INKLUSION | Die inklusive Berufsbildung wird in der Schweiz zum Thema

26.04.2022 Elisabeth Seifert,
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Jugendliche mit kognitiver oder psychosozialer Beeinträchtigung sind vielfach von der öffentlich anerkannten Berufsbildung ausgeschlossen. Die von privater Seite geschaffenen Bildungs­angebote sollen ins staatliche System integriert werden, fordert jetzt die Seite der Arbeitnehmenden. Erstmals findet darüber eine Debatte unter den Verbundpartnern statt, auf höchster Ebene.

Bildungssystem auf allen Ebenen», heisst es in Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die die Schweiz 2014 unterzeichnet hat. Unter anderem bedeutet dies, dass Menschen mit Behinderungen «ohne Diskriminierung und gleichberechtigt Zugang zur allgemeinen Berufsausbildung haben».

Der Zugang zur zertifizierenden beruflichen Grundbildung bleibt insbesondere jungen Menschen mit kognitiven und psychosozialen Behinderungen oft verschlossen.

Auch wenn in den letzten Jahren eine Reihe von Massnahmen umgesetzt worden sind, bleibt insbesondere jungen Menschen mit kognitiven und psychosozialen Behinderungen der Zugang zur zertifizierenden beruflichen Grundbildung oft verschlossen.

Eine Tatsache, die der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in seinem kürzlich veröffentlichten Bericht zur Umsetzung der UN-BRK in der Schweiz «mit Besorgnis zur Kenntnis» genommen hat. Entsprechend «empfiehlt» er den Behörden, «sicher­zustellen», dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu «integrativen, zertifizierten Programmen der beruflichen Grundbildung haben».

Der Schlüssel zum Arbeitsmarkt

Knapp 10 Prozent aller 25-jährigen Jugendlichen in der Schweiz haben derzeit keinen Abschluss einer nachobligatorischen, allgemeinbildenden Schule oder einer beruflichen Grundbildung mit Eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ) oder einem Eidgenössischen Berufsattest (EBA). Es handelt sich hierbei um eine sehr heterogene Gruppe junger Leute.

Dazu gehören Migrantinnen und Migranten, denen ein offiziell anerkannter Abschluss aufgrund sprachlicher Barrieren und schulischer Defizite (noch) verwehrt ist, oder junge Erwachsene mit anderen Lebensplänen. Darin eingeschlossen sind aber auch junge Menschen, die aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten oder psychosozialer Belastungen die Voraussetzungen für eine EFZ-Ausbildung oder auch für die niederschwelligere EBA-Ausbildung nicht ­mitbringen.

Für Jugendliche mit Behinderung besonders relevant ist der Nachteilsausgleich.

Der EFZ- und der EBA-Abschluss sind im staatlichen Berufsbildungssystem klar geregelt und werden von den Arbeitsgebenden mitgetragen und anerkannt. Dadurch haben die Absolvierenden gute Chancen, auf dem Arbeitsmarkt fündig zu werden. Um möglichst vielen junge Menschen einen zertifizierenden Abschluss zu ermöglichen, besteht für die Phase der Berufsfindung und dann auch während einer EFZ- oder EBA-Ausbildung ein breites ­Instrumentarium an Unterstützungsangeboten.

Für Jugendliche mit Behinderung besonders relevant ist der Nachteilsausgleich. Wer einen Lehrvertrag abgeschlossen hat, kann beim Kanton auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Massnahmen betreffend Lern- und Prüfungssituationen beantragen.

In ihrem aktualisierten Schatten­bericht von Februar 2022 moniert Inclusion Handicap, die Dachorganisation der Behindertenorganisationen, bei der Bewilligung eines Nachteilausgleichs indes «unklare Zu­ständigkeiten, komplizierte Abläufe und eine restriktive Gewährleistungspraxis».

«Es braucht eine offizielle Anerkennung der Praktischen Ausbildung sowie eine ­Verpflichtung zur Einführung der ­Individuellen Kompetenznachweise.»

Jugendlichen, die trotz eines Nachteilsausgleichs oder anderer Unterstützungsangebote den EBA-Abschluss nicht schaffen, haben bereits seit dem Berufsbildungsgesetz von 2004 die Möglichkeit, ihre Kompetenzen individuell bestätigen zu lassen.

Solche Individuellen Kompetenznachweise (IKN) zeigen auf, in welchen Kompetenzbereichen jemand den EBA-Anforderungen entspricht. Die Krux daran aber ist: Die IKN sind erst in einigen wenigen Branchen erarbeitet worden.

