Das Leben und das Lebensende gestalten

Gespräche, in denen Bewohnende gemeinsam mit einer Fachperson ihre Werte, Vorstellungen und Wünsche bezüglich künftiger medizinischer Entscheide zum Ausdruck bringen können, stärken die Selbstbestimmung und die Lebensqualität. Die Broschüre «Gesundheitliche Vorausplanung in Alters- und Pflegeheimen – Wegleitung zur Umsetzung» ist eine praktische Anleitung, um solche Gespräche zu führen.
«Es soll nicht mehr alles versucht werden. Wenn es zu Ende ist, dann ist das eben so»: Diese oder ähnliche Sätze fallen immer wieder in Pflegeheimen im Rahmen der Gespräche zur Gesundheitlichen Vorausplanung (GVP). Sie bringen den Wunsch der Bewohnenden am Lebensende zum Ausdruck, zum Beispiel auch jener 86-jährigen Frau, nennen wir sie Maria Wagner, die in einem kleinen Pflegeheim mit 36 Betten zu Hause ist.
Sie lebt mit einer beginnenden Demenz und ist vor drei Wochen gestürzt. Bei dem Sturz hat sie sich eine Kopfverletzung und mehrere Rippenbrüche zugezogen. Sie wünscht sich, bis zuletzt im Pflegeheim zu bleiben und dass ihre Kinder und Enkel sie nach wie vor regelmässig besuchen kommen. Ins Spital möchte sie nicht mehr eingewiesen werden.
Sie hatte nach dem Sturz ein Beratungsgespräch mit der Pflegefachperson, die in ihrem Heim für die Gesundheitliche Vorausplanung verantwortlich ist. Gemeinsam mit ihrer Hausärztin hat sie eine Woche später zudem eine Patientenverfügung und eine Handlungsanweisung zur Behandlungsintensität erstellt. Maria Wagner ist zufrieden, weil sie weiss, dass ihre Wünsche nun bekannt sind und respektiert werden, auch wenn sie selbst eines Tages nicht mehr auskunftsfähig wäre. Ihre Tochter ist erleichtert, weil sie weiss, worauf es ihrer Mutter ankommt. Und das Pflegeteam hat Klarheit, wie es im Ernstfall handeln soll: Es wird ganz im Sinne von Maria Wagner auf eine Überweisung ins Spital, inklusive intensivmedizinischer Massnahmen, verzichtet.
Gespräche auf eine strukturierte Weise führen
Die Gesundheitliche Vorausplanung ist ein strukturierter Prozess, der für alle Beteiligten, die Bewohnenden, ihre Angehörigen und die Pflegenden, eine grosse Entlastung bedeuten kann. Einen Nutzen haben alle Personen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer religiösen Zugehörigkeit oder ihrer Gesundheitskompetenz. Im Zentrum stehen Gespräche, in denen Bewohnende gemeinsam mit einer Fachperson ihre Werte, Vorstellungen und Wünsche in Bezug auf zukünftige medizinische Entscheidungen reflektieren und festhalten. Auch Angehörige können mit einbezogen werden, sofern die Bewohnenden dies wünschen. Die Gespräche bieten Raum, heikle Fragen oder unterschiedliche Sichtweisen, auch innerhalb der Familie, zu klären. Entscheidend ist zudem, dass die Behandlungswünsche sorgfältig dokumentiert und zentral digital abgelegt werden, damit sie im Notfall sofort zur Verfügung stehen.
Das bekannteste Instrument der Gesundheitlichen Vorausplanung ist die Patientenverfügung. Sie gibt Personen die Möglichkeit, ihre medizinischen Behandlungswünsche für den Fall festzuhalten, dass sie eines Tages nicht mehr selbst entscheiden können. Dabei gilt jedoch zweierlei: Eine Patientenverfügung erfordert Urteilsfähigkeit, und sie beruht stets auf Freiwilligkeit. Doch was geschieht, wenn eine Person nicht mehr auskunftsfähig ist, zum Beispiel infolge einer fortgeschrittenen Demenz? In dieser Situation übernimmt die vertretungsberechtigte, beziehungsweise nahestehende Person eine zentrale Rolle. Sie wird zur wichtigsten Ansprechperson für das Behandlungsteam, bestehend aus Pflegefachpersonen und der ärztlichen Fachperson. Gemeinsam wird versucht, den mutmasslichen Willen der betroffenen Person zu eruieren: Welche Vorstellungen zu medizinischen Massnahmen hat die Person früher geäussert? Welche Werte hat sie vertreten? Liegt eine Patientenverfügung vor, bietet sie dabei eine wertvolle Orientierung. Darauf aufbauend entsteht ein Behandlungsplan, der sich eng am mutmasslichen Willen und an den Bedürfnissen der betroffenen Person orientiert und die Umsetzung der medizinischen Massnahmen anleitet.
Praxisorientierte Broschüre als Wegleitung
Die Broschüre «Gesundheitliche Vorausplanung in Alters- und Pflegeheimen – Wegleitung zur Umsetzung» dient Pflegeheimen als praktische Anleitung für die schrittweise Einführung des Prozesses. Sie ist im Auftrag der nationalen Arbeitsgruppe Gesundheitliche Vorausplanung unter der Leitung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) entstanden. Die Wegleitung beschreibt das Wann, Was und Wie der Beratung und bietet Empfehlungen und Mustervorlagen, wie getroffene Vereinbarungen dokumentiert werden können.
