NACHHALTIG | «Sozial nachhaltiges Bauen ist eine Daueraufgabe»

16.02.2022 Urs Tremp,
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Die Baukultur-Fachfrau Claudia Schwalfenberg über nachhaltiges Planen und Bauen und über die Verantwortung nicht nur der Architekten und Bauherren.

Frau Schwalfenberg, was ist denn genau sozial nachhaltiges Bauen?
Das ist ein sehr breiter Begriff, und er kann Verschiedenes bedeuten – etwa die Beteiligung der Bevölkerung am Entscheidungsprozess eines Bauvorhabens, die Berücksichtigung der verschiedenen Bedürfnisse für die Nutzung, der Einsatz für bezahlbaren Wohnraum, die Schaffung öffentlicher Räume, die zur Begegnung einladen, oder die Gestaltung von Orten, die Angebote zur kulturellen Identifikation machen.

All dies muss berücksichtigt werden, will man nachhaltig bauen?
Das hängt immer auch vom Massstab ab. Bezogen auf den gestalteten Lebensraum als Ganzes, ist heute auch der Klimaschutz ein wichtiger Teil sozial nachhaltigen Bauens. Denn mit dem Klima schützen wir auch die Art unseres Zusammenlebens.

«Die soziale Nachhaltigkeit ergibt sich aus dem Zusammenspiel von räumlichen und sozialen Faktoren.» Claudia Schwalfenberg

Wie denn?
Das Klima – und mit dem Klima das Wetter – hat Einfluss darauf, ob und wie wir uns draussen treffen und ob öffentliche Räume in Zukunft so genutzt werden können, wie sie heute genutzt werden. Die Klimaveränderungen haben also auch im Kleinen Auswirkungen auf unser soziales Leben. Vulnerable Menschen sind von den Veränderungen besonders betroffen. Wir sehen ja schon heute, dass in ausserordentlich heissen Sommern die Sterblichkeit steigt.
Die Klimaerwärmung kann also für viele alte Menschen lebensbedrohlich sein. Ganz allgemein sinken mit heissen Temperaturen das finden und die Leistungsfähigkeit. Und wenn wir die Klimaerwärmung global denken, dann müssen wir an die Klimaflüchtlinge denken, an die Menschen, die sich aus anderen Regionen der Welt auf den Weg machen – auf den Weg machen müssen –, um den Folgen des Klimawandels zu entkommen, weil ihnen ein Überleben in der angestammten Heimat nicht mehr möglich ist.

Wenn all dies bei Bauvorhaben berücksichtigt wird, ist soziale Nachhaltigkeit erfüllt?
Ein wichtiger Bezugsrahmen für soziale Nachhaltigkeit ist die Agenda 2030 der Uno mit ihren 17 globalen Zielen für eine nachhaltige Entwicklung. Zu diesen Zielen zählen – ich zitiere – «eine widerstandsfähige Infrastruktur» sowie «nachhaltige Städte und Siedlungen». Eine hohe Baukultur ist also ein essenzielles Element sozialer Nachhaltigkeit.

«Der Mensch hat da nicht nur funktionale Bedürfnisse, sondern auch emotionale.»

Was ist denn eine hohe Baukultur?
Baukultur ist der gestaltete Lebensraum und wie es dazu kommt. Baukultur ist also ein sehr umfassender Begriff, der die Gestaltung des Lebensraums als kulturellen Akt begreift. Der Mensch hat da nicht nur funktionale Bedürfnisse, sondern auch emotionale. Und da kommen Kriterien wie die Schönheit eines Gebäudes oder die Wirtlichkeit der Umgebung ins Spiel.

Sie sagen, dass zur Baukultur gehöre, wie wir unseren Lebensraum prägen und nutzen. Kann dieser Vorgang denn quasi verordnet werden? Anders gefragt: Ist soziale Nachhaltigkeit überhaupt planbar?
Zu 100 Prozent planbar ist soziale Nachhaltigkeit sicher nicht. Mit einer guten Planung lässt sich aber ein Rahmen schaffen, der soziale Nachhaltigkeit fördert und die Menschen ermutigt.

