INTEGRATIVE SCHULE | Gemeinsames Lernen in Vielfalt

Genügend Ressourcen und eine positive Haltung zur inklusiven Schule tragen dazu bei, dass sie funktioniert. Und dann kommt sie allen Kindern zugute. Das wird aus den Gesprächen mit Vertretenden der Behindertenorganisationen insieme und Inclusion Handicap deutlich. Im Anschluss an ihre Erläuterungen legt der Verband YOUVITA, der unter anderem auch Sonderschulen vertritt, seine Position dar.
Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), das Behindertengleichstellungsgesetz und das Sonderpädagogikkonkordat geben der schulischen Integration den Vorzug vor der Sonderschule. Doch die Kritik am integrativen Modell nimmt zu, manche bezeichnen es gar als gescheitert. Wie sieht die Position der Verbände aus, die nahe sind bei den Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und ihren Angehörigen? Zwei Vertreter von Behindertenorganisationen führen aus, wohin die Entwicklung ihrer Meinung nach gehen sollte. Im Anschluss folgt die Position des Branchenverbands YOUVITA, der unter anderem auch Sonderschulen vertritt (siehe den Kasten).
Thomas Thentz ist Themen- und Projektverantwortlicher bei insieme Schweiz, der Dachorganisation der Elternvereine für Menschen mit einer geistigen Behinderung. «Angesichts der heftigen Kritik, die der inklusiven Schule entgegenschlug, hat sich Insieme entschieden, dieses Thema prioritär zu behandeln», sagt er. Dazu hat insieme zusammen mit den Regionalvereinen in den verschiedenen Kantonen ein Positionspapier erstellt, das die Grundlage aller Aktivitäten bildet. Ausserdem führte die Organisation eine Umfrage bei den Eltern von Kindern mit Behinderungen durch, um herauszufinden, in welcher Form die Kinder und ihre Angehörigen am besten unterstützt werden können.
Schule unter einem Dach
«Es zeigte sich, dass die Eltern nach wie vor überzeugt sind von der inklusiven Schule, aber unzufrieden darüber sind, wie es derzeit läuft», fasst Thomas Thentz die Resultate zusammen. Es sei viel Frustration und Müdigkeit der Eltern vorhanden, die teilweise dafür kämpfen müssen, dass ihr Kind in die Regelschule gehen darf, und sich auch mit fehlender Kenntnis und wenig Sensibilisierung bei Lehrkräften, anderen Eltern und in der Gesellschaft herumschlagen müssen. Im Positionspapier sei nicht mehr die Rede von Sonderschulen, sondern von Sonderunterricht, weil das die beiden bisher separierten Systeme näher zusammenbringt. Verschiedene Unterrichtsformen könnten nämlich unter einem Dach stattfinden. «Es gibt nach wie vor Kinder, die einen speziellen Unterricht benötigen. Für die Mehrheit der jungen Menschen mit Behinderungen aber wäre Regelunterricht mit Unterstützung möglich», führt Thentz aus. Dies heisst, dass die beiden Systeme nach Ansicht von insieme zusammenwachsen müssten. Dies fängt bereits bei der Ausbildung der Lehrkräfte und der Unterbringung von Regel- und Sonderschulklassen in denselben Örtlichkeiten an. «Wir stellen uns eine Schule unter einem Dach vor, in der Lehrende der Regelschule und Heilpädagoginnen zusammenarbeiten. Einige Kinder besuchen eine Sonderklasse, aber Aktivitäten in der Pause, Ausflüge oder das Essen finden gemeinsam statt», schildert Thentz die ideale inklusive Schule. Dass dies auch tatsächlich funktioniert, zeigt der Kanton Tessin.
Motivation und Mut nötig
«Die Ressourcen spielen natürlich eine wichtige Rolle, aber nicht nur; viel entscheidender ist die Haltung, die Einstellung zur inklusiven Schule», sagt Thomas Thentz. Gerade der Kanton Tessin und andere Bergkantone wie das Wallis verfügen über keine grossen finanziellen Möglichkeiten, und trotzdem sind sie in Bezug auf die inklusive Schule weiter als andere Kantone. «Es braucht Motivation und Mut, die beiden Systeme der Regel- und Sonderschulen zusammenzuführen», so Thentz. Dass der Weg zur inklusiven Schule noch länger dauern wird, hängt ausgerechnet damit zusammen, dass die Schweiz vor hundert Jahren eine erfolgreiche Pionierin der Sonderschulen war und in der Folge sehr gute Sonderschulen aufgebaut wurden. Damit hat sich auch das System der beiden separierten Schulformen herausgebildet. «Die Stimmen der Gegner der inklusiven Schule sind sehr laut, die Stimme der vielen Befürworter ist viel leiser», stellt Thomas Thentz fest. Deshalb hat sich insieme zum Ziel gesetzt, die Stimme zu erheben im Namen all derjenigen, welche die inklusive Schule unterstützen und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit zu verstärken.