Das erste Gespräch mit Bewohnerinnen und Bewohnern sollte bereits kurz nach dem Eintritt ins Heim stattfinden können. Danach werden Gespräche je nach Bedarf geführt. Um Selbstbestimmung und Lebensqualität zu stärken, empfiehlt die Wegleitung, den Bewohnerinnen und Bewohnern immer wieder solche Gespräche anzubieten, so etwa innerhalb der ersten sechs Wochen nach Heimeintritt, auf Wunsch der Bewohnenden oder der medizinisch vertretungsberechtigten Person, bei gesundheitlichen Veränderungen, neuen Diagnosen oder Erkrankungen mit begrenzter Lebenserwartung, nach einem Spitalaufenthalt,sowie mindestens einmal jährlich zur Überprüfung des aktuellen Willens. Nehmen die Bewohnenden das Angebot an, unterstützt sie die Wegleitung mit Leitfragen, die ihnen helfen, die eigenen Wünsche zu formulieren. Am Ende entsteht ein einheitliches Formular zur «gewünschten Behandlungsintensität im Heim und bei Notfallsituationen». Es hält die wichtigsten Entscheidungen übersichtlich fest und sorgt dafür, dass das Pflegeheim, der Rettungsdienst und das Spital im Ernstfall auf einen Blick informiert sind.
Die Qualität von Pflege und Betreuung wird gestärkt
Solche strukturiert geführten Gespräche erfordern spezifisches Fachwissen, kommunikative Kompetenzen und eine hohe Sensibilität für ethische Fragestellungen. Fachpersonen mit pflegerischer, psychosozialer oder medizinischer Grundausbildung können ein «GVP-Beratungsgespräch» in Pflegeheimen anbieten, sofern sie über eine spezifische Weiterbildung verfügen. So können beispielsweise Pflegende HF, FH oder Fachfrauen und Fachmänner Gesundheit mit Berufsprüfung die Weiterbildung absolvieren. Wichtig zu erwähnen ist, dass die GVP-Beratung auch von extern hinzugezogenen Fachpersonen durchgeführt werden kann. Stehen keine geschulten Personen zur Verfügung, sieht die Wegleitung den «GVP-Pflegedialog» vor: Eine Pflegefachperson mit Beratungskompetenz und entsprechendem Basiswissen führt dabei das erste Gespräch zu den Behandlungswünschen, während die behandelnde ärztliche Fachperson in einem zweiten Schritt die gewünschte Behandlungsintensität festlegt. Die Wegleitung empfiehlt, das GVP-Beratungsgespräch anzubieten. Steht jedoch keine Beratungsperson zur Verfügung, legt die Heim- oder Pflegedienstleitung fest, wer den Pflegedialog führt.
Die Weiterbildung von ARTISET entwickelt derzeit ein Weiterbildungsangebot zur GVP-Beratung, das gezielt auf die Anforderungen der Langzeitpflege ausgerichtet ist. Der Start ist für das erste Halbjahr 2026 geplant.
Auch im Bereich der Qualitätsmessung gewinnt die Gesundheitliche Vorausplanung an Bedeutung: Der neue Medizinische Qualitätsindikator «Gesundheitliche Vorausplanung» wird derzeit im Rahmen des Nationalen Implementierungsprogramms zur Qualitätsentwicklung in Pflegeheimen (NIP-Q Upgrade) testweise eingeführt. Damit kann die Gesundheitliche Vorausplanung als Bestandteil einer qualitätsorientierten und personenzentrierten Versorgung schweizweit gestärkt und im Pflegeheimalltag verankert werden.
Ein guter Moment, um GVP voranzutreiben
Die neuen Instrumente der nationalen Arbeitsgruppe helfen dabei, solche strukturiert geführten Gespräche im Pflegeheimalltag umzusetzen. Sie sind online und in Printversion in drei Sprachen verfügbar und kostenlos in gedruckter Form bestellbar. Probieren Sie es aus: Mittels des abgedruckten QR-Codes können Sie alle Unterlagen direkt herunterladen und den ersten Schritt zu mehr Selbstbestimmung und Qualität in ihrem Pflegeheim machen.
Der Nutzen der Gesundheitlichen Vorausplanung
Eine Umfrage der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), die unterstützt von CURAVIVA im Jahr 2024 in rund 130 Schweizer Pflegeheimen durchgeführt wurde, zeigt: Patientenverfügungen sind heutzutage bei vielen Bewohnenden nicht vorhanden und der GVP-Prozess wird in Institutionen der Langzeitpflege kaum systematisch durchgeführt. Als Hürden bezüglich der Umsetzung von GVP wurden unter anderem Zeitmangel, ungenügende Schulung des Personals und bürokratischer Aufwand genannt. Dennoch betonte die Mehrheit der Befragten den grossen Nutzen der Gesundheitlichen Vorausplanung und äusserte die Absicht, GVP zukünftig in der eigenen Institution verankern zu wollen.
Hier finden Sie die Instrumente zur Umsetzung der GVP in Pflegeheimen
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