaffee immer sehr nervös wird, ist eine Risikoabwägung angebracht: Was ist der schlimmstmögliche Schaden, der eintreten kann? Wird der Bewohner einfach nervös und nervt dadurch andere, oder könnte er in seiner Nervosität Schaden anrichten oder erleiden? Rechnen wir den schlimmstmöglichen Schaden mal die Eintretenswahrscheinlichkeit, können wir das Risiko ermitteln.
 

Solche Risikoabwägungen müssen die Teams wohl auch in unserem dritten Fachbereich, der Langzeitpflege, immer wieder vornehmen.

Genau, dort geht es um Themen wie Selbstgefährdung, aber auch lebensverlängernde Massnahmen, Selbstbestimmung am Lebensende oder Haltung gegenüber Menschen mit Demenz, Hier gilt es immer wieder gut zu überlegen, wer was selbst bestimmen darf.
 

Und dennoch stehen die Pflegefachleute im Alltag wohl ebenfalls vor grossen Dilemmata.

Beispielsweise bei Sturzgefahr stellen sich oft sehr schwierige Fragen nach Schutz oder Freiheit und Selbstbestimmung.

Ausserdem muss eine Risikoabwägung berücksichtigen, dass in einem Fall die Eintretenswahrscheinlichkeit vielleicht kleiner, der Schaden aber schlimmer ist als in einem anderen Fall. In jedem Fall zählt jedoch vor allem der geäusserte oder der mutmassliche Wille: Wie schlimm wäre es für eine Person, aufgrund der Sturzfolgen zu sterben? Vielleicht nimmt sie ja dieses Risiko lieber in Kauf, wenn sie dafür mehr Freiheit geniessen kann. Über solche Fragen müssen sich die Teams immer wieder beraten.

«In der Pflege müssen Machtstrukturen immer wieder hinterfragt werden.»

Besonders, weil in Betreuungssituationen oft ein gewisses Machtgefälle besteht.

Sowohl Angehörige als auch Pflegebedürftige können jederzeit einem solchen Gefälle gegenüberstehen. Hier ist eine ganzheitliche Sicht wichtig, alle müssen mitreden können. Dabei hilft der Care-Ethik-Ansatz: Hier denkt man von der vulnerablen Person aus und ist sich deren Abhängigkeit bewusst. Dieser fürsorglich geprägten Perspektive sollte man generell viel mehr Gewicht geben.

In der Pflege müssen Machtstrukturen immer wieder hinterfragt werden – sonst sind die Bewohnenden machtlos gegenüber Machtmissbrauch. Gut etablierte Ethikstrukturen helfen, solche Problematiken zu vermeiden.
 

Verfügen denn inzwischen viele Institutionen über eine Ethikstruktur?

Eine Umfrage der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW zum Thema «Entwicklung der klinischen Ethikstrukturen in der Schweiz» von 2014 zeigte, dass sich zumindest bis dahin vor allem kleinere Institutionen noch wenig mit dem Thema auseinandergesetzt hatten.

In der Langzeitpflege beschäftigen aber heute immer mehr Institutionen zumindest eine Pflegeexpertin, die regelmässige Fallbesprechungen durchführt. Grosse Anbieterinnen wie Domicil und Senevita haben eigene Ethikkonzepte und ein Ethikforum, inzwischen interessieren sich auch kleinere Institutionen zunehmend dafür.
 

Was braucht es überhaupt, um in einer Institution passende Ethikstrukturen aufzubauen?

Das ist natürlich eine Frage von Ressourcen, Zeit und Finanzen. Aber oft braucht es gar keine riesigen Strukturen, wichtiger ist, dass man überhaupt miteinander ethische Fragen überlegt und eine gemeinsame Haltung erarbeitet: «Was ist uns wichtig?» oder «Was brauchen wir im Alltag, um ethisch handeln zu können?». Hilfreich ist ein Gremium, das solche Fragen und gute Abläufe gemeinsam überlegt.

Und wichtig ist: Ethik muss von der Leitung gelebt und von den Leuten an der Basis getragen werden.

«Ethik in einer Institution sollte nicht auf der Moralvorstellung Einzelner basieren, sondern auf einer gemeinsam erarbeiteten Haltung.»

Und wenn man das nicht macht?

In Institutionen, in denen solche Fragen nicht reflektiert werden, passiert es in der Hektik des Alltags oft, dass jemand im Alleingang entscheidet. Das sind dann meist wenig begründete Entscheide, aus der Intuition eines Einzelnen getroffen statt aus gemeinsamer Reflexion.

Ethik in einer Institution sollte nicht auf der Moralvorstellung Einzelner basieren, sondern auf einer gemeinsam erarbeiteten Haltung: Ethik heisst gemeinsame Werte und Worte, gemeinsames Begründen von wichtigen Entscheiden. Die Strukturen  der Institutionen entscheiden dann über die Implementierung im Alltag.
 