Fehlender Rechtsanspruch

Jugendlichen also, die den EBA-Abschluss nicht schaffen und in einer der zahlreichen Branchen tätig sind, die keinen Individuellen Kompetenznachweis kennen, bleiben von einer öffentlich anerkannten beruflichen Grundbildung ausgeschlossen. Erst recht trifft das auf jene zu, die aufgrund ihrer Behinderung gar kein EBA-Lehrverhältnis abschliessen können.

Für Letztere hat der Branchenverband INSOS vor über zehn Jahren die Praktische Ausbildung (PrA) Schweiz geschaffen. Dabei handelt es sich um eine national standardisierte, zweijährige Ausbildung ohne Einstiegshürden.

Der Branchenverband, der die Interessen der Dienstleister für Menschen mit Behinderung vertritt, ist für die PrA verantwortlich, erteilt Lehrbetrieben und Ausbildungszentren die Bildungsbewilligung, entwickelt in Zusammenarbeit mit den Branchenorganisationen die Bildungsinhalte und stellt sicher, dass sich diese eng an jene des EBA und EFZ anlehnen (zur PrA siehe auch die Seiten 10 und 12).

«Nur wenn der Staat die Verantwortung übernimmt, sind solche Massnahmen und Instrumente rechtlich, organisatorisch und finanziell abgesichert.»

Für Gabriel Fischer, den Leiter Bildungspolitik beim Arbeitnehmenden-Verband Travail Suisse, gehen solche Bemühungen zu wenig weit. Man habe zwar gewisse Massnahme getroffen, damit diese Gruppe von Jugendlichen nicht mit leeren Händen dastehe. «Durch die fehlende Integration der PrA in das staatliche Berufsbildungssystem gibt es aber keinen Rechtsanspruch auf eine solche Ausbildung», kritisiert Fischer. Ähnliches treffe auch auf die Individuellen Kompetenznachweise zu, weil es für die Branchen keine Verpflichtung gebe, diese einzuführen.

«Ein Rechtsanspruch lässt sich nur mit einer offiziellen Anerkennung der Praktischen Ausbildung sowie einer Verpflichtung zur Einführung der Individuellen Kompetenznachweise erreichen», betont der Vertreter der Arbeitnehmenden. Er spricht damit auf eine entsprechende Regulierung im Berufsbildungsgesetz (BBG) an.

«Nur wenn der Staat die Verantwortung übernimmt, sind solche Massnahmen und Instrumente rechtlich, organisatorisch und finanziell abgesichert.» Damit werde dann auch, so Fischer, die Forderung der UN-BRK nach einem inklusiven Berufsbildungssystem eingelöst.

Auf Augenhöhe mit den Verbundpartnern

Die Berufsbildung ist eine Aufgabe der Verbundpartnerschaft von Bund, Kantonen und den Organisationen der Arbeitswelt. Bei Letzteren spielen die Sozialpartner, sprich: die Verbände der Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden, eine zentrale Rolle. Im Rahmen der nationalen Initiative Berufsbildung 2030 ist vor eineinhalb Jahren eine Gremienstruktur geschaffen worden, dank der neu auch sehr spezifische Bildungsanliegen, gerade auch für Menschen mit Behinderung, rasch aufgenommen werden können.

Von zentraler Bedeutung sind die sogenannten Dialogforen, in denen eine Reihe von Akteuren ihre Anliegen einbringen. Im Dialogforum Arbeitnehmende ist von Travail Suisse eigens die Arbeitsgruppe «Menschen mit Behinderung und ihr Zugang zur Bildung» eingerichtet worden, in der unter anderem auch der Branchenverband INSOS vertreten ist.

In der Arbeitsgruppe «Menschen mit Behinderung und ihr Zugang zur Bildung» wird das Thema weiter diskutiert.

Im Mai 2021 hat diese Arbeitsgruppe im Dialogforum Arbeitnehmende den Antrag eingebracht, die Berufsausbildungen nach Berufsbildungsgesetz «so zu reformieren, dass alle Menschen Zugang zur einer zertifizierenden Berufsbildung in einem inklusiven Bildungssystem haben». Das Dialogforum Arbeitnehmende hat diesem Antrag zugestimmt – und ihm damit ein entsprechendes Gewicht verliehen.

Der Antrag könnte jetzt bei der Geschäftsstelle der ebenfalls neu geschaffenen Tripartiten Berufsbildungskonferenz (TBBK) platziert werden. In der TBBK nehmen die drei Verbundpartner Bund, Kantone und Sozialpartner auf Augenhöhe gemeinsam die strategische Steuerung der Berufsbildung wahr.

