Menschen mit Behinderung Gehör verschaffen

17.06.2025 Anne-Marie Nicole

Die Stiftung Clair Bois in Genf begleitet seit 50 Jahren Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit komplexen Behinderungen. Neben Bildungs- und Wohnangeboten, Werkstätten und verschiedenen Aktivitäten bietet sie auch angepasste Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung an. Marie Crestin-Billet ist eine davon. Sie wirkt als Ausbildnerin bei der inklusiven Einführung von neuen Mitarbeitenden der Stiftung. Ein Porträt.

Eigentlich waren wir an ihrem Arbeitsplatz verabredet. Schliesslich trafen wir uns aber bei ihr zu Hause. Marie Crestin-Billet ist 25 Jahre alt und lebt seit einem Jahr selbstständig in einer betreuten Wohnung im obersten Stock der Résidence Gabrielle Sabet in Carouge (GE). Hier erhält die junge Frau mit komplexen Behinderungen von einem fachübergreifenden Team der Fondation Foyer-Handicap die Unterstützung, die sie im Alltag benötigt. Seit ein paar Tagen kann sie aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten. Heute bespricht sie die Situation mit der Pflegefachfrau der Residenz, ihrer Mutter Sophie und ihrer Physiotherapeutin Elisabeth, die sie bereits seit ihrem achten Lebensmonat einmal pro Woche betreut. Marie fühlt sich inzwischen besser und freut sich, ihre berufliche Tätigkeit am nächsten Tag wieder aufzunehmen.

Seit zwei Jahren ist Marie an einem angepassten Arbeitsplatz der Stiftung Clair Bois tätig. Als Ausbildnerin mit Beeinträchtigungen trägt sie aktiv zur inklusiven Einführung neuer Mitarbeitender bei. «Weiss man wirklich, was einen erwartet, wenn man eine Stelle bei der Stiftung Clair Bois antritt?», fragt Jean-Christophe Pastor, Leiter Inklusion und Teilhabe der Stiftung. Angesichts der komplexen und vielfältigen Situationen sowie der zahlreichen Informationen zur Organisation, den Angeboten, Instrumenten und Werten der Stiftung wohl kaum. Vor diesem Hintergrund ist 2022 die Idee entstanden, eine einzigartige, standortübergreifende Schulung ins Leben zu rufen. Sie besteht aus rund einem Dutzend Modulen zu Themen wie Begleitung, Gesundheit, Hauswirtschaft, Ernährung, inklusive Medien und Teilhabe. Im Einklang mit den Werten von Inklusion und Teilhabe wurde das Programm gemeinsam mit Menschen mit Behinderung entwickelt, die als sogenannte «gelegentliche Ausbildende» daran mitwirken – so auch Marie. Die Schulung richtet sich an Fachpersonen, Lernende und Mitarbeitende mit angepasstem Arbeitsplatz und unterschiedlichstem Hintergrund: etwa Pflege, Soziale Arbeit, Hauswirtschaft, Logistik, Restauration und Kommunika­tion. Je nach zukünftiger Funktion besuchen die Teilnehmenden alle Module oder nur einen Teil davon. Seit 2023 haben über 260 Personen die Schulung absolviert.

Erklären, was man tun oder lassen sollte

Marie arbeitet unter der Leitung von Jean-Christophe Pastor. Gemeinsam mit ihm und Marc Gance, Leiter des Kinder- und Jugendbereichs, ist sie für das Modul «Inklusion und Teilhabe» zuständig. Dafür hat sie gelernt, Kursunterlagen am Computer vorzubereiten und eine Gruppe von rund 20 Teilnehmenden zu schulen. «Ich habe viele Kompetenzen erworben, um ihnen Grundwissen zu Inklusion, Teilhabe und Selbstbestimmung zu vermitteln und ihnen zu erklären, was man tun oder lieber lassen sollte», sagt sie. Sie möchte noch lernen, frei zu sprechen, ohne den Text der PowerPoint-Präsentation abzulesen. Wenn es nötig ist, kann sie sich durchsetzen: «Wird zu viel geschwatzt, verwende ich die Hupe meines Rollstuhls, dann ist schnell Ruhe», erzählt sie lachend. Ausserdem informiert sie die verschiedenen Dienststellen der Stiftung über die Schulungsdaten und nimmt die Anmeldungen entgegen.

Marie absolvierte den grössten Teil ihrer Schulzeit in spezialisierten Einrichtungen in Genf und Lausanne. Danach besuchte sie eine praktische Ausbildung zur audiovisuellen und multimedialen Produktion bei der Stiftung Clair Bois. In Zusammenarbeit mit der Multimediawerkstatt Ex&Co der Stiftung wirkte sie bei der Realisierung der TV-Sendung «Singularités» mit, die seit 2005 jeden Monat auf dem Genfer Lokalsender Léman Bleu ausgestrahlt und letztes Jahr durch die Sendung «Décadrages» ersetzt wurde. Marie moderierte sogar selbst einige Folgen der Sendung «Singularités» zu Themen wie dem Zugang zu nachobligatorischer Bildung für Menschen mit Behinderung, Vorurteilen rund um Übergewicht, der Entwicklung eines revolutionären Rollstuhls sowie inklusiver Mode. Sie will Menschen mit Behinderungen Gehör verschaffen und das Bewusstsein für das Thema Behinderung stärken. Diese Motivation begleitet sie bis heute bei allem, was sie tut.

