PSYCHISCHE GESUNDHEIT | Die Fluchtgeschichte von Anna und Bogdan Motruk

18.07.2022 Claudia Weiss

Die Geschwister Anna und Bogdan Motruk aus der Ukraine leben seit März 2022 in der Dachwohnung unserer Redaktorin Claudia Weiss in Bern. Die 25-jährige Anna hat inzwischen eine eigene kleine Wohnung zur Untermiete gefunden, weil die zwei Schlafzimmer auf Dauer zu eng wurden. Die beiden erklärten sich zu einem ausführlichen Interview bereit, und sie trugen auch Fotos und kurze Videosequenzen bei, die sie entweder unterwegs gefilmt oder bei anderen Mitgliedern der Telegram-Gruppe organisiert hatten. Allfällige Ungenauigkeiten bei den Antworten sind auf die Übersetzung zurückzuführen: Obschon beide schon sehr gut Deutsch gelernt haben, wurde das Interview grossteils mit Hilfe von Übersetzungs-Apps durchgeführt.

Vor zwei Monaten hat der 15-jährige Bogdan Motruk sein 9. Schuljahr an der Ukrainischen Schule abgeschlossen. Online. Denn er lebt seit dem 17. März 2022 in Bern. Seither hat er vormittags die Schweizer Integrationsklasse besucht und eifrig Deutsch gelernt, nachmittags hatte er bis zum Schuljahresende online mit seiner ukrainischen Klasse mitgemacht und seine Aufgaben erledigt. Ende Mai hätte er normalerweise eine Zeugnisfeier mit der ganzen Schule erlebt, danach hätten die dreimonatigen Sommerferien angefangen. Eine Zeit, auf die er sich wie alle anderen Kinder und Jugendlichen jedes Jahr wahnsinnig freute: Zeit, mit seinen besten Freunden Anton und Dimitri draussen zu sein. Zeit, mit der Familie nach Odessa ans Meer zu reisen. Zeit, als normaler Teenager den Sommer zu geniessen.

Diesmal ist alles anders: Statt einer feierlichen Übergabe des Jahreszeugnisses gab es einen virtuellen Klassenabschluss, bei dem alle Schülerinnen und Schüler online ihr Portfolio mit Fotos aus ihrem jeweiligen Gastland zeigten. Bogdans Schwester Anna hatte ihn bei einem Ausflug vor dem Genfer Jet d’Eau und dem UNO-Gebäude fotografiert: Das sind Wahrzeichen, die man in der Ukraine kennt. Das Schulzeugnis wurde an die Familienadresse in Winnitsya geschickt, sein Vater Aleksander hat es aus dem Briefkasten geholt und bewahrt es auf. Er ist in der Ukraine geblieben: Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen, damit sie nötigenfalls in die Armee eingezogen werden können. Stattdessen muss Vater Aleksander, Bäcker in einer Grossbäckerei, die Versorgung aufrechterhalten. Er bäckt täglich 4000 Tonnen Brot und verteilt sie an die Lieferanten für die Zivilbevölkerung und an die speziell ausgerüsteten Lieferwagen des Militärs. Nach der Arbeit hütet er das Haus und schaut zu den Tieren der Familie, Katze «Orange» und Hund «Chessy».

Von ihnen allen mussten sich Bogdan und seine Schwester Anna am 4. März 2022 trennen: An diesem Tag brachte Vater die Familie mit dem Auto nach Mohyliw-Podilskyj an die Grenze von Moldavien, setzte sie dort ab und fuhr alleine wieder nach Hause zurück. Bogdan, seine Schwester Anna und seine Mama Liudmyla Chumak hingegen haben ihr bisheriges Leben hinter sich gelassen und sich auf eine zweiwöchige Reise durch Moldawien nach Rumänien, Polen, Ungarn und Österreich in die Schweiz gemacht. Auf in ein unbekanntes Leben, ein Leben, das nicht ihres ist.


