PSYCHISCHE GESUNDHEIT | «Beim Betriebsklima besteht oft Handlungsbedarf»

18.07.2022 Elisabeth Seifert

Das Interesse am Thema Gesundheit nehme in den Firmen stetig zu, besonders seit der Coronapandemie. Dies beobachtet Nina Zumstein von der Gesundheitsförderung Schweiz. Mittels eines spezialisierten Befragungsinstruments können Pflegeheime und auch soziale Institutionen feststellen, wie es ihren Mitarbeitenden geht, und bei Bedarf entsprechende Massnahmen einleiten.

Täuscht der Eindruck, oder stellen auch Sie fest, dass derzeit sehr viele Menschen mit psychischen Problemen zu kämpfen haben?
Wir erheben seit 2014 praktisch jährlich den Job-Stress-Index. Dieser zeigt die Balance zwischen Belastungen und Ressourcen der Arbeitnehmenden auf. Wir stellen fest, dass sich diese Balance tendenziell verschlechtert hat, und zwar bereits im Zeitraum zwischen 2014 und 2020, also noch vor der Coronapandemie.
In der zuletzt publizierten Studie aus dem Jahr 2020 hatten rund 30 Prozent der befragten Mitarbeitenden mehr Belastungen als Ressourcen und sind damit gefährdet. Die Gründe dafür liegen in der steigenden Komplexität der Aufgaben, verbunden damit, dass immer mehr in noch kürzerer Zeit erledigt werden muss. Viele Aufgaben müssen parallel erfüllt werden.

und wie beurteilen Sie die psychische Gesundheit nach zwei Jahren Coronapandemie?
Mit dem Job-Stress-Index messen wir spezifische Arbeitsbelastungen, die auch schon in der Arbeitswelt vor Corona weit verbreitet waren. Bei gewissen Faktoren, etwa den Arbeitsunterbrechungen, dürfte die mit der Pandemie einhergehende Home-Office-Pflicht die Belastungen bei vielen Mitarbeitenden verringert haben. Bei den neuen Job-Stress-Index-Studien  2021 und 2022, die beide im Herbst veröffentlicht werden, kommt es deshalb womöglich zu paradoxen Ergebnissen.
Aus anderen Studien wissen wir, dass während der Coronazeit Belastungen dazugekommen sind, die vorher weniger im Vordergrund standen.

«Wir merken derzeit stark, dass wir nicht alles so im Griff haben, wie wir uns dies wünschen.»

Welche Belastungen meinen Sie?
Die Veränderung des gewohnten Alltags stellte für viele Menschen eine Belastung dar. Hinzu kam respektive kommt die Unsicherheit bezüglich der Entwicklung der Pandemie, die Sorge um die eigene Gesundheit und jene der Angehörigen. Der Ukraine-Krieg und seine Folgen verstärken die Unsicherheit weiter. Wir merken derzeit stark, dass wir nicht alles so im Griff haben, wie wir uns dies wünschen. Neben zusätzlichen Belastungen sind während der Pandemie wichtige Ressourcen weggebrochen, insbesondere die sozialen Kontakte. Diese gehören zu den wichtigsten Ressourcen.
Wir erleben derzeit auf gesellschaftlicher Ebene eine Verschiebung in Richtung Belastungen.

Diese allgemeinen gesellschaftlichen Belastungen bleiben nicht ohne Folge in der Arbeitswelt?
In der Arbeitswelt haben auch private oder gesellschaftliche Belastungen ihre Auswirkungen, wie natürlich auch Belastungen in den Arbeitsbedingungen selbst. Die Sensibilität der Firmen für die Notwendigkeit eines betrieblichen Gesundheitsmanagements steigt seit 15 Jahren kontinuierlich an.
Mit der Coronapandemie ist dieses Interesse nochmals gestiegen. Betriebe, die noch vor zwei oder drei Jahren der Meinung waren, dass andere Fragen wichtiger für ihr Unternehmen sind, schauen jetzt auch beim Themas Gesundheit und Gesundheitsförderung genauer hin.

Wie reagieren Betriebe gerade auch auf Belastungen im privaten oder gesellschaftlichen Bereich?
Firmen fokussieren oft auf die Arbeitsbedingungen, also den Bereich, wo sie wirklich etwas beeinflussen können. Dazu gehören zum Beispiel das soziale Klima am Arbeitsplatz, die Arbeitsorganisation der Aufgaben oder die Führung.
Die zentrale Frage für sie lautet hier: Wie können wir die Arbeit so gestalten, damit möglichst wenig unnötiger Stress ausgelöst wird und möglichst viele positive Ressourcen für die Arbeitnehmenden zur Verfügung stehen.
Gerade mit Blick auf private Herausforderungen, zum Beispiel bei Eltern mit Kindern oder Personen mit pflegebedürftigen Angehörigen, ist es aber wichtig, die Arbeitsbedingungen flexibel zu gestalten.
Mit individuell abgestimmten Lösungen können private Belastungen abgefedert werden. Attraktive Arbeitsbedingungen sind ein wichtiger Einflussfaktor für die Zufriedenheit, die Motivation und Gesundheit von Mitarbeitenden.

