QUALITÄT ERZIELEN | Qualität muss sich am Wohl der Kinder ausrichten

31.10.2025 Salomé Zimmermann & Sarah Eggo

Kindern ein sicheres und stabiles Wohnumfeld bieten: Das ist das Ziel des «Kompetenzzentrums Jugend und Familie Schlossmatt» ­in Bern. Und darauf richtet Leiterin Esther Wermuth alle Qualitäts­bemühungen aus. Sie stützt sich dabei auch auf die transdis­ziplinären Qualitätsstandards, die von der Hochschule Luzern entwickelt worden sind und seit 2023 in der Praxis umgesetzt werden, im stationären und im ambulanten Bereich.

Qualität ist ein weitläufiger Begriff und wird je nach Institution anders ausgelegt und anders gelebt. Das «Kompetenzzentrum Jugend und Familie Schlossmatt» in Bern ist eine grosse Institution und beschäftigt sich schon länger damit, was Qualität ausmacht und wie sie ausgestaltet werden kann. «Wir haben vor vielen Jahren definiert, was Qualität für uns bedeutet», sagt Esther Wermuth, Leiterin des Kompetenzzentrums Schlossmatt. «Und wir investieren viel, um unseren Qualitätsanspruch, der sich am Kindswohl ausrichtet, möglichst beständig und gut umzusetzen – über alle Personalwechsel und die Jahre hinweg», führt sie aus. Das theoretische Wissen sei bei den Mitarbeitenden von der Ausbildung her meistens vorhanden, die konkrete Umsetzung im Alltag müsse jedoch eingeübt und aufrechterhalten werden.

Klärung von Zuständigkeiten

Die Ausrichtung am Kindswohl bedeutet unter anderem, dass Esther Wermuth und ihre Mitarbeitenden den Fokus immer wieder auf die Stärken und Entwicklungen der Kinder und Jugendlichen richten, um nicht in die Defizitorientierung zu verfallen.

Wichtig ist auch, sich vor Augen zu halten, dass eine Institution wie die Schlossmatt sich im steten Austausch mit Behörden, mit Fachstellen, mit Eltern und anderen Beteiligten befindet. Deshalb ist die Kommunikation entscheidend, damit die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten klar sind und die Beteiligten die Entscheide mittragen.

«Transparenz ist ein weiteres wichtiges Stichwort und auch die Berücksichtigung der unterschiedlichen Sichtweisen, gerade wenn unfreiwillige Platzierungen vorgenommen werden müssen», so Esther Wermuth. Es ist ihr und ihren Mitarbeitenden ein grosses Anliegen, für Kinder und Jugendliche, die eine gewisse Zeit in der Schlossmatt verbringen, ein sicheres und stabiles Wohnumfeld zu bieten, bevor sie in ihr Herkunftsumfeld zurückkehren oder eine neue Lösung gefunden werden muss. Die Maxime der Heimleiterin ist, dass die Institution nicht das Problem ist, sondern Teil der Lösung.

Aktuelles Wissen vermitteln

Seit 2023 gibt es die sogenannten «Transdisziplinären Quali­tätsstandards für den Kindesschutz», an welchen sich Institu­tionen ausrichten können. Wie der Name schon sagt, führen diese Standards über die Fachgrenzen hinaus. Qualitätsstandards sind wichtig und nützlich, denn sie stützen sich auf die rechtlichen Grundlagen ab, beziehen wissenschaftliche Erkenntnisse mit ein und bilden die Werte und Normen einer Gesellschaft ab. «Dank der Qualitätsstandards ergibt sich ein gemeinsamer Orientierungsrahmen für alle Fachstellen, was die Entscheidungen und das Vorgehen erleichtert», führt Esther Wermuth aus.

Zudem: Wenn Standards definiert wurden, heisst das immer auch, dass vorher ein wichtiger Diskurs darüber geführt wurde. Und wie gelingt es, die Standards in der Praxis auch tatsächlich zum Leben zu erwecken und am Leben zu halten? «Im Kompetenzzentrum Schlossmatt pflegen wir eine gute Kultur und wir haben viel verschriftlicht», sagt Esther Wermuth. Es gebe etwa arbeitsspezifische Leitfäden, aber auch solche zum Umgang mit Sucht, Sexualität, Konflikten und Trauma­pädagogik. So haben neue Mitarbeitende stets Zugang zum aktuellen Wissen und zur Handhabung mit schwierigen Situationen. Neben diesen Grundlagen verwendet das Kompetenzzentrum Schlossmatt das System der kooperativen Prozessgestaltung, welches die Sichtweisen aller Beteiligten aufzeigt. Denn: Es sind viele Fachstellen und viele unterschiedliche Perspektiven involviert.

Aus einem Qualitätsdialog werden Standards

Der Kindesschutz in der Schweiz ist vielfältig. Unterschiedliche gesetzliche Grundlagen, kantonale Zuständigkeiten und institutionelle Traditionen führen zu einer fragmentierten Praxis. Die transdisziplinären Qualitätsstandards für den Kindesschutz verbinden Fachpersonen aus verschiedenen Bereichen. Entwickelt wurden sie von der Hochschule ­Luzern (HSLU) im Auftrag der Interessengemeinschaft für Qualität im Kindesschutz (IGQK), von Unicef Schweiz und Liechtenstein, dem Kinderschutz Schweiz und vom Branchenverband Youvita.