Wie es dem 15-jährigen Bogdan Motruk und seiner 25-jährigen Schwester Anna Motruk dabei psychisch geht, erzählen sie im Interview:


Anna und Bogdan, ihr lebt jetzt seit vier Monaten in Bern. Wie geht es euch?

Bogdan: Ich bin ein bisschen müde, ich hatte in den letzten Wochen eine intensive Zeit mit Deutschlektionen in zwei Klassen zugleich und musste viele Aufgaben machen. Ansonsten versuche ich, einfach im Moment zu leben: Inzwischen haben auch in der Schweizer Schule die Sommerferien angefangen, und ich treffe meine neuen Freunde aus der Integrationsklasse oder fahre mit dem Fahrrad ins nahegelegene Schwimmbad. Vielleicht finde ich sogar einen Sommerferienjob.

Anna: Ich fühle mich viel besser als vor vier Monaten. Aber ich denke oft an die Ukraine und die Leute dort, und als ich in den Nachrichten sah, wie die Leute in Mariupol in ausgebombten Häusern lebten, fühlte ich mich immer noch schlecht. Das ist der Survivor-Effekt: Ich fühle mich schuldig, weil ich ausgehe, Kaffee trinke und ein normales Leben führe. Das ist sehr beklemmend. Psychologisch gesehen habe ich mir seit dem Krieg sozusagen verboten zu leben, Spass zu haben, normale alltägliche Dinge zu tun. Und ich habe mich geschämt, weil ich in Sicherheit bin, während es immer noch Menschen gibt, die in Luftschutzkellern leben.


In Bildern

Anna und Bogdan Motruk ihre Flucht aus der Ukraine und die Ankunft in der Schweiz erlebten, wie es ihnen hier geht und was sie beschäftigt.



Was war bisher für euch der schwierigste Moment seit Kriegsbeginn?

Bogdan: Als ich wusste, dass wir definitiv gehen. Und als ich Abschied nehmen musste von meinem Vater und von meiner Freundin Anastasja, die mit ihren Eltern nach Polen flüchtete.

Anna: Meinen Vater zu verlassen. Und einen Schritt in ein komplett neues Leben zu wagen, den Schritt ins Ungewisse. Das war enorm beängstigend.


Welche Gedanken gehen einem durch den Kopf, wenn man zwei Stunden Zeit hat, um einen Koffer zu packen?

Bogdan überlegt und zuckt dann etwas ratlos die Schultern.

Anna lächelt und erklärt: Wahrscheinlich hat mein Bruder gar so nicht viel über solche Fragen nachgedacht. Und ich dachte vor allem daran, meinen Reisepass und einige Medikamente mitzunehmen, nur für den Fall der Fälle. Den gesamten Schmuck und das Geld hatten wir in der Wohnung verpackt und verstaut. Für mich packte ich nur einen Koffer, ein paar Pullover und Hosen und eine Zahnbürste. Ich machte mir vor allem Sorgen, ob es einen Evakuierungszug geben würde. Und ob es uns gelingen würde, rechtzeitig wegzukommen. Ich hatte in den Nachrichten gelesen, dass in Cherson in der Westukraine bereits Gebiete besetzt waren und die Flaggen gegen russische Flaggen ausgetauscht wurden. Deshalb hatte ich furchtbare Angst, dass wir besetzt werden würden – Angst vor Schikanen, körperlicher Gewalt und all den Schrecken des Krieges.


