Politische Partizipation will gelernt sein

13.12.2023 Christian Bernhart

Sie wollen mehr am politischen Leben teilhaben, dafür sprechen sich zwei Frauen und zwei Männer des PTA-Wohnheims La Neuveville BE aus. «Wieso haben die Grünen nicht mehr Stimmen erhalten?», fragt etwa Pia Schneeberger. «Der Bundesrat sollte an einer Landsgemeinde gewählt werden», schlägt Heinz Wüthrich vor. «Es ist Zeit, dass die Leute mehr Sorge zur Natur tragen», fordert Stefan Haldimann.

Auf Einladung des Schreibenden tauscht sich eine Gruppe von Bewohnerinnen und Bewohnern des PTA-Wohnheims über Unstimmigkeiten aus, die sie im politischen Alltag erleben. Ihre Erfahrungen, Bedürfnisse und Wünsche äussern sie gegenüber dem Magazin ARTISET mit einer Selbstverständlichkeit, als würden sie ganz regulär an der Gesellschaft teilhaben können, als ob die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in der Schweiz längst umgesetzt worden sei.

Die Eidgenössischen Wahlen vom Sonntag 22. Oktober kommen alsbald zur Sprache. Die Enttäuschung darüber, dass ihre Kandidierenden der Grünen Stimmen verloren und ihre Anliegen für eine intakte Umwelt nicht durchgedrungen sind, werden kommentiert und hinterfragt. Stefan Haldimann (52), der in seinen ersten Voten noch um Worte gerungen hat, findet am Ende des stündigen Gesprächs fadengerade zu einer stimmigen Interpretation und einem Appell: «Es haben zu wenig Leute gewählt. Ich finde, wir sollten mehr für die Umwelt machen. Wir erleben ja die Klimaveränderung.» Dazu erwähnt er den Dächer abdeckenden Sturm in La Chaux-de-Fonds vom Juli und folgert: «Es ist wirklich Zeit, dass es ein Umdenken gibt, dass die Leute mehr Sorge zur Natur tragen. Dazu ist es mehr als fünf vor zwölf.» Auf seine Seite schlägt sich Heinz Wüthrich (60). «Ich habe der Grünen Barbara Schwickert wegen ihres Engagements zum Solarpark meine Stimme gegeben», erklärt der ehemalige Magaziner, um resigniert festzustellen: «Leider wurde sie aber nicht in den Nationalrat gewählt.»

Politische Rechte für alle 

Das politische Interesse kommt nicht von ungefähr. Im Wohnheim in La Neuveville BE, in dem 45 erwachsene kognitiv und mehrfach beeinträchtigte Menschen in Wohngruppen leben, gehören die Bestrebungen, alle Bewohnerinnen und Bewohner zu befähigen, ihre Rechte im selben Masse wie Menschen ohne Behinderungen ausüben zu können, zu einem langfristigen Projekt. Um ihnen zu ihren Bürgerrechten, den politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechten im Sinne der ­UN-BRK zu verhelfen, hatte vor zwei Jahren Kay Mattli (28) im Rahmen seiner Diplomarbeit als Sozialpädagoge Massnahmen eingeleitet und zunächst ein Defizit festgestellt: «Ich habe gesehen, dass verschiedene Heimbewohnerinnen und Heimbewohner keine Abstimmungs- und Wahlunterlagen erhalten.» Darunter befanden sich zwar auch Bewohnende, die wegen umfassender Beistandschaft diese gemäss Gesetz nicht erhielten. Doch nicht nur. Mattli spricht von ausführlichen Abklärungen bei den Beiständen, die dazu nötig waren. Zudem sei er sich in Übereinstimmung mit Heimleiter Mark Widmer bewusst gewesen, dass Abstimmungsunterlagen allein Menschen mit Behinderung nicht befähigten, ihre politischen Rechte auszuüben, zumal die meisten von ihnen seit Jahren ihr Leben ohne politische Meinungsbildung verbracht hatten. 

Diskussion im Abstimmungsstudio

Zur politischen Meinungsbildung führte das PTA-Wohnheim deshalb bis jetzt zwei Abstimmungsstudios durch: zur Abstimmung über die Massentierhaltungsinitiative und zur Erhöhung des AHV-Alters für Frauen vom 25. September 2022 das erste Treffen und ein zweites Treffen vor dem Wahlsonntag vom vergangenen 22. Oktober. Daran teilgenommen haben immerhin 5 bis 6 Personen. Am Abstimmungsstudio vor dem Wahlsonntag wurde deutlich, dass es eine Herausforderung bedeutete, sich zwischen den vielen Parteien und Kandidierenden für den National- oder Stände­rat zu entscheiden. «Ob wir dann in Zukunft abstimmen müssen?», lautete deshalb eine besorgte Frage. Dazu hielt Heimbewohner Haldimann eine luzide Antwort bereit, als hätte er längere Zeit politischen Unterricht genossen: «Wir sind dazu nicht verpflichtet, aber es gehört zu den fundamentalen Rechten der Schweizer Bürgerinnen und Bürger, abstimmen und wählen zu können.»