«Viele Betriebe sind sich bewusst, wie wichtig attraktive Arbeitsbedingungen sind, sie wissen aber oft gar nicht genau, wo sie anfangen sollen.»

Die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz hat ein Befragungsinstrument konzipiert, das Betrieben aufzeigen kann, wo sie stehen und wie sie sich verbessern können.
Viele Betriebe sind sich bewusst, wie wichtig attraktive Arbeitsbedingungen sind, sie wissen aber oft gar nicht genau, wo sie anfangen sollen. Wir stellen immer wieder eine gewisse Ratlosigkeit fest. Und es ist tatsächlich sehr schwierig, im fordernden Alltagsgeschäft auch noch ein betriebliches Gesundheitsmanagement aufzubauen. Unser Mitarbeitenden-Befragungsinstrument Job-Stress-Analysis unterstützt Firmen hierbei.
Seit dem Start 2012 haben mehrere hundert Firmen mit insgesamt über 200 000 Mitarbeitenden das Instrument genützt, zum Teil mehrmals. Die Befragung macht deutlich, wo bei den einzelnen Teams genau die Probleme liegen. Hinterher werden die Probleme analysiert und Massnahmen erarbeitet.

«In den sozialen Berufen ist ein hohes Engagement gefragt bei gleichzeitig emotional oft belastenden Situationen.»

Vor wenigen Jahren haben Sie für die Bereiche Schule und Langzeitpflege die allgemeine Befragung um jeweils ein Spezialmodul ergänzt – weshalb?
Es handelt sich hier jeweils um grosse, vulnerable Berufsgruppen, die zudem in Betrieben mit einer gewissen Grösse arbeiten. In den sozialen Berufen ist ein hohes Engagement gefragt bei gleichzeitig emotional oft belastenden Situationen. Beide Bereiche sind zudem in einem besonderen Mass durch einen Fachkräftemangel gekennzeichnet. Hinzu kommen die nicht immer attraktiven Rahmenbedingungen, ganz besonders im Bereich der Langzeitpflege.

Wie wird dieses Spezialmodul von der Langzeitpflege genützt?
2018 und 2019 führten wir ein Pilotprojekt mit insgesamt neun stationären und ambulanten Betrieben durch. Seit Ende 2019/2020 ist das Befragungsinstrument für alle offen. Vor dieser Zeit hat bereits eine Reihe von Betrieben das allgemeine Befragungsinstrument verwendet.
Inzwischen haben wir insgesamt 43 Betriebe, darunter auch Institutionen für Menschen mit Behinderung, die das Tool mindestens einmal verwendet haben. Einzelne Betriebe haben die Befragung bereits ein zweites Mal durchgeführt und sich als Folge der eingeleiteten Massnahmen tendenziell verbessert.

Wie geht es den Mitarbeitenden in all diesen Betrieben – gerade auch im Vergleich zur allgemeinen Wirtschaft
Vorausschicken möchte ich, dass Betriebe, die ein solches Instrument nutzen, sehr daran interessiert sind, ihren Mitarbeitenden gute Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Für die Umsetzung von Verbesserungsmassnahmen muss man oft gewisse personelle und auch finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen. Das machen vor allem Betriebe, die eine entsprechende Sensibilität haben und bereits auf einem guten Weg sind. Bei solchen Betrieben ist die Zufriedenheit der Mitarbeitenden in der Langzeitpflege oder auch den sozialen Institutionen nicht unbedingt schlechter als in der allgemeinen Wirtschaft.
Probleme werden hier in der Regel schneller sichtbar als in grossen Unternehmen. Die sozialen Berufe haben einerseits grosse Herausforderungen, andererseits bieten sie aber auch viel Ressourcen, zum Beispiel eine sinnstiftende Arbeit.

«Das ist es von zentraler Bedeutung, die Arbeit so zu organisieren, dass sie ihre Tätigkeit motiviert ausführen können.»

Wie zentral sind aus Ihrer Sicht die externen Rahmenbedingungen, etwa die Löhne, auf welche die Institutionen ja wenig Einfluss nehmen können?
Die Rahmenbedingungen, gerade auch die Löhne, sind ein zentraler Faktor und werden mit dem zunehmenden Fachkräftemangel auch immer wichtiger. Höhere Löhne sind ein wertvolles Signal, dass man die Leistung der Mitarbeitenden und die Gesundheit der Menschen mit Unterstützungsbedarf schätzt, auch finanziell.
Mitarbeitende in den Pflege- und Sozialberufen wählen den Beruf allerdings nicht wegen des Lohns, sondern weil sie die Pflege oder der Sozialbereich sehr interessiert. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, die Arbeit so zu organisieren, dass die Mitarbeitenden ihre Tätigkeit motiviert ausführen können.

