OHNE MEDIKAMENTE | «Entdecken, was gut tut und stärkt»

01.05.2024 Barbara Lauber

Sie mögen unscheinbar wirken. Doch oft sind sie es, die im ­Alltag der Stiftung MitMänsch Oberwallis den entscheidenden Unterschied machen: Angebote wie Snoezelen, Basale ­Stimulation, Bällchenbad, Reiten, Schwimmen, Musizieren oder Malen. Sie ermöglichen es Kindern wie Erwachsenen, ­Körper und Gefühle besser wahrzunehmen, zu entspannen und schiere Lebensfreude zu erleben. Ein Besuch im Oberwallis.

Umgeben von Hunderten farbiger Bällchen schliesst Enea die Augen, steckt den Daumen in den Mund und wird still. Noemi Sieber lächelt und streicht ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Normalerweise greift Enea sofort nach gelben Bällchen, wirft sie herum und lacht», erzählt die Heilpädagogin. Doch Enea hatte am Vortag einen schweren epileptischen Anfall. «Nach solch heftigen Erlebnissen können Kinder im Bällchenbad entspannen und zur Ruhe kommen. Hier dürfen sie einfach sein, ohne Angst, ohne Gefahr. Die Bällchen drücken sanft auf den Körper, geben Halt und erlauben es loszulassen.»

Flexibel anpassbare Angebote

Je nach Kind und Tagesform erlebt Noemi Sieber im gros­sen Bällchenbad der Heilpädagogischen Schule von MitMänsch Oberwallis wildes Herumtoben, konzentrierte Lernsequenzen, fokussierte Körpertrainings oder spontane Entspannungsrunden. Die Bällchen mögen banal wirken, ermöglichen der Heilpädagogin jedoch unterschiedlichste Trainingsangebote, die sie flexibel den Bedürfnissen der Kinder anpasst. So auch bei Enea. «Enea spricht nicht, sitzt fast immer im Buggy, gibt Dinge nicht gerne aus der Hand oder wirft sie weg. Im Bällchenbad übt er unkompliziert, selbstständig zu sitzen und mit mir zu kommuni­zieren, und lernt, Bälle zu geben und zu nehmen, ohne sie wegzuwerfen.»

Wach wird Enea erst im Kirschsteinbad. Dort gleiten seine schmalen Hände wieder und wieder durch die trockenen, leise klackernden Kirschsteine – bis er sich auf einmal aufrichtet und mit einem Juchzen Steine ins Zimmer wirft. Ein Lachen erhellt sein Gesicht, und auch Noemi Sieber lacht: «Es ist eindrücklich zu erleben, wie die­selben Angebote je nach Kind Entspannung, Konzentration oder Wachheit auslösen.»

Eine echte Wahl bieten

Bällchen- und Kirschsteinbad sind nur zwei von knapp einem Dutzend nicht-medizinischer Angebote von MitMänsch Oberwallis, die den Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen sowie Seniorinnen und Senioren mit teilweise schwerer kognitiver und körperlicher Beeinträchtigung offen­stehen. Sie sind längst fester und unverzichtbarer Bestandteil des institutionellen Alltags und machen nicht selten einen entscheidenden Unterschied in der Begleitung. Sie reichen von wöchentlichen Angeboten wie Schwimmen, therapeutischem und pädagogischem Reiten, Musizieren, Snoezelen und Basaler Stimulation bis hin zu ausserordentlichen Angeboten wie Malen, Yoga oder Wellness-­Wochenenden in der Wohngruppe.

«Wir entwickeln unsere Angebotspalette laufend weiter», sagt Direktorin Alexandra Horvath. «Unsere Maxime ist: Alles, was den Menschen in unserer Stiftung nützt und dient und was wir finanzieren können, nehmen wir auf.» Und Stiftungsratspräsidentin Nicole Ruppen ergänzt: «Wir wollen den begleiteten Menschen vom Kleinkindalter bis ins hohe Seniorenalter Vielfalt und Auswahl bieten. Sie sollen sich ein Leben lang vielfältig ausprobieren können und entdecken, was ihnen guttut, was sie stärkt und ihnen Freude macht.»

Lebensfreude und Entspannung

Lauter und leiser Freude und Körperlichkeit begegnet man an diesem Tag bei MitMänsch Oberwallis immer wieder. Im Esssaal am Standort Steg beispielsweise, wo fünfzehn Personen zu dröhnender Schlagermusik voller Inbrunst Rasseln schwingen, auf Trommeln hauen oder in die Hände klatschen. Im Treppenhaus in Brig-Glis, wo eine Gruppe Kinder sich kichernd Farbe an die Hände schmiert und Blumen an die Fenster malt. Beim heilpädagogischen Reiten, wo ein Mädchen seine Arme um den Pferdehals schlingt und ihre Nase sanft ins Fell drückt. Oder im Snoezelraum, wo sich eine Bewohnerin der Briger Senioren-Wohngruppe ins warme Wasserbett legt und mit einem zufriedenen Brummen die Augen schliesst.

Ihre Betreuerin legt der Seniorin eine Wolldecke über die Beine, dimmt das Licht und macht den Lichterhimmel und leise Musik an. «Das Snoezelen ist bei Bewohnerinnen und Bewohnern jeden Alters sehr beliebt», erzählt die Sozialpädagogin leise. Deshalb gebe es inzwischen an den meisten Standorten der Stiftung sehr gut besuchte Snoezel­räume. «Unsere Bewohnenden entspannen sich hier sichtlich. Sie können sich fallenlassen, Stress, Frust und Aggressionen hinter sich lassen und einen Moment der Ruhe geniessen.» Nach dem Snoezelen seien die Bewohnenden oftmals sehr «bei sich», ausgeglichener und präsenter. «Nicht selten sind danach gute Gespräche möglich. Manchmal lösen die Entspannung und die mitgebrachte oder ausgewählte Musik bei den Bewohnerinnen und Bewohnern auch Erinnerungen aus – meistens schöne, manchmal aber auch schwierige», erzählt sie.

