MENSCHENRECHTE | «Wir müssen auf die Moralkeule verzichten»

Es sei eine recht starke politische Bewegung zu beobachten, um bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention weiterzukommen, sagt Markus Schefer, Staatsrechtsprofessor an der Uni Basel und Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Er analysiert im Gespräch die politischen Bemühungen auf kantonaler und nationaler Ebene – und macht deutlich, wie die Institutionen den Prozess vorantreiben können.
Herr Schefer, als Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen beurteilen Sie laufend, wie die einzelnen Staaten der Welt die UN-BRK umsetzen: Geht es weltweit voran damit?
Generell kann man sagen: Es geht voran, aber mit einem langsamen Tempo. Auf vielen Ebenen müssen langjährige Vorstellungen im Umgang miteinander überdacht werde, das braucht Zeit und sehr viel Effort. Gewisse Rückschritte gibt es in den skandinavischen Ländern, die über viele Jahre hinweg sehr fortschrittlich waren. Das politische Klima dort ist vor allem wegen der Migration konservativer geworden, und das beeinflusst auch die Behindertenpolitik. Behindertenpolitik hängt immer vom gesamtpolitischen Klima ab.
Die Schweiz hat die UN-BRK im Jahr 2014 ratifiziert: Wo stehen wir heute im internationalen Vergleich?
So generell lässt sich das nicht sagen. Es gibt noch viel zu tun. Bei der Zugänglichkeit zum öffentlichen Verkehr stehen wir vergleichsweise gut da, was sich auch damit erklärt, dass die Schweiz für den ÖV mehr Geld ausgibt als praktisch alle anderen Länder. Ausnehmen muss ich hier den Busverkehr, hier werden rechtliche Verpflichtungen in weitem Masse ignoriert, ohne dass dies Folgen hat.
Im März 2022 wurde die Schweiz vom UN-Ausschuss gerügt: Die Inklusion werde auf allen Staatsebenen und in der Gesellschaft noch zu wenig gelebt. Hat dieser «Rüffel» eine heilsame Wirkung?
Durch diese Beurteilung sind vor allem die Behindertenorganisationen gestärkt und auch motiviert worden, die Rechte von Menschen mit Behinderungen ins Zentrum zu stellen. Sie sind jetzt mit grösserem Druck daran, die Umsetzung der Konvention beim Bund und den Kantonen zu fördern. Unsere Behindertenorganisationen sind in einem IV-Umfeld gross geworden, wo es vor allem um Sorge und Absicherung geht. Auch sie befinden sich in einem Transformationsprozess.
«Es darf nicht darum gehen, anderen einen Vorwurf zu machen, weil sie während Jahrzehnten eine bestimmte Haltung vertreten haben. Es setzt sich jetzt einfach eine neue Erkenntnis durch, dass es eine Änderung braucht. Diese gilt es aufzunehmen und den Änderungsprozess einzuleiten.» Markus Schefer
Auf politischer Ebene war die heilsame Wirkung also nicht so ausgeprägt?
Vor allem vonseiten der Bundesbehörden gab es kaum positive Reaktionen. Es fehlte auch jeder Plan, wie man auf Behördenebene mit den Empfehlungen des UN-Ausschusses umgehen soll. Bei einigen Kantonen haben die Feststellungen des UN-Ausschusses womöglich eine Rolle dabei gespielt, im Sinne der UN-BRK tätig zu werden, andere Kantone haben schon früher damit begonnen.
Die UN-BRK enthält Bürgerrechte, politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Rechte. Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf?
Eine grundsätzliche Richtungsänderung ist nötig beim Recht der Handlungsfähigkeit, was auch Folgen für das Erwachsenenschutzrecht hat. Eine Arbeitsgruppe beim Bund will das jetzt angehen. Es geht darum, dass ein Beistand oder eine Beiständin nicht anstelle der Person entscheiden darf, sondern diese vielmehr in ihrer Entscheidungsfindung unterstützt. Und falls eine Person ihre Meinung nicht äussern kann, geht es darum, so zu entscheiden, wie die Person sehr wahrscheinlich entschieden hätte. Ein zweiter wichtiger Punkt ist das selbstbestimmte Wohnen, ein dritter Bereich ist die Arbeit. Und gerade mit diesem dritten Bereich ist auch die Bildung respektive die Ausbildung von entscheidender Bedeutung.