Es zeigte sich, dass die Eltern nach wie vor überzeugt sind von der inklusiven Schule, aber unzufrieden darüber sind, wie es derzeit läuft. Thomas Thentz, insieme
Insieme ist Mitglied von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen, der sich vor allem auf politischer und rechtlicher Ebene für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzt. David Krummen, als Rechtsanwalt bei Inclusion Handicap tätig, betont denn auch die rechtlichen Vorgaben: «Seit 11 Jahren ist die UN-BRK und bereits seit 21 Jahren das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft, bei der Umsetzung jedoch hapert es gewaltig.» Er erklärt, dass die Separation von Kindern mit Behinderungen in Sonderschulen für diese lebensprägend sei. Die separative Schule habe langfristige Auswirkungen, so verschlechtere sie etwa die Chancen auf eine Berufsausbildung, den Einstieg ins Arbeitsleben und die gesellschaftliche Partizipation. Zudem werde das Familienleben beeinträchtigt, da Kinder, die eine Sonderschule besuchen, oftmals nicht am Wohnort und nicht zusammen mit den Geschwistern in die Schule gehen können und auch das gemeinsame Mittagessen mit der Familie oder in der Tagesschule wegfalle.
Alle Kinder profitieren
Und wie steht er zur grössten Kritik, dass Kinder ohne Behinderungen in der inklusiven Schule benachteiligt seien? «Es gibt mehrere wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen, dass dies nicht der Fall ist. Die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen ohne Behinderungen bleiben auf gleichem Niveau. Gleichzeitig stärkt eine inklusive Schule die sozialen Kompetenzen aller Kinder», sagt David Krummen. Kinder und Jugendliche, die in der Schule Kontakt haben mit Menschen mit Behinderungen, nehmen diese auch sonst eher als Teil der Gesellschaft wahr und sind bereit für deren Einbezug im Alltag. Kurzum: Die inklusive Schule ist für alle Kinder und Jugendlichen von Vorteil. In diesem Zusammenhang ergänzt Thomas Thentz: Auch die Lehrkräfte profitieren, wenn sie von anwesenden Heilpädagoginnen unterstützt werden und neue Werkzeuge kennenlernen – etwa den Einsatz von visuellen Formen und Piktogrammen, die nicht zuletzt auch Kindern mit Migrationshintergrund zugute kommen. Auch die Eltern der Kinder mit Behinderungen sind nicht mehr so ausgeschlossen und stärker einbezogen in den Kreis der anderen Eltern. David Krummen wiederum betont auch die ökonomischen Vorteile der inklusiven Schule, denn separative Settings sind teurer. Zudem bewirkt eine inklusive Schule, dass mehr Kinder und Jugendliche den Weg in die Arbeitswelt finden und selbstbestimmt für sich sorgen können. Es funktioniert aber natürlich nicht, einfach mehr Kinder mit Behinderungen in die Regelschule zu schicken ohne substanzielle Veränderungen des ganzen Systems. Inclusion Handicap bemängelt insbesondere, dass es keine übergeordnete Planung für die Umsetzung der inklusiven Schule gibt. Das führt zur paradoxen Situation, dass inklusive Bildung zwar rechtlich vorgeschrieben ist, die Handhabung aber je nach Kanton sehr unterschiedlich ist und gleichzeitig die Quote der Sonderschüler steigt. «Es gibt laute Stimmen, die zurück zur Separation wollen, obwohl wir die inklusive Schule noch gar nicht etabliert haben, wir würden auf halbem Weg abbrechen entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erfahrungen anderer Länder», so David Krummen.
Es funktioniert nicht, einfach mehr Kinder mit Behinderungen in die Regelschule zu schicken ohne substanzielle Veränderungen des ganzen Systems. David Krummen, Inclusion Handicap
Anpassungen an die Lernenden
Es gab eine Umfrage des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) zur inklusiven Schule. Die Ergebnisse sehen gleich aus wie bei der insieme-Befragung der Eltern. Die Lehrpersonen stehen hinter der inklusiven Schule, aber nicht so, wie es derzeit läuft. Entsprechend fordern auch die Lehrerinnen und Lehrer eine koordinierte Strategie und genug Ressourcen. David Krummen hebt noch einmal hervor, dass ein duales System teuer ist, da es Doppelspurigkeiten gibt. Er verweist darauf, dass bestehende Sonderschulplätze in der Praxis stets belegt werden, denn das Angebot schafft die Nachfrage – