SOZIALE UNTERNEHMEN | Flexible Begleitung in die Berufswelt

20.09.2023 Claudia Weiss

Jugendliche und Erwachsene mit besonderen Bedürfnissen in das Berufsleben begleiten: Das ist die Kern­kompetenz der Aargauer Firma Learco AG. Diese Aufgabe wird aber sehr schnell komplex, weil sich laufend neue Fragen stellen. Daher hat sich das Team von Learco darauf spezialisiert, laufend auch neue Lösungen zu finden.

Der Name Learco ist schnell erklärt: Er setzt sich aus den Worten «Lernen – Arbeiten – Coachen» zusammen. Was dahintersteckt, ist schon ein Stück komplexer. Denn Learco existiert nicht einfach, sondern entwickelt sich. Laufend. Allein in den Jahren seit dem 1. August 2019, als die vier Gründungsinstitutionen – Arwo Stiftung, Stiftung Domino, Stiftung Orte zum Leben und Stiftung Lebenshilfe – die nicht gewinnorientierte Aktiengesellschaft Learco mit Hauptsitz in Aarau gründeten, sind bereits etliche neue Zweige entstanden. Und bei Bedarf wachsen weitere. 
Wo also beginnen? «Unsere Kernkompetenz», fasst Geschäftsführerin Simone Silbereisen zusammen, «ist die Begleitung von Jugendlichen und Erwachsenen mit besonderen Bedürfnissen in die Berufswelt.» Grösste Auftraggeberin der Learco ist gegenwärtig die Invalidenversicherung (IV). Insgesamt 17 Coaches begleiten Jugendliche auf den drei Ausbildungsniveaus Praktische Ausbildung nach INSOS (PrA INSOS), Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest (EBA) und mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ). Die Lernenden absolvieren ihre Ausbildung teils in sozialen Institutionen, teils im regulären Arbeitsmarkt. Aus solchen Begleitungen ergeben sich immer wieder neue Fragen, und bei jeder Frage macht sich das Learco-Team daran, bedarfsorientiert nach Lösungen und ­Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen. Das jüngste Beispiel einer solchen Lösung entstand in Zusammenarbeit mit der Oberen Mühle Villmergen, einem neuen Partnerbetrieb: Gemeinsam mit den Verantwortlichen der Oberen Mühle schuf die Learco eine Lehrstelle für die neue Ausbildung «PrA Seniorenbetreuung». Diesen August hat die erste Lernende ihre Ausbildung angefangen. 

Hilfe bei Berufswahl und Lehrstellensuche

Seit zwei Jahren bietet Learco im Auftrag der IV neben den bisherigen beruflichen und Integrationsmassnahmen das Angebot «Berufsberatung und Begleitung» für Jugendliche mit Unterstützungsbedarf, die eine Regelschule besuchen, an. Die Berufsberaterin der Learco und die jeweiligen Coaches unterstützen sie bei der Berufswahl und bei der konkreten Lehrstellensuche. 

Gegenwärtig begleitet die Learco insgesamt 57 Lernende bei ihrer Ausbildung an geschützten Arbeitsplätzen oder im regulären Arbeitsmarkt. Parallel dazu begleitet das Team Personen beim Wiedereinstieg in die Arbeitswelt. Besonders beliebt, sagt Silbereisen, seien Wiedereinstiegsplätze im Kaufmännischen Bereich: «Diese Stellen sind jeweils im Handumdrehen besetzt.» Die kaufmännische Abteilung der Learco in Aarau bietet insgesamt 10 Plätze für IV-unterstützte Ausbildungen und Integrationsmassnahmen an. Aktuell werden sechs Lernende und eine Praktikantin auf EFZ- und EBA-Niveau ausgebildet. 

Im April 2021 startete Learco in Zusammenarbeit mit dem Amt für Wirtschaft (AWA) ein neues Angebot: Für sie unterstützen die Coaches Stellensuchende, die sich freiwillig bei der Stellensuche helfen lassen wollen. Ausserdem wird die Learco vom kantonalen Amt für Migration und Integration (MIKA) beigezogen, um bei Menschen mit Migrationshintergrund Potenzialabklärungen durchzuführen und sie entsprechend bei der Suche nach einer geeigneten Bildungsmassnahme oder Arbeitsstelle zu beraten. «Das sind zwei Nebenzweige, die sich unterwegs ergeben haben», sagt Simone Silbereisen. Die vielfältigen Aufgaben können dank den Coaches, die mehrheitlich in Teilzeit für Learco arbeiten, gut abgedeckt werden: «Bisher meldete sich auf jede neue Anfrage eine Person aus dem Team, die entsprechende berufliche Qualifikationen bieten kann.» Die Coaches, ausgebildet in Psychologie, Sozialpädagogik, Coaching, Pädagogik oder Berufsberatung, bringen ein breites Netzwerk im und rund um den Kanton Aargau mit und haben viel Erfahrung in Integration sowie Freude an der Suche nach unkonventionellen Wegen. Eine solche Begleitung dauert zwischen drei Monaten und mehreren Jahren. 