Was das selbstbestimmte Wohnen betrifft: Einige Kantone haben bereits vor einigen Jahren mit der Einführung der Subjektfinanzierung die Weichen in diese Richtung gestellt. Lassen sich hier bereits Veränderungen feststellen?
Die Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft haben praktisch gleichlautende Gesetze zur Subjektfinanzierung. Diese sind bereits seit gut acht Jahren in Kraft. Der Kanton Bern hat bereits vor vielen Jahren ein Pilotprojekt gestartet und seit Januar 2024 ein Gesetz in Kraft gesetzt, auch Zürich hat seit 2024 ein Gesetz, und andere Kantone sind unterwegs. Das sind erste Ansätze. Man müsste jetzt einmal analysieren, wie diese Gesetze umgesetzt werden, und zu diesem Zweck zum Beispiel die Basler Erfahrungen analysieren: Entwickelt sich ein Markt für Dienstleistungen? Und: Welche Rolle haben die Institutionen? Wird die Selbstbestimmung der betroffenen Menschen mit Behinderungen gestärkt?
Die UN-BRK beschränkt sich nicht auf das selbstbestimmte Wohnen. Wie geht es mit der Gesetzgebung in anderen Bereichen weiter?
In den letzten paar Jahren sind in mehreren Kantonen umfassende Gesetze zur Umsetzung der UN-BRK verabschiedet worden. Das erste Gesetz ist 2021 wiederum im Kanton Basel-Stadt in Kraft getreten. Auch die Kantone Wallis und Basel-Landschaft haben solche Gesetze. Deren Bedeutung besteht ganz besonders darin, dass sie Menschen mit Behinderungen individuelle Rechte gegen alle Formen der Diskriminierung einräumen. Jeder Einzelne kann einen Rechtsanspruch geltend machen, in der Verwaltung und bei den Gerichten. Verankert ist auch ein Klage- und Beschwerderecht von Behindertenorganisationen. Neuere Gesetze zur Inklusion haben etwa auch die Kantone Neuenburg und Fribourg, ohne aber den Menschen mit Behinderungen einen solchen Rechtsanspruch einzuräumen. Die Umsetzung solcher Gesetze wird damit sehr träge.
Machen Menschen mit Behinderung ihre Rechte geltend, dort, wo sie das können?
Bis jetzt ist das nicht vorgekommen. Die betroffenen Personen sind damit beschäftigt, ihr Leben zu meistern. Da wird es schwierig, zusätzlich noch ein mehrjähriges Verfahren zu stemmen. Auch die Behindertenverbände sind bis auf wenige Ausnahmen derzeit noch nicht in der Lage, solche Fälle kompetent vor Gericht zu bringen. Die Verbände konnten sich keine Kompetenzen erarbeiten, weil es bis jetzt solche Rechte eben noch gar nicht gab.
Um die Selbstbestimmung in der Lebensgestaltung zu fördern, wird jetzt auch die Bundesebene aktiv, und zwar ist eine Revision des IFEG angedacht, des Bundesgesetzes über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen. Können Sie das kurz erläutern?
Wir sind bei der selbstbestimmten Lebensgestaltung längstens nicht dort, wo wir sein sollten. Eine Revision des IFEG, also eine Veränderung der Heimfinanzierung, soll das ändern. Der Ständerat hat jetzt dazu eine Motion überwiesen. Man erhofft sich, im Rahmen der bisherigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen die Heimfinanzierung so zu ändern, dass mehr Unterstützungsleistungen für selbstbestimmtes Wohnen geschaffen werden können. Das Bundesgesetz soll dafür einen hilfreichen Rahmen bilden, gerade für jene Kantone, wo es noch an entsprechenden Angeboten fehlt. Nur mit solchen Angeboten können die Menschen selbst bestimmen, wie, wo, mit wem und in welcher Form sie wohnen und leben möchten.