Du hattest ja bis dahin noch in Odessa in deiner Wohnung gelebt…

Anna: Ja, ich hatte am 27. Februar noch gearbeitet, als mich meine Mutter anrief und sagte es sei Krieg und ich solle sofort nach Hause kommen. Aber erst, als ich in der Strasse vor meiner Wohnung plötzlich vor einem Panzer stand und keine Ahnung hatte, ob es ein russischer Panzer ist oder ein ukrainischer, wurde mir richtig bewusst, dass Krieg ausgebrochen war. Es zeigte sich zwar zum Glück, dass es ein ukrainischer Panzer war, aber die Begegnung war dennoch unheimlich. Den ersten Evakuierungszug am Morgen des 28. Februar hatte ich schon verpasst, aber in den Nachrichten der Telegram-Gruppen erfuhren mein Vater und ich, dass abends zwei weitere Evakuierungszüge ab Odessa fahren würden. Sie sagten, dies könnte der letzte Nahverkehrszug sein, weil es in der Nähe von Odessa bereits besetzte Gebiete gäbe. Und sie warnten, die Russen könnten jeden Tag kommen, um unsere Stadt zu besetzen, und dann gäbe für uns keine Möglichkeit mehr, sie zu verlassen. Deshalb bestieg ich am 28. Februar in Odessa den Evakuierungszug Richtung Lwiw, der schliesslich um 22 Uhr abends mit sechs Stunden Verspätung abfuhr: Zuerst hatten wir lange auf den Zug gewartet, dann sassen wir lange im stehenden Zug, weil uns gesagt wurde, der Zug könne jederzeit abfahren, falls Odessa aus der Luft bombardiert würde. Am Morgen des ersten März stieg ich am Bahnhof Winnitsya aus.


Dann musstet ihr aber auch aus Winnitsya fliehen. Wie habt ihr eure Flucht erlebt?

Anna: Zuerst dachten wir, in dieser Umgebung seien wir ziemlich sicher. Dann aber hiess es, die Situation in Transnistrien könnte eskalieren und es könnte eine zweite Front von Moldawien aus geben. Deshalb beschlossen wir, unser Land zu verlassen. Zwei Evakuierungszüge fuhren nach Polen, einer von ihnen nach Ivano-Frankiwsk, diesen wollten wir nehmen und buchten sofort ein Ticket. Am 4. März brachte uns Papa mit dem Auto nach Mohyliw-Podilskyj an der Grenze zu Moldawien, wo wir den Evakuierungszug besteigen wollten: Es gab keine anderen Verkehrsmittel als Privatwagen. Dort umarmten wir einander, dann marschierten Mama, Bogdan und ich mit unseren Rucksäcken und Koffern über die Brücke des Flusses Dnjestr über die Grenze nach Moldawien. Wir winkten Papa noch einmal zu, er ging zum Auto und fuhr nach Hause zurück, wir gingen weiter zum Zug. Das war der schlimmste Moment unserer Reise. Im Evakuierungszug konnten wir wenigstens einen Platz in einem der übervollen Abteile ergattern. Das war sehr seltsam, weil wir keine Ahnung hatten, wo wir landen würden. Während der Fahrt tauschte ich ständig mit meinen Kolleginnen und Freunden Telegram-Nachrichten aus, weil wir versuchten, voneinander herauszufinden, wer wohin fuhr.

Bogdan: Ich liebe das Zugfahren, deshalb fand ich die Fahrt trotz allem irgendwie auch interessant. Ich schaute die Landschaften an und beobachtete morgens um sechs Uhr den Sonnenaufgang, der in all dem Schrecken sehr schön war.


Ihr seid zwei Wochen lang mit dem Zug von der Ukraine in die Schweiz gefahren: War die Reise psychisch sehr belastend, oder wart ihr eher konzentriert auf praktische Fragen?

Anna: Beides. Wir waren erleichtert, weggekommen zu sein. Aber nach einer Weile begannen wir, uns praktische Fragen zu stellen: Wir waren einfach weggelaufen und hatten nicht einmal darüber nachgedacht, wo wir landen würden, weil wir einfach irgendwohin wollten, wo es sicherer ist. Erst, als wir auf rumänischem Gebiet angekommen waren, überlegten wir uns, in welches Land wir als nächstes gehen sollten – wir haben keine Verwandten im Ausland.


Unterwegs musstet ihr Nahrung und Schlafgelegenheiten finden – wie habt ihr das gemacht?