Welche Fehler werden immer wieder gemacht, die beim Bauen soziale Nachhaltigkeit verhindern?
Die Vorbereitung und Begleitung eines Projekts kommen manchmal zu kurz. Partizipation ist ein anspruchsvoller Prozess und bedeutet zunächst einmal eine Investition.

Eine Investition in was?
Man investiert in die erforderliche Planung und berücksichtigt Fragen wie: Wie können Menschen, die von einem Bauvorhaben betroffen sind, mitreden und mitentscheiden? Das kann zwar nicht basisdemokratisch passieren. Aber man kann die Menschen so weit wie möglich mit einbeziehen. Das ist mit einigem Aufwand verbunden. Aber es ist auch eine Investition darin, dass das Ergebnis nicht nur von allen akzeptiert und getragen wird, sondern möglichst auch besser ist.

Nun können Ansprüche, Wünsche und Bedürfnisse an ein Bauvorhaben ganz unterschiedlich sein. Wie bringt man diese Wünsche und Bedürfnisse unter einen Hut?
Alle Beteiligten müssen sich bewusst sein, dass soziale Nachhaltigkeit nichts Absolutes ist und für unterschiedliche Interessengruppen Verschiedenes bedeuten kann. Soziale Nachhaltigkeit ist immer auch auszuhandeln.

Welches Gewicht kommt schliesslich den Bewohnerinnen und Bewohnern bei der Planung zu?
Wichtig ist vor allem, dass Bewohnerinnen und Bewohner klare Bedürfnisse formulieren: Was sind die wesentlichen Anforderungen an die Nutzung beim jeweiligen Projekt? Welche Art sozialer Nachhaltigkeit ist gewünscht? Bewohnerinnen und Bewohner sind zugleich aufgefordert, aktiv zur Lebendigkeit ihres Umfelds beizutragen.

«Aber am nachhaltigsten ist, wenn die Menschen sich selbst fragen: Was kann ich zu einem lebendigen Quartierleben beitragen?»

Wie setzt man diese Forderung durch?
Es gibt Ansätze, solche Lebendigkeit zu fördern, mit Animatoren oder Quartierarbeiterinnen und -arbeitern. Das ist ein Ansatz, der helfen kann, Dinge anzustossen und zu unterstützen. Aber am nachhaltigsten ist, wenn die Menschen sich selbst fragen: Was kann ich zu einem lebendigen Quartierleben beitragen? Dass man also nicht wartet, bis etwas organisiert wird, sondern dass man selbst etwas macht. So können Menschen autonom über ihr Leben bestimmen.

Das gilt auch für Menschen mit Unterstützungsbedarf?
Ob mit Unterstützungsbedarf oder nicht: Die Menschen haben nicht alle in gleichem Mass gelernt, sich einzubringen. Und nicht alle haben auch die Zeit, sich mit einem Vorhaben auseinanderzusetzen. Als Architekt und Planerin muss man ermöglichen, dass sich auch die Menschen einbringen können, die das nicht so gewohnt sind. Zuweilen muss man auch Menschen finden, die für diese Menschen sprechen können und deren Bedürfnisse und Forderungen einbringen.
Der Königsweg wäre allerdings die direkte Beteiligung. Aber da ist immer die Frage: Wie sind da die Voraussetzungen?

Wer ist verantwortlich, dass soziale Nachhaltigkeit in einer Siedlung oder einem Quartier erhalten bleibt?
Da sind alle Stakeholder gleichermassen gefragt: Bewohnerinnen und Bewohner, Bauherrschaften und Bauunternehmen, Planerinnen und Planer, Vermieterinnen und Vermieter oder städtische Verwaltungen und der Gesetzgeber, der entsprechende Rahmenbedingungen schafft.

Welches sind die architektonischen Voraussetzungen, damit soziale Nachhaltigkeit möglich wird?
Die soziale Nachhaltigkeit ergibt sich aus dem Zusammenspiel von räumlichen und sozialen Faktoren. Ein Ort kann zugänglich sein im Sinn von barrierefrei und öffentlich. Wichtig ist, dass qualifizierte Planerinnen und Planer ihre Kompetenz angemessen einbringen können.

Ist denn sozial nachhaltiges Bauen teuer?
Sozial nachhaltiges Bauen sollte langfristig einen Mehrwert generieren. Sonst ist es nicht nachhaltig.