In der Arbeitsgruppe «Menschen mit Behinderung und ihr Zugang zur Bildung» wird das Thema weiter diskutiert. «In diesen Gesprächen geht es darum, abzuklären, ob zuhanden der TBBK ein konkreter Umsetzungsvorschlag oder ein vorbereitendes Projekt erarbeitet werden kann», hält Gabriel Fischer fest. Ziel der Arbeitnehmenden sei es, dass schliesslich ein Projekt innerhalb der Initiative Berufs­bildung 2030 entsteht, das erste im Übrigen, das sich der Berufsbildung von Menschen mit Behinderung annehmen würde.

Skepsis gegenüber gesetzlicher Regelung

Ohne die Ergebnisse der Verhandlungen in irgendeiner ­Weise vorwegnehmen zu wollen, meint Daniel Duttweiler von Seiten des Bundes: «Für uns ist vor allem wichtig, dass Menschen mit Behinderung einen national lesbaren Abschluss haben.»

Duttweiler ist Leiter Ressort Berufsbildungspolitik im Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI). Bevor man jetzt aber gleich bestimmte Massnahmen einfordere, müsse man in einem ersten Schritt zunächst abklären, was sich bis jetzt bewährt habe und wo die Probleme lägen.

Eine Alternative zu einer gesetzlichen Regulierung sieht Duttweiler etwa darin, den Handlungsspielraum des aktuel­len Gesetzes noch besser auszunutzen. Konkret nimmt er auf das Anrecht Bezug, dass Auszubildende, die den EBA-Abschluss nicht schaffen, ihre Kompetenzen indivi­duell bestätigen lassen können. «Die Arbeitnehmenden könnten im Dialog mit den Arbeitgebenden darauf hinwirken, dass solche Kompetenznachweise in verschiedenen Branchen tatsächlich erstellt werden.»

«Für einen nationalen Ausweis muss sichergestellt sein, dass die erlangten schulischen und praktischen Kompetenzen arbeitsmarktnah sind.»

Solche in enger Zusammenarbeit mit den Branchen erarbeiteten Kompetenznachweise und weitere Bescheinigungen seien innerhalb der Branchen anerkannt und lesbar, so Duttweiler. Und zwar auch ohne formale Regelung im Gesetz. Das staatlich verantwortete Berufsbildungssystem habe vor allem die Aufgabe, die fromalen Abschlüsse zu regeln und Brücken zu diesen Ausbildungen zu bauen. 

Ganz ähnlich wie der SBFI-Vertreter hält auch Nicole Meier, Ressortleiterin Bildung und Berufliche Aus- und Weiterbildung beim Schweizerischen Arbeitgeberverband (AGV), fest, dass das hiesige Berufsbildungssystem auf die Erfordernisse des Arbeitsmarktes ausgerichtet ist. «Für einen nationalen Ausweis muss sichergestellt sein, dass die erlangten schulischen und praktischen Kompetenzen arbeitsmarktnah sind», sagt Meier. Die berufliche Grundbildung mit EBA erfülle diese Voraussetzungen. Es sei aber fraglich, wie niederschwellig eine Ausbildung sein könne und dennoch eine Arbeitsmarktfähigkeit garantiert sei.

Die Individuellen Kompetenznachweise sowie Branchenzertifikate seien eine gute Alternative für Menschen mit Behinderungen. Gegenüber verbindlichen, in einem Gesetz geregelte Bestimmungen ist Nicole Meier eher skeptisch. Die Branchen müssten die Freiheit haben, solche Nach­weise entsprechend ihren tatsächlichen Bedürfnissen zu ent­wickeln. «Andernfalls kann es passieren, dass die Abschlüsse und Kompetenzen zwar staatliche gewünscht, jedoch von den Arbeitgebenden nicht eingeordnet werden können.»

Gerade im Bereich von Menschen mit Behinderung spricht sich Nicole Meier für individuelle Lösungen aus, um weder das System noch die Menschen mit Behinderung zu überfordern. Organisationen und Verbände übernehmen hier eine wichtige Aufgabe, was «sehr gut funktioniert». ­Meier: «Dank dem Engagement von Privaten und Sozialpartnern ist es in der Schweiz möglich, viele Bedürfnisse aufzunehmen.»

«So wie es jetzt läuft, ist es gut», meint kurz und knapp Christophe Nydegger, Chef im Amt für Berufsbildung ­Kanton Fribourg und Präsident der Schweizer Berufsbildungsämterkonferenz (SBBK). «Für die meisten gibt es eine Lösung.» Er spricht damit auf den Nachteilsausgleich sowie die Zusammenarbeit mit den von den Kantonen und der IV mitfinanzierten Ausbildungszentren an.

 

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