Anna: Wir wurden überall von hilfsbereiten Menschen unterstützt. In der Stadt Iasi in Bukarest beispielsweise kamen wir am 5. März an und mussten dann lange auf ein Zugticket für die Weiterfahrt warten. Dort hatten freiwillige Helferinnen und Helfer im Einkaufszentrum ein riesiges Massenlager mit neuen Matratzen und Decken aufgebaut, am Boden fanden wir Steckdosen, und Regierung und Freiwillige sorgten für Essen. Es hatte enorm viele Leute, so dass es zwei Tage dauerte, bis wir Zugtickets ergattern konnten. Immer wieder versorgten uns hilfsbereite Menschen mit Essen und Trinken. Am 8. März kamen wir in Budapest, Ungarn, an. Dort waren sämtliche Unterkünfte besetzt, nirgendwo gab es mehr Platz für ukrainische Flüchtende. Zwar hatte jemand in der Nähe des Bahnhofs Busse aufgestellt, in denen wir hätten übernachten dürfen. Aber wir hätten sitzend schlafen müssen, deshalb beschlossen wir, direkt nach München weiterzufahren. Schliesslich erhielten wir gratis Zugtickets nach München, nur für die Sitzplatzreservation mussten wir 3 Euro bezahlen.


Und damit konntet ihr bis in die Schweiz fahren?

Anna: Eigentlich war unser Ziel Deutschland. Um fünf Uhr morgens erreichten wir die deutsche Grenze, ich kann nicht einmal sagen, welche Stadt es war. Alle Personen mit einem ukrainischen Pass wurden aus dem Zug geholt, und ihre Dokumente wurden überprüft. Damit wir es uns bequem machen konnten, bis der nächste Zug nach München fuhr, durften wir in einem der stehenden Züge warten, die zu einem «Wartebereich» umfunktioniert worden waren. Am 9. März kamen wir schliesslich in München an. Dort warteten wir bis zum 14. März und hofften auf eine Unterkunft. Aber schliesslich sagte man uns, es gebe kein einziges Zimmer mehr, alles sei komplett überfüllt wegen der grossen Welle von Ukrainern. Immerhin bekamen wir eine vorübergehende Unterkunft für fünf Tage. In dieser Zeit begannen wir zu überlegen, was wir als nächstes tun sollten, wohin wir uns wenden sollten und wo wir eine Möglichkeit zum Bleiben finden könnten? Da wurde uns bewusst, dass wir weder eine Ahnung hatten, wohin wir gehen sollten, noch wie wir überhaupt dorthin gelangen könnten.


Also seid ihr eher zufällig in Bern gelandet?

Anna: Ja, in dieser Zeit schrieb mir meine Freundin, sie sei in einem Aufnahmezentrum in Boudry NE untergebracht und es sei schön dort. Deshalb beschlossen wir, ebenfalls dorthin zu fahren. In München verpassten wir den direkten Zug nach Zürich und landeten zunächst in St. Margrethen, wo wir ein ukrainisches Ehepaar trafen und gemeinsam den Zug nach Zürich und von da weiter nach Bern suchten. Als wir endlich am Bahnhof Bern ankamen, war unsere Mama so erschöpft, dass sie sich weigerte, an diesem Tag noch einen weiteren Zug zu besteigen. Wir meldeten uns beim Infopunkt und erklärten, dass wir Hilfe brauchen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sekretariats für Migration SEM nahmen uns in Empfang. Sie erklärten uns, wie wir mit dem Bus Nummer 19 an die Morillonstrasse gelangen können, wo wir uns registrieren und für den Schutzstatus S anmelden mussten. Anschliessend meinten die Mitarbeitenden des SEM, wir würden es an diesem Abend nicht mehr nach Boudry schaffen. Sie fragten, ob wir in Bern bei jemandem übernachten könnten. Als wir verneinten, sagten sie, wir könnten in einer Herberge in der Nähe übernachten, dem Hostel 77.