«Die KV-Stellen sind sehr beliebt, sie sind jeweils im Handumdrehen besetzt.»
Simone Silbereisen

2021 meldete sich Learco gleich auf zwei Ausschreibungen des Departements Bildung, Kultur und Sport des Kantons Aargau (BKS): Gesucht war je ein neues Angebot für ambulante Begleitleistungen im Bereich Arbeit und im Bereich Wohnen. Auch wenn das Wohnen bis dahin nicht zu den Kernkompetenzen gehörte, erhielt die Learco AG für beides den Zuschlag und bietet seit Januar 2022 auch Unterstützung beim selbstständigen Wohnen. Das ergebe durchaus Sinn, findet Patrick Roduner, denn Arbeiten und Wohnen seien im Alltag eng miteinander verknüpft: «Wer Unterstützung in der Ausbildung oder in der Berufswelt benötigt, bedarf oft auch einer Begleitung beim Wohnen, und umgekehrt möchte, wer immer selbstständiger arbeitet, oft gerne selbstständiger wohnen.» Der Bereichsleiter für selbstständiges Wohnen freut sich, Menschen in ihrer Selbstbestimmung zu fördern, und sagt, er habe anfangs nicht schlecht gestaunt: Die beiden Angebote stellen schweizweit eine wichtige Innovation dar. Dass Menschen mit einer ganzen IV-Rente im ersten Arbeitsmarkt begleitet werden können, macht den Kanton Aarau ausser­dem zum Pionier in Sachen Berufsintegration. 

Chance im regulären Markt

Simone Silbereisen ist von diesem neuen Angebot begeistert: «Wir haben keine zeitliche Begrenzung, und wir können alle so lange sorgfältig begleiten, wie es nötig ist.» Das eröffne völlig neue Möglichkeiten im regulären Arbeitsmarkt: «Für viele ist es enorm entlastend, den Schritt in den ersten Arbeitsmarkt oder ins selbständige Wohnen im Wissen zu wagen, dass sie dabei langfristig begleitet und unterstützt werden.»

Generell erlebt Silbereisen alle Ämter und zuständigen Stellen als «sehr unterstützend und lösungsorientiert». Auch seien erstaunlich viele Firmen bereit, ihr soziales Engagement wahrzunehmen und Personen mit besonderen Bedürfnissen einzustellen – allerdings nur zum effektiven Leistungslohn, während die IV zusätzlich die Rente für die Klientinnen und Klienten übernimmt. Allerdings ist auch in solchen Fällen oft die Kreativität des Learco-Teams gefragt: «Ein Lohn von 900 Franken für 80 Prozent lässt sich bei einigen Betrieben in kein Lohnsystem eingeben», erklärt Simone Silbereisen. «Also müssen wir auch hier eigene Lösungen finden.» 

Die Coaches arbeiten an fünf Standorten in Hausen, Lenzburg, Menziken und Wettingen sowie am Hauptsitz in Aarau. Diese vernetzte Arbeit findet Patrick Roduner äusserst motivierend, noch nie habe er mit so viel intrinsischer Begeisterung immer wieder nach Lösungen gesucht: «Das dynamische Umfeld und der regelmässige Austausch untereinander regen an, das eigene Handeln immer wieder zu reflektieren.» Ob im Bereich Arbeiten oder Wohnen, die Klientinnen und Klienten erhalten jeweils genau so viel Unterstützung wie nötig. «Einige benötigen regelmässige Begleitung», erklärt Roduner, «andere nur punktuelle Unterstützung. Bei einer Wohnbegleitung kann es manchmal nur um Unterstützung bei der Administration gehen, beispielsweise bei Fragen wie ‹Was mache ich jetzt mit dieser Zalando-Bestellung?›.» Und Hilfe bei der Stellensuche könne durchaus heissen, mal bei einer Firma anzuklopfen, auch wenn ein Stellenprofil nicht passe. Sei beispielsweise eine Stelle für Sanitärinstallateure ausgeschrieben, könnte es ja sein, dass zugleich eine Einsatzmöglichkeit beim Empfang geschaffen werden kann. «Das funktioniert tatsächlich manchmal – wir funktionieren als Türöffner und finden so immer wieder sehr individuelle Einzellösungen.» Wichtig sei: Beim Wohnen gehe es ebenso wie beim Arbeiten um ein Coaching, also eine Befähigung.

Den Schritt in den regulären Arbeitsmarkt wagen

Die Möglichkeit, ohne Risiko Schritte in den regulären Arbeitsmarkt zu wagen, ermöglichen Erfolgsgeschichten wie jene des 26-jährigen Sacha Rennhard: Nach einer Berufslehre als Unterhaltspraktiker EBA beim Paul Scherrer Institut und bei der Stiftung Domino schloss als er als Drittbester seines Jahrgangs mit dem Eidgenössischen Berufsattest ab. Sein Ziel lautet: «Weg von der IV!» Sacha Rennhard meldete sich deshalb 2022 als einer der Ersten für die Begleitung im ­ersten Arbeitsmarkt bei Learco. Im Sommer absolvierte er, begleitet von Simone Silbereisen, eine Schnupperlehre bei der Firma Antalis als Logistiker: Als Jobcoach unterstützte sie ihn und die Firma beim Ausarbeiten des Arbeitsvertrags, half mit, den Leistungslohn zu definieren, und begleitete ihn eng durch die Probezeit. Inzwischen treffen sich die beiden nur noch einmal pro Monat. Für Silbereisen ­­­ist das ideal: «So konnte ich Sacha Rennhard und die Antalis so viel coachen wie nötig.» 

Sie überlegt kurz, dann fasst sie zusammen: «Unser Ziel lautet: Jeder und jede ist am Ende an dem Ort, der für die Person passt: Beim Arbeiten und beim Wohnen – wir befähigen Menschen mit dem Ziel Selbstbestimmung.» Patrick Roduner nickt. Das breite Angebot mache Sinn, nicht alle seien im regulären Arbeitsmarkt glücklich. «Deshalb ist es gut, dass wir sehr individuell stützen und tragen können.» Learco wird sich dementsprechend in den nächsten Jahren ständig weiterentwickeln. Müsste man die ­Firma trotz ihren komplexen Strukturen mit einem einzigen Wort charakterisieren, könnte man dafür ein ebenso passendes Akronym kreieren wie für den Firmennamen: «Indyflex» – individuell, dynamisch, flexibel. 

 

Foto: Learco / Tibor Nad