«Die Aufgabe von MitMänsch ­Oberwallis ist es, Menschen dabei zu unterstützen, ihre Stärken zu entdecken, ­auszuleben und weiterzuentwickeln.»
David Werlen, Bereichsleiter arbeiten & beschäftigen

Unterschiedliche Sinne anregen

In den Räumen der Heilpädagogischen Schule ist Nicos Fussen in seinem Element. Der Heilpädagoge verbindet das Fach Deutsch mit Basaler Stimulation und erzählt seiner Klasse gerade mithilfe unterschiedlichster Utensilien eine Osterhasengeschichte. Loris, der mit ernstem Blick im Rollstuhl sitzt, verzieht jäh das Gesicht zu einem breiten Lachen, als Fussen vom blauen Himmel erzählt und ihm ein blaues Tuch übers Gesicht gleiten lässt. Und sein Klassenkollege vis-à-vis beginnt aufgeregt zu wippen, als es in der Geschichte plötzlich regnet und Nicos Fussen ihm feine Wassertröpfchen ins Gesicht stäubt.

«Diese Kinder teilen sich nicht über Sprache mit. Deshalb versuchen wir, ihnen die Geschichte über verschiedene Sinne zugänglich zu machen», erklärt Fussen später. Er beschränke sich in der Basalen Stimulation immer auf bestimmte Reize und flechte diese Woche für Woche in die Geschichten ein. «Dadurch werden die Kinder mit den Reizen immer vertrauter, sodass einige von ihnen diese mit der Zeit auch für ihre Kommunikation nutzen.»

Ergänzend, ganzheitlich, bereichernd

«Die nicht-medizinischen Angebote sind eine wichtige Ergänzung zu den klassischen Angeboten wie Psychomotorik, Ergo-, Logo-, Pharmako- und Physiotherapie und erlauben eine ganzheitliche Unterstützung», sagt Direktorin Alexandra Horvath auf dem Weg zu den Tages- und Werkstätten in Steg. «Sie sollen zum einen Spass machen, neue Erfahrungen bieten und Entwicklung ermöglichen. Zum andern unterstützen sie die begleiteten Menschen dabei, sich und ihren Körper noch besser zu spüren, sich zu entspannen, zu aktivieren und ihre Emotionen zu regulieren.»

Darum geht es auch im Malatelier am Standort Steg. Das Atelier wurde zum 60-Jahr-Jubiläum der Stiftung neu geschaffen und entpuppte sich bereits nach den ersten Wochen als Volltreffer. Im Jubiläumsjahr können es alle 35 Teilnehmenden der Tagesstätte alle zwei Wochen besuchen. «Die Teilnehmenden machen engagiert und mit Freude mit. Niemand schwänzt», erzählt Layla Lagger, die als Sozialpädagogin und angehende Maltherapeutin das Atelier zusammen mit Jessica Ritter und Izahir Nuhi leitet. Das Atelier stelle einen sicheren Rahmen dar, in dem die Teilnehmenden sich kreativ ausdrücken, sich selbst wahrnehmen und Selbstvertrauen entwickeln könnten. «Wir stellten bereits bei vielen Teilnehmenden eine Entwicklung fest: im kreativen Ausdruck, in der Technik und auch in der Lautsprache», erzählt Layla Lagger.

Stärken und Talente entdecken

Im hellen Atelier herrscht schon fast euphorische Stimmung. Gemalt wird mit den Händen, mit Pinsel und auch mal mit dem Ellenbogen. Der ganze Raum scheint in Bewegung zu sein. Hier wischen die Hände einer jungen Frau wild übers Papier und hinterlassen blaugrüne Spuren. Dort wippt ein junger Mann vor und zurück, unschlüssig, in welche Farbe er den Pinsel tauchen soll. Der Kollege neben ihm pinselt derweil hochkonzentriert rote Farbe aufs Papier. Dazwischen leise hervorgestossene Laute, Stampfen, lautes Atmen, Aufregung wegen eines Farbflecks auf der Jeans, Freude über ein fertiges Bild.

David Werlen steht etwas abseits und beobachtet das Ganze mit einem Schmunzeln. Der Bereichsleiter arbeiten & beschäftigen hat bei MitMänsch Oberwallis die Verantwortung für 170 Mitarbeitende, kennt fast jede begleitete Person mit Vornamen und ist für alle einfach «där David». «Die Stiftung wollte den Teilnehmenden zum Jubiläumsjahr ein Geschenk machen und sich für ein Malatelier entschieden», erzählt er. «Es wurde noch besser aufgenommen als erwartet.» Gut möglich, dass die Stiftung dieses fest ins Angebot aufnehmen werde. Denn für David Werlen wird im Malatelier einmal mehr deutlich, wie viele Talente und Stärken in den begleiteten Personen schlummerten. «Die Aufgabe von MitMänsch Oberwallis ist es deshalb auch, Menschen dabei zu unter­stützen, ihre Stärken zu entdecken, auszuleben und weiterzuentwickeln.» 
 




Foto: Marco Zanoni