Schliesslich folgte eine Zehnergruppe der PTA-Heimbewohnerinnen und -bewohner der Einladung am 18. September ins Bundeshaus, wo sie auf der Zuschauertribüne die Ratsdebatten verfolgten und sich mit alt Ständerat Hans Stöckli zu einer Diskussion trafen. «Diese Begegnung hat mir sehr gut gefallen, ich würde wieder daran teilnehmen», sagt Gianna Dietz (36). Und Pia Schneeberger (59) erinnert sich, wie sie bei der Begegnung mit Stöckli immer noch mit der Erhöhung des Rentenalters für Frauen haderte. 

«Wir sind zwar nicht dazu verpflichtet, aber es gehört zu den funda­­mentalen ­Rechten der Schweizer Bürgerinnen und Bürger, ab­stimmen und wählen zu können.»
Stefan Haldimann, Bewohner des PTA-Wohnheims

Mehr behindertengerechte Einrichtungen 

Was an diesem einstündigen Gespräch auffällt, sind nicht nur die Fragen zum gesellschaftlichen Leben. Die Teilnehmenden zeigen auch offen, wo sie sich mehr Engagement in der Gesellschaft wünschen und in welchen Gebieten sie sich benachteiligt fühlen. Pia Schneeberger, die in der Betriebsküche des PTA-Wohnheims tätig ist, echauffiert sich über ihre sommerlichen Ausflüge nach Biel: «Es gibt in der Stadt kaum Invaliden-WCs, und auch die Trottoirs sind bei Weitem nicht alle rollstuhlgängig.» Sie spreche aus Erfahrung. Ohne eine geeignete Toilette gefunden zu haben, habe sie warten müssen, bis sie wieder zu Hause war. In Twann, so stellt sie befriedigt fest, sei man endlich daran, den Bahnhof behindertengerecht umzubauen.

«Mir geht es vor allem um die UN-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz noch nicht umgesetzt hat, obschon sie 2014 das Abkommen unterzeichnet hatte», begründet Stefan Haldimann seine politische Motivation. ­Darüber hätten sie in der Werksiedlung Renan im Berner Jura ­gesprochen und gefordert, dass alle Menschen gleichermassen teilhaben sollen an der Arbeit, beim Wohnen und eben auch in der Politik. 30 Jahre hatte Haldimann in Re­nan gelebt, bevor er vergangenen Sommer ins PTA-Wohnheim nach La Neuveville umzog.

Heime sollten in der Öffentlichkeit präsent sein

Die politische Forderung der Teilhabe erhält für Pia ­Schneeberger eine wichtige Bedeutung im Hinblick auf das geplante Dorfprojekt PTA-Village, wo dereinst Wohnraum, Arbeitsplätze und Freizeitangebote für Menschen mit und ohne Behinderung entstehen sollen. «Alle Heime», so Schneeberger, «sollten für solche Anliegen mehr Gewicht erhalten und mehr in der Öffentlichkeit präsent sein.»

 Schliesslich dreht sich die Diskussion um die Möglichkeiten, mitzubestimmen. Das Leben im Wohnheim PTA («Pfadi trotz allem») mit seinen Wurzeln in der Pfadfinderbewegung bringt es mit sich, dass ein grosser Teil der ­Bewohnenden Umweltanliegen als wichtig empfindet. Enttäuschungen in dieser Hinsicht musste Heinz Wüthrich schon in den 80er Jahren erfahren. Damals hätte sich Biel zweimal für den Seeuferweg Beau-Rivage ausgesprochen. Dann sei lange nichts passiert. Für ihn war alsbald klar: «Die machen sowieso, was sie wollen, und ich bin nicht mehr abstimmen gegangen.» Am nationalen Wahlsonntag im Okto­ber hat er einen neuen Anlauf genommen und Barbara Schwickert – leider vergeblich – die Stimme gegeben.

Wachsendes Interesse 

Von Unmut gegenüber der Politik ist nach bald einer ­Stunde aber nichts zu spüren. «Wann sind die Wahlen, um den Berset abzu­lösen?», wirft Schneeberger in die Runde. «Am 13. Dezember», sagt jemand. «Wieso können wir hier nicht wählen?», fragt Wüthrich und schlägt vor: «Der Bundesrat sollte an der Landsgemeinde vom Volk ­gewählt werden.» Wie dem auch sei, vor jeder Abstimmung wünschen sich die Teilnehmenden  die Vorbereitung im internen Wahlstudio. Einen Stimmungsumschwung zugunsten von Abstimmungen hat Haldimann erlebt. Da er in der internen Ausbildung als Hauswartassistent gefordert ist, liess er seine Abstimmungs- und Wahlunterlagen zurückstellen in der Meinung, die politische Auseinandersetzung würde ihn neben der Ausbildung überfordern. Jetzt möchte er die Unterlagen wieder erhalten.

Quasi als Seismograf der Stimmung an diesem politischen Austausch erweist sich Gianna Diez. Weil sie sich an der Diskussion nicht beteiligen wollte oder konnte, gibt sie anfänglich zu verstehen, sich unwohl zu fühlen. Doch verlassen will sie die Runde nicht. Wohl auch, weil die Argumente vertieft werden und die vier Debattierenden nach und nach zu immer pointierteren Stellungnahmen finden. «Wollt ihr vor den nächsten Abstimmungen und Wahlen wiederum in einer heiminternen Austauschrunde mitmachen?», fragt Heimleiter Widmer. «Mich würde es wieder interessieren», antwortete Dietz prompt, und unisono lautete die Meinung: «Im Heim jedes Mal ein Wahlstudio, das wird sicher nicht langweilig.»