Wo sehen sie aufgrund der bisherigen Umfragen die wichtigsten Handlungs- respektive Problemfelder in den Betrieben?
Jeder Betrieb und innerhalb der Betriebe die einzelnen Teams oder Abteilungen haben ihre ganz spezifischen Stärken und Schwächen. Die Handlungsfelder lassen sich deshalb nicht so leicht generalisieren. Ein sehr wichtiger Punkt, wo vielfach auch Handlungsbedarf besteht, ist das Betriebsklima, also der Umgang miteinander, die Art der Kommunikation, auch die Fehlerkultur. Für ein gutes Betriebsklima entscheidend ist insbesondere die Wertschätzung der Mitarbeitenden.

«Dass Mitarbeitende gesehen, gehört und verstanden werden erweist sich in vielen Studien als der wichtigste Faktor für die psychische Gesundheit.»

Wie zeigt sich Wertschätzung?
In der klassischen Arbeitspsychologie unterscheidet man hier drei Komponenten: Die Rahmenbedingen wie Löhne und Sozialleistungen, die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung sowie die klassische Wertschätzung, also dass Mitarbeitende gehört, gesehen und verstanden werden. Diese letzte Komponente erweist sich in vielen Studien als der wichtigste Faktor für die psychische Gesundheit. An zweiter Stelle stehen die Weiterentwicklungsmöglichkeiten und oft erst an dritter Stelle der Lohn.
Ein guter Lohn ist für vieles durchaus wichtig, aber für die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden sind andere Dinge eher noch zentraler.

Eine grosse Belastung stellen für die Mitarbeitenden auch der hohe Zeitdruck und die Hektik dar ...
Das ist oft eine Frage der Arbeitsorganisation. Neben dem allgemeinen Betriebsklima und der Wertschätzung spielt deshalb eine effiziente, auf die Bedürfnisse angepasste Organisation der Arbeit eine wichtige Rolle für die Gesundheit. Ein Aspekt ist zum Beispiel die Dienstplanung. Es gibt hierfür keine allgemeine Lösung, sie muss zum Betrieb und den Mitarbeitenden passen.
Neben dem Dienstplan ist weiter entscheidend, dass die Mitarbeitenden richtig eingesetzt sind. Auch das Aufgabenfeld muss möglichst ganzheitlich definiert sein. Viele Fragen der Arbeitsorganisation lassen sich mit einem partizipativen Führungsstil zufriedenstellender lösen.

«Die Umstellung auf partizipative Modelle ist nicht immer ganz einfach und fordert sowohl die Mitarbeitenden als auch die Führungspersonen.»

… und zwar deshalb, weil die Mitarbeitenden oft am besten wissen, wie sie ihre Arbeit optimal organisieren müssen?
Wir hören immer wieder, dass Mitarbeitende unter dem Strich motivierter und zufriedener sind, wenn sie sich selbst organisieren können. Partizipation gibt den Mitarbeitenden den nötigen Handlungsspielraum, um die Arbeit nach ihren Bedürfnissen zu gestalten und sich auch persönlich weiterzuentwickeln.
Die Umstellung auf solche partizipativen, sich selbst organisierende Modelle ist nicht immer ganz einfach und fordert sowohl die Mitarbeitenden als auch die Führungspersonen. Wenn die Mitarbeitenden nicht über die nötigen Fähigkeiten im Bereich Selbstmanagement verfügen, kann zu viel Handlungsspielraum auch überfordern.

Die Handlungsfelder, die Sie skizzieren, haben oft mit der Betriebskultur zu tun. Entsprechend anspruchsvoll ist die Umsetzung?
Anpassungen bei der Betriebskultur erfordern Zeit und Musse. Erfolge stellen sich nicht von heute auf morgen ein. Die Umsetzung der Massnahmen ist zudem auch recht aufwendig, man benötigt, wie ich bereits erwähnt habe, gewisse personelle und finanzielle Ressourcen. Solche Anstrengungen lohnen sich aber immer. Aus Erfahrung wissen wir, dass der Return on Investment (ROI) im Betrieblichen Gesundheitsmanagement zwischen eins zu drei und eins zu fünf liegt.


Unsere Gesprächspartnerin

Nina Zumstein, 40, ist Projektleiterin Betriebliches Gesundheitsmanagement bei der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz. Sie hat ein «Master of Science»-Studium in Arbeits- und Organisationspsychologie absolviert.

Foto: Gesundheitsförderung Schweiz