«Ich mag Kinder sehr. Sie sehen Behinderung mit anderen Augen als Erwachsene. Sie urteilen nicht.» Marie Crestin-Billet

Die eigene Lebenserfahrung einbringen

Bei der inklusiven Einführung von neuen Mitarbeitenden der Stiftung Clair Bois geht es Marie Crestin-Billet und ihren Kolleginnen und Kollegen vor allem darum, aus der eigenen Erfahrung zu berichten sowie über ihre Erwartungen und Bedürfnisse im Alltag zu sprechen. Die Teilnehmenden schätzen es sehr, dass Menschen mit Behinderungen direkt an der Schulung beteiligt sind. Sie loben Marie für ihren Beitrag und zeigen damit, wie wertvoll ihre Erfahrungen und deren Vermittlung sind. «Ich bringe meine Sicht auf Behinderung ein und lenke die Aufmerksamkeit auf Dinge, die viele wahrscheinlich nicht sehen.» Folgender Satz aus «Der kleine Prinz» von Saint-Exupéry ist zu ihrem Motto geworden: «Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.» Für sie bedeutet das: «Man kann das Wesentliche erkennen, auch ohne es zu sehen. Und manchmal ist eine Behinderung eben nicht sichtbar.»

Marie Crestin-Billet schätzt den Kontakt zu den neuen Mitarbeitenden der Stiftung. Vor allem möchte sie ihnen ihre Alltagsrealität näherbringen und sie für das Thema Behinderung sensibilisieren. «Menschen mit Behinderungen sind ebenso vollwertig wie alle anderen. Doch das sehen nicht alle so», sagt sie. Marie spricht regelmässig an Lehrveranstaltungen der Fachhochschule für Gesundheit über das Thema Behinderung und setzt sich auch dort dafür ein, den Studierenden der Fachrichtungen Pflege und Ernährung ihre Perspektive zu vermitteln.

Ihr Anliegen, für das Thema Behinderung zu sensibilisieren und Wissen darüber zu vermitteln, hat sie 2021 schliesslich auch in die Politik geführt. «Ich engagiere mich bei den Grünen, weil mir die Umwelt am Herzen liegt und weil ich die Sichtweise auf Behinderungen verändern will. Wenn ich an Sitzungen gehe, erkennen mich alle – mit meinem Rollstuhl bin ich ja nicht zu übersehen», sagt sie lachend.

Unerschütterliche Unterstützung

Marie kam in der 31. Woche viel zu früh und mit einer Behinderung zur Welt, die ihr Leben von Anfang an prägte. Trotzdem sagt sie ohne zu zögern, dass sie eine sehr glückliche Kindheit hatte – mit liebevollen Eltern, die sie bis heute mit unerschütterlicher Unterstützung begleiten und in allem bestärken, besonders in ihrem Streben nach Selbstständigkeit. Sie wuchs als Einzelkind auf, ist sehr kontaktfreudig und hat viele Cousinen, Cousins und Freunde, mit denen sie gern etwas unternimmt. Als kleines Kind reiste sie viel mit ihren Eltern: nach Kambodscha, Südafrika, Indonesien, Singapur, zu den Loire-Schlössern, nach New York und Paris. In letzter Zeit zog es sie mehrmals nach Lourdes, um Kraft zu tanken und innere Ruhe und Gelassenheit zu finden. Davon braucht es sicher auch viel, um all die Spitalaufenthalte und rund 30 Operationen seit ihrer frühen Kindheit zu verkraften.

«Sie ist eine Kämpferin», betont ihre Physiotherapeutin Elisabeth. Und man glaubt es sofort. Mit ihrem elektrischen Rollstuhl, der sich in alle Positionen verstellen lässt und sich an unterschiedliche Bodenbeläge drinnen wie draussen anpasst, bewegt sich Marie mühelos fort – manchmal fast ein bisschen zu schnell, wie ihre Mutter findet. Ohne zu zögern macht sich Marie allein auf den Weg und geht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit. So erlebt sie hautnah, wo es im öffentlichen Raum an Barrierefreiheit fehlt. Auf die Frage nach ihrer Zukunft antwortet Marie Crestin-Billet gelassen: «Ich gehe mein Leben Schritt für Schritt an.» Sie bringt sich bei verschiedenen Kommunikationsprojekten der Stiftung Clair Bois ein. So hilft sie zum Beispiel dabei, Leichte Sprache umzusetzen, Kommunikationstools für Erwachsene zu entwickeln und Beschilderungen für Kinder zu gestalten. «Ich mag Kinder sehr. Sie sehen Behinderung mit anderen Augen als Erwachsene. Sie urteilen nicht.» Eines steht fest: Marie wird sich auch in Zukunft dafür einsetzen, die Grenzen der Behinderung zu verschieben, sei es in der Stiftung Clair Bois, an der Fachhochschule für Gesundheit, in der Politik oder ganz allgemein in der Gesellschaft.


Foto: Anne-Marie Nicole