Ist es schwierig, Mitarbeitende aus dem Gesundheits- und Sozialwesen vom Sinn einer gemeinsamen ethischen Haltung zu überzeugen?

Bei den Pflegenden in Spitälern und Institutionen muss ich meist nicht viel Überzeugungsarbeit leisten. Im Gegenteil, diese wünschen sich häufig sogar von sich aus eine Begleitung oder Fallbesprechung.

In einem Spital beispielsweise kam der Wunsch nach ethischen Fallbesprechungen explizit von der Pflege, während die Ärztinnen und Ärzte zuerst fürchteten, bei all ihrer Arbeitsbelastung wäre das Gespräch mit einer Ethikerin ein langes Plaudern ohne Resultat. Mit der Zeit merkten sie, dass die Pflege dank einer gemeinsamen ethischen Haltung bei komplexen Patientenproblemen viel klarer und strukturierter arbeiten konnte.

Das hat inzwischen alle vom Wert überzeugt. Ethik ist kein Luxus: Schwierige Entscheide brauchen ethische Reflexion, eine klare Begründung und eine gemeinsam getragene Entscheidung!
 

Heisst das, Ethikkonzepte erleichtern Pflegenden und Betreuenden die Arbeit?

Ja und nein. Ein Ethikkonzept verhilft zu höherer Professionalität, verbessert die gemeinsame Entscheidfindung und wirkt sich auf die Teamzufriedenheit aus. Kann man im Team schwierige Spannungsfelder gemeinsam ansprechen, kommt das der Teamkultur sehr zugute, und die gemeinsamen Entscheide verleihen Sicherheit.

Aber oft sind die Fragen besonders in der Akutmedizin derart komplex, dass man zwar Antworten findet und zu Entscheiden kommt. Manchmal bleiben jedoch trotz allem Trauer und Hilflosigkeit.
 

Hilft es denn, wenn die betreuten Menschen eine persönliche Advance-Care-Planung machen?

Es hilft auf jeden Fall, alle Fragen rund um Behandlungsmöglichkeiten, Lebensqualität und Sterben mit einer Vertrauensperson zu besprechen, so lange man noch urteilsfähig ist. Bei Menschen mit Behinderung gilt es, diese Urteilsfähigkeit überhaupt festzustellen: Wie viel kann jemand selber einschätzen, wie viel muss man mit den Angehörigen besprechen?

Wichtig ist zu wissen: In einer Patientenverfügung genügt es nicht, einfach «keine Reanimation» anzukreuzen. Viel wichtiger ist: «Was möchte ich noch erleben?» Oder umgekehrt: «Was möchte ich auf keinen Fall?» Oft steht nur «Ja» oder «Nein», dabei steht etwas anderes im Vordergrund. Umso wichtiger ist ein Gespräch, in dem man nachfragt, dokumentiert und gemeinsam mit einer Vertrauensperson festhält: «Was zählt im Leben?»

«Oft besteht eine Grauzone.»

Wer entscheidet am Ende, was ethisch korrekt ist?

Das eine ist der gesetzliche Rahmen. Da steht über allem das Diskriminierungsverbot und dass die Würde der Menschen unantastbar ist. Zum anderen kommt Ethik dort zum Zug, wo es um Ermessen geht, um die Gewichtung von Prinzipien.

Bei Fragen nach dem Entscheidungsrecht der Eltern etwa zählt auch das Interesse des Kindes. Oft besteht eine Grauzone: Beim Schwangerschaftsabbruch stellt sich beispielsweise die Frage nach dem Recht der Frau, aber auch nach dem Recht des Kindes, das juristisch allerdings erst als Kind gilt, wenn es auf der Welt ist.
 

Können wir ohne Ethik existieren?

Ja. Aber die Frage ist, was dann passiert. Der Mensch ist ein moralisches Wesen, denkt gern und ist neugierig. Es wäre sehr schwierig, würde nur noch eine Elite darüber nachdenken, was der Sinn des Lebens ist und was wir wollen. Es ist sogar gefährlich, wenn eine Gesellschaft in die Moral kippt und nur noch ein paar wenige Ethik machen.

Vielmehr sollte das Ziel sein, dass sich alle mit dem Ringen nach dem guten Leben und dem guten Sterben befassen. Gerade in unserer Zeit brauchen.


Broschüre «EPOS – Ethische Prozesse in Organisationen im Sozialbereich» bestellen


Unsere Gesprächspartnerin

Daniela Ritzenthaler, Dr. phil., ist Heilpädagogin, Erwachsenenbildnerin und klinische Ethikerin. Sie bietet Bildung und Beratung in ethischer Entscheidungsfindung, unter anderem bei ARTISET Bildung. Sie unterstützt beim Aufbau und Etablieren von Ethikstrukturen in Organisationen des Gesundheitswesens und im Sozialbereich.

www.ethikbildung.ch

 

Foto: Archiv/Lanzeln