Damit es mit der Umsetzung der UN-BRK vorwärts geht, braucht es auch Gesetzesanpassungen auf Bundesebene. Und hier geht derzeit regelrecht die Post ab. Gleichzeitig werden zahlreiche Anliegen angepackt. Kann das gut gehen?
Zum Teil werden die politischen Vorhaben zu wenig gleichzeitig angepackt: Derzeit ist die Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) in der parlamentarischen Debatte. Die Vorlage stärkt generell die Rechte von Menschen mit Behinderung auf Teilhabe am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben. Die Revision nimmt damit wichtige Anliegen der Inklusionsinitiative auf. Gemeinsam mit dem indirekten Gegenvorschlag, dem Inklusionsrahmengesetz, handelt es sich hier eigentlich um ein Gesamtpaket. Das Inklusionsrahmengesetz kommt aber erst nächstes Jahr in die parlamentarische Debatte. Ich finde das denkbar schlecht aufgegleist. Es lässt sich aber kaum mehr korrigieren.
Sie vermissen eine Gesamtstrategie?
Das BehiG soll unter anderem Verbesserungen im Bereich Arbeit ermöglichen: Menschen mit Behinderungen sollen sowohl in öffentlichen als auch privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen Rechtsansprüche erhalten, etwa einen gewissen Schutz bei Kündigungen. Wie aber soll das Parlament jetzt im Rahmen der Diskussion über das BehiG über solche Individualansprüche debattieren und ein Jahr später im Rahmen des Inklusionsrahmengesetzes über strukturelle Massnahmen zur Verstärkung der Arbeitsintegration wie Assistenzleistungen oder auch ein Jobcoaching?
Ohne verstärkte Massnahmen zur Arbeitsintegration dürften sich die Arbeitgeberverbände gegen die Rechtsansprüche von Menschen mit Behinderungen stellen?
Meine Sorge ist, dass wir am Schluss tatsächlich keine befriedigende Lösung haben werden. Es wäre besser gewesen, die BehiG-Revision zu einem Teil des Gegenvorschlags des Bundesrats zur Inklusionsinitiative zu machen.
Eine Revision des IFEG, die Revision der BehiG sowie der indirekte Gegenvorschlag zur Inklusionsinitiative: Damit könnte jetzt doch die Chance bestehen, dass es mit der Umsetzung der UN-BRK vorwärts geht?
Es ist jetzt tatsächlich eine recht starke politische Bewegung zu beobachten. Die Inklusionsinitiative, die im letzten Herbst eingereicht wurde, hat da einen grossen Einfluss. Hinzu kommen treibende Kräfte im Parlament, Nationalrat Islam Alijaj und seine beiden Kollegen Philipp Kutter und Christian Lohr. Insgesamt ist aber die Lobby für Menschen mit Behinderung im Bundesparlament nach wie vor relativ schwach. Zudem haben wir eine Bundesverwaltung, die über eine grosse Macht verfügt und bei behinderungsspezifischen Anliegen sehr oft auf die Bremse tritt.
Über die genannten Vorlagen hinaus: Welches sind weitere Anliegen der UN-BRK?
Zu den wichtigen Bereichen, die im Rahmen der aktuellen politischen Vorhaben nicht angesprochen werden, gehören die politischen Rechte. Ein sehr wichtiger Punkt sind weiter die Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie. Jegliche Art von Zwangsmassnahmen wegen der Behinderung widersprechen der UN-BRK, etwa in geschlossenen Abteilungen in der Psychiatrie oder in Pflegeinstitutionen. Die Psychiatrie ist gefordert, Methoden zu entwickeln, um von solchen Zwangsmassnahmen wegzukommen. Zu diesem Zweck braucht es Forschung mit der erforderlichen Finanzierung. Ein weiteres Thema ist die Niederlassungsfreiheit: Diese ist für Menschen, die in einer Institution wohnen, oft nicht gegeben. Sie können in gewissen Fällen praktisch nicht in einen anderen Kanton wechseln, auch das widerspricht der UN-BRK.
«Unsere Behindertenorganisationen sind in einem IV-Umfeld gross geworden, wo es vor allem um Sorge und Absicherung geht. Auch sie befinden sich in einem Transformationsprozess.» Markus Schefer
Die Branche der stationären Leistungserbringer für Menschen mit Behinderungen verpflichtet sich seit 2019 mit dem «Aktionsplan UN-BRK» zu einem Transformationsprozess: weg von der Angebotsorientierung hin zu einer partizipativen, bedürfnisorientierten Begleitung: Wie beurteilen Sie die Bemühungen?
Ich habe zu wenig Einblick in die Branche, um die Bemühungen im Einzelnen beurteilen zu können. Bei den Begegnungen, die ich von Zeit und Zeit habe, stelle ich ein breites Spektrum fest. Zum einen gibt es Leistungserbringer, die den Transformationsprozess aktiv vorantreiben, zum anderen stelle ich aber auch grosse Skepsis fest. Sie bewegen sich natürlich im Korsett der staatlichen Finanzierungen. Deshalb ist es so wichtig, dass sich diese ändern und die Institutionen dann auch die Möglichkeiten – und die Verpflichtung – haben, sich zu ändern. Das heisst jetzt aber nicht, einfach zu warten. Vielmehr muss es darum gehen, schon im Rahmen des heute Möglichen Selbstbestimmung zu gewährleisten.
Immer mal wieder poppt die Forderung nach Deinstitutionalisierung auf: Was bedeutet dies im Sinne des UN-Ausschusses?
Der UN-Ausschuss vertritt klar die Position, dass Institutionen, wie wir sie heute kennen, abgeschafft werden sollen. Man kann jetzt dagegen einwenden, dass dies längst nicht überall möglich ist. Das aber ist in der Schweiz ein absolut theoretisches Problem, weil man es selbst dort nicht macht, wo es durchaus möglich wäre. Es wäre also schon etwas gewonnen, wenn man es erst einmal dort macht, wo es umsetzbar scheint.
Sind das Recht auf Selbstbestimmung und kollektive, institutionelle Settings ein grundlegender Widerspruch?
Ja, und zwar weil sich die Definition von Institution am Mass der Selbstbestimmung misst. Einfach nur, weil etwas vier Wände und ein Dach darüber hat, ist es noch keine Institution. Zu einer Institution wird es dann, wenn meine Selbstbestimmung eingeschränkt wird: Kann ich etwa frei wählen, wer mich betreut? Wenn ich das nicht kann, lebe ich in einem institutionellen Setting. Ein paar Menschen mit Behinderung können durchaus im gleichen Gebäude wohnen, aber sie müssen all ihre Belange, auch ihren Aufenthalt in diesem Gebäude, selbst bestimmen können.
Riskieren wir mit einer sehr konsequent verstandenen Deinstitutionalisierung nicht, dass für betreuungsintensive Settings die Qualität nicht mehr aufrechterhalten werden kann?
Ich sehe nicht, weshalb die Qualität der Betreuung an ein institutionelles Setting gebunden sein soll. Die Frage der Finanzierung stellt sich dann, wenn die Möglichkeiten der Betreuung in einem selbstbestimmten Umfeld bekannt sind.
Wo sehen Sie die künftige Bedeutung und die Aufgabe der Dienstleister?
Es würde den ganzen Prozess vorantreiben, wenn die Institutionen ihr Geschäftsmodell nach und nach so ausrichten, dass sie mit ihren Dienstleistungen dazu beitragen, dass alle Menschen möglichst selbstbestimmt leben können. Sie verfügen über das erforderliche Know-how. Dafür muss man aber bereit sein, das Bisherige in Frage zu stellen.
Es braucht vonseiten der Dienstleister ein neues Denken?
Ja, aber nicht nur; die ganze Gesellschaft ist gefragt. Wichtig ist zudem, dass die Protagonisten des menschenrechtlichen Diskurses auf die Moralkeule verzichten. Es darf nicht darum gehen, anderen einen Vorwurf zu machen, weil sie während Jahrzehnten eine bestimmte Haltung vertreten haben. Es setzt sich jetzt einfach eine neue Erkenntnis durch, dass es eine Änderung braucht. Diese gilt es aufzunehmen und den Änderungsprozess einzuleiten.
Foto: Philippe Jost