Welche Gedanken gingen euch durch den Kopf, als ihr in Bern in die Flüchtlingsunterkunft gekommen seid?

Anna: Bern war zumindest eine vertraute Stadt, deren Namen wir schon einmal gehört hatten! Aber wir machten uns innerlich auf alles gefasst, während wir auf den nächsten Tag und auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des SEM warteten. Aber wir wollten immer noch nach Boudry weiterfahren, wo es offenbar Platz gab.


Und dann kam alles anders…

Anna: Als wir am nächsten Tag sagten, dass wir nach Boudry wollten, überredeten uns die Mitarbeitenden de SEM, doch besser in Bern zu bleiben – Bern sei sehr schön und besser als Boudry. Und sie hätten für uns eine Unterkunft gefunden. Allerdings haben wir gar nicht wirklich verstanden, was sie von uns wollten: Wir dachten, wir würden in einem Hostel oder in einem Gebäude mit vielen Menschen wohnen, einem Einkaufszentrum beispielsweise oder einem Fitnessstudio. Aber dann erklärte man uns, wir könnten bei einer Schweizer Familie wohnen. Wir waren sehr angenehm überrascht, dass Fremde bereit waren, uns aufzunehmen, und freuten uns sehr.


Aber man fühlt sich wahrscheinlich seltsam, wenn man weiss, dass man in eine Wohnung zieht zu jemandem, den man überhaupt nicht kennt…

Anna: Am Anfang war es verwirrend und aufregend, vor allem, da wir nicht viel Geld dabei hatten. Wir wussten überhaupt nicht, was für Leute wir besuchen würden, aber wir waren froh, dass sie bereit waren, uns ein Bett und eine Unterkunft zu geben. Das war wahrscheinlich die beste Nachricht zu diesem Zeitpunkt, denn wir hatten gesehen, wo die Ukrainer sonst untergebracht worden sind, und waren auf alles vorbereitet. Deshalb waren wir froh, dass die Schweizer bereit waren, uns mit ihrer Gastfreundschaft aufzunehmen.


Ich stelle mir das schwierig vor, wenn man die Sprache und die Bräuche der Gastgeber nicht kennt.

Anna: Ja, anfangs hatten wir Angst, euch zu beleidigen oder etwas falsch zu machen. Wir kannten die Sitten und die Sprache nicht. Das war für uns die grösste Schwierigkeit: Wenn man Gefühle mitteilen möchte, es aber wegen der Sprachbarriere nicht kann.


Was vermisst ihr am meisten in der Ukraine?

Bogdan: Meine beiden besten Freunde Anton und Dima, also Dimitri. Wir kennen uns schon sehr lange und haben viel zusammen erlebt, jetzt bin ich in der Schweiz und die beiden sind in Winnytsia geblieben. Ich vermisse sie sehr.

Anna: Meinen Vater und meine Grossmutter. Und mein ganz normales Leben vor dem Krieg, als ich in Odessa in meiner eigenen kleinen Wohnung lebte und eine Stelle als Filialleiterin der A-Bank hatte, mein eigenes Geld verdiente und Freunde treffen konnte.


Gibt es Sachen, die trotz eurer schwierigen Situation hier einfacher sind als in der Ukraine?

Bogdan: Der Deutschkurs hat ein interessantes Lernsystem: Man bekommt einen Bogen mit Aufgaben und kann diese einzeln durchgehen und beantworten, was man bereits verstanden hat. Und dann kann man im eigenen Tempo weiterarbeiten. Das gefällt mir.