Nennen Sie uns ein Beispiel, das zeigt, wie man nachhaltig baut, das zeigt, wie sozial nachhaltiges Leben möglich wird.
Mich hat Oodi, die neue Zentralbibliothek von Helsinki, beeindruckt. Ein Haus, dem es derart gelingt, ein Ort für alle zu sein, habe ich selten erlebt. Das fängt damit an, dass Oodi weit mehr sein möchte als eine klassische Bibliothek. Bücher ausleihen, arbeiten, rumhängen, ein Treffen abhalten oder ein T-Shirt nähen: Alles ist dort möglich – und alles ist ausdrücklich erwünscht. Was sicher auch ganz wichtig ist, dass Eintritt und WLAN frei sind. So haben Jugendliche zum Beispiel einen Ort, wo sie sich einfach treffen können, ohne konsumieren zu müssen, und gleichzeitig Social Media nutzen können. Und für eher traditionelle Bibliotheksbesucherinnen und Bibliotheksbesucher gibt es einen sogenannten Bücherhimmel – ein heller, geschwungener und lichtdurchfluteter Raum mit vielen Büchern.

«Gefahren für ein sozial nachhaltiges Bauen und damit ein nachhaltiges Leben gibt es viele: Orientierung an kurzfristiger Rendite, mangelnde Vielfalt oder fehlende Schönheit.»

Was macht die Zentralbibliothek in Helsinki zu einem sozial nachhaltigen Ort?
In der Oodi sind verschiedene soziale und räumliche Voraussetzungen gegeben: Es gibt ein breites, allgemein zugängliches Angebot an Aktivitäten und an Räumen. Um es mit einem Wort zu sagen: Oodi ist Vielfalt.

Woran kann sozial nachhaltiges Bauen und Planen denn scheitern?
Gefahren für ein sozial nachhaltiges Bauen und damit ein nachhaltiges Leben gibt es viele: Orientierung an kurzfristiger Rendite, mangelnde Vielfalt oder fehlende Schönheit. Neben den Gefahren müssen wir aber auch die Chancen sehen, die ein demokratisches Gemeinwesen wie die Schweiz bietet: sich einzumischen und so zu sozial nachhaltigem Bauen und Leben beizutragen.

Wie müssen Bauvorschriften formuliert sein, damit sozial nachhaltig gebaut wird?
Bauvorschriften müssen sozial nachhaltiges Bauen wie eine qualitativ hochwertige Baukultur insgesamt als Wert deklarieren, damit sozial nachhaltig gebaut wird.

Wie weit verbreitet ist sozial nachhaltiges Bauen in der Schweiz denn schon?
Die Schweiz ist international teilweise Vorreiter. Genossenschaftssiedlungen wie die Kalkbreite in Zürich, wo neue Formen des Zusammenlebens erprobt werden können, leisten einen Beitrag zur Zukunft des Wohnens. Das Beispiel der Genossenschaftssiedlungen zeigt aber zugleich, wie sehr die soziale Nachhaltigkeit immer auch eine Frage der Perspektive ist. Dass Ausländer in Zürcher Genossenschaften deutlich untervertreten sind, ist jedenfalls kein Ausweis an Zugänglichkeit und Vielfalt.
Dass man sich in manchen Bereichen langsam gelöst hat von der Vorstellung, nur für eine spezifische Zielgruppe zu bauen, ist wiederum eine gute Entwicklung, dass man etwa nicht nur für Menschen mit Behinderung baut, sondern für alle.

Und was gibt es noch zu tun?
Sozial nachhaltiges Bauen ist eine Daueraufgabe. Jedes Projekt, das den gestalteten Lebensraum verändert, muss den Anspruch haben, einen Beitrag zum sozial nachhaltigen Bauen zu leisten. Jede und jeder Einzelne ist gefragt, im Rahmen der Möglichkeiten mitzugestalten.

 


Unsere Gesprächspartnerin

Claudia Schwalfenberg, 54, ist Leiterin Fachbereich Politik und Verantwortliche Baukultur beim Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein SIA. Sie hat Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaften studiert und arbeitete unter anderem bei der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und der deutschen Bundesarchitektenkammer.

Foto: Privat