Der Ausgangspunkt war der 1. Nationale Qualitätsdialog im Jahr 2018. Fachpersonen aus Praxis, Wissenschaft und Verwaltung kamen damals überein, dass es einheitliche Standards braucht, um Qualität im Kindesschutz zu sichern. Unter der Leitung der IGQK entwickelte eine Arbeitsgruppe erste Grundsätze, die später von der Hochschule Luzern in einem mehrstufigen Forschungsprozess überprüft, verdichtet und empirisch untermauert wurden. Bei der Entwicklung wurden zahlreiche Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen sowie Selbstbetroffene und Eltern mit einbezogen.

Das Ergebnis ist ein Katalog von zwanzig transdisziplinären Qualitätsstandards, die auf drei zentralen Prinzipien beruhen: Partizipation, Orientierung am Kindeswohl sowie Fachlichkeit und Zusammenarbeit. Jeder der zwanzig Standards ist konkret handlungsleitend aufgebaut: Er enthält eine ­Handlungsmaxime, die das Grundverständnis formuliert, Massstäbe, mit denen Fachpersonen ihr eigenes Vorgehen überprüfen können, und Empfehlungen für Organisationen, um Qualität strukturell zu verankern.

Reflexion und Austausch ermöglichen

Mit den transdisziplinären Qualitätsstandards verfügen Fachpersonen und Organisationen erstmals über ein gemeinsames Fundament, das Reflexion, Austausch und Weiter­entwicklung ermöglicht. Sie bieten eine Praxisorientierung, ohne die Komplexität des Kindesschutzes zu vereinfachen. Vielmehr machen sie Spannungen sichtbar und bearbeitbar – zwischen Schutz und Beteiligung, zwischen Kontrolle und Unterstützung. Die Standards werden stetig weiterentwickelt und in Qualitäts-Werkstätten und Qualitäts-­Dialogen reflektiert.
 


Interview mit  Ursula Leuthold

Im Gespräch unterstreicht Ursula Leuthold die Bedeutung der Standards. Sie ist Dozentin für Soziale Arbeit an der Hochschule Luzern und hat als Projektleiterin die ­Qualitätsstandard wesentlich mitentwickelt. Zudem ist sie Vorstandsmitglied der Interessengemeinschaft für Qualität im Kindesschutz (IGQK). Die Interessengemeinschaft engagiert sich für die Verbreitung der Standards.

Wieso braucht es die transdisziplinären Standards?

Ursula Leuthold: Kinder haben das Recht auf Schutz vor Misshandlung, Vernachlässigung oder schlechter Behandlung, ­solange sie unter der Obhut ihrer Eltern oder anderer für sie verantwortlicher Personen stehen (Art. 19 UN KRK). Der Kindesschutz ist das System, das dieses Schutzrecht gewährleisten soll. Es existieren bereits Standards für einzelne Prozesse oder Bereiche in diesem System. Demgegenüber bieten die Transdisziplinären Qualitätsstandards für den Kindesschutz einen Orientierungsrahmen für alle Fachpersonen, die die Unterstützung für Kinder, Eltern und Familien gestalten. Die Standards umfassen dabei die Schutz-, Beteiligungs- und Förderrechte des Kindes und bieten eine Möglichkeit, dass sich Fachpersonen untereinander verständigen können.

Was ist das Besondere an den transdisziplinären Standards?

Die transdisziplinären Qualitätsstandards für den Kindesschutz sind das Ergebnis eines intensiv geführten und empirisch abgestützten Fachdiskurses. Über hundert Personen aus der ganzen Schweiz beteiligten sich. Es waren Praktiker und Praktikerinnen aus dem freiwilligen, öffentlich-­rechtlichen, zivilrechtlichen und strafrechtlichen Kindes­schutz sowie Expertinnen und Experten aus Politik und Wissenschaft. Ein besonderes Augenmerk lag auf dem Einbezug der Betroffenen. Eltern, Care Leaver und Care Leaverinnen sowie Interessensvertretende brachten ihre Erfahrungen ein. Die Ergebnisse der Befragungen führten stufenweise zu Entwürfen der Standards. Für den fragmentierten Kindesschutz in der Schweiz liegen damit erstmals Qualitätsstandards vor.

Wie werden die Standards auf dem aktuellen Stand gehalten und weiterentwickelt?

Seit der Veröffentlichung lag der Fokus auf der Bekanntmachung in der Fachwelt. So diskutierte die Interessengemeinschaft für Qualität im Kindesschutz die Standards regional in Qualitäts-Werkstätten mit Fachpersonen aus unterschiedlichen Bereichen. Es hat sich zudem eine Qualitäts-Gruppe zum Thema gebildet. Erkennbar ist auch, dass Organisationen die Standards nutzen, um den ­Kindesschutz innerhalb der Organisation oder organisationsübergreifend zu verbessern. Die transdisziplinären ­Qualitätsstandards werden ausserdem in der Aus- und ­Weiterbildung von Fachpersonen eingesetzt. Für eine umfassende Weiterentwicklung und Aktualisierung braucht es das Engagement von übergreifenden Fachorganisationen wie die IGQK, Youvita und andere.
 


Sarah Eggo ist Fachmitarbeiterin von YOUVITA