Anna: Ich finde das Sprachenlernen sehr interessant und einfach zu merken. Als ich früher in der Schule Sprachunterreicht hatte, erlebte ich unglücklicherweise einen Lehrer, der die Kinder schikanierte und über ihre Fehler lachte. Ich mag es sehr, dass wir hier unterstützt werden und die Möglichkeit haben, Fehler zu machen, und dass das hier normal ist: So hat man auch keine Angst vor Fehlern. Ausserdem finde ich den öffentlichen Verkehr wahnsinnig bequem und durchdacht, jedes Transportmittel fährt in 5, 15 oder 30 Minuten oder maximal einer Stunde, das ist sehr cool. Auch die bessere Verkehrssicherheit gefällt mir: Leider ist es in der Ukraine, besonders in Odessa, definitiv nicht sicher, Fahrrad zu fahren.


Was auf der anderen Seite findet ihr besonders schwierig am Leben in der Schweiz?

Bogdan: Deutsch! Und dann noch Berndeutsch! Ich hatte schon gelernt, was ein Gully ist, dann hörte ich von jemandem den Ausdruck «Senkloch» und brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, dass dies das schweizerische Wort für Gully ist.

Anna: Dass wir nicht wissen, was wir als nächstes tun und wie wir weiter planen sollen: Wo wir arbeiten, wohin wir gehen, um Spass zu haben, und wie wir genug Geld für das Allernotwendigste zum Leben verdienen können. Es ist so ein ähnliches Gefühl, wie ich es als Studienabgängerin von der Uni erlebte, bevor ich meine erste Anstellung erhalten hatte: Als könnte ich nicht mehr zur Schule gehen und wäre doch noch nicht bereit für einen Beruf.


Seid ihr denn momentan vor allem fokussiert auf Deutschlernen, Freunde finden, Arbeit suchen? Oder seid ihr ständig angespannt, weil ihr nie wisst, wie sich die Situation hier und in der Ukraine entwickelt?

Bogdan: Ich konzentriere mich jetzt auf die Schule, lerne Deutsch und bin froh, dass ich mein Hobby Volleyball hier auch pflegen kann. Aber ich verfolge die Entwicklungen und hoffe, bald in die Ukraine zurückkehren zu können.

Anna: Und was mich betrifft, verstehe ich mit Bedauern, dass sich die ganze Situation mit dem Krieg in der Ukraine sehr verzögert. Und obwohl ich das natürlich nicht gern glauben mag, zeigen leider alle analytischen Prognosen, dass sich der Krieg noch einige Monate, vielleicht ein Jahr hinziehen wird.


Wenn ihr eure Zukunft betrachtet: Was bereitet euch die grössten Sorgen?

Bogdan: Der Gedanke, dass ich vielleicht noch lange nicht in die Ukraine zurückkehren kann.

Anna: Wahrscheinlich die Erkenntnis, dass es kein altes Leben mehr geben wird. Und dass wir einen Schritt in die Sicherheit, aber ins Ungewisse gemacht haben.


Welche Gedanken tragen euch in dieser Zeit?

Bogdan: Dass ich vielleicht dennoch möglichst bald wieder mein Leben und meine Freunde in Winnitsya zurückbekommen kann und meine Freundin Anastasja wiedersehe.

Anna: Ich hoffte zuerst, es würde bald ein Friedensabkommen zwischen Russland und der Ukraine geben, so dass wir gar nicht lange hier sein müssten. Aber inzwischen ist mir klar geworden, dass bis dahin wohl noch viel Zeit vergeht. Je eher wir die Realität akzeptieren, desto besser für uns: Besser was das Erlernen der Sprache betrifft, das Kennenlernen des Landes und die Suche nach einem Arbeitsplatz. Die Ukraine ist im Moment nicht sicher. Ich verfolge immer noch die Nachrichten und Ereignisse, aber ich hin nicht mehr ganz so besorgt wie am Anfang: Manchmal lese ich ein paar Tage lang keine Nachrichten, weil sie psychisch belastend sind. Das hilft mir, dass ich mich jetzt viel besser fühle: Ich schäme mich nicht mehr und fühle mich nicht mehr unwohl, weil ich in Sicherheit bin. Ich habe jetzt verstanden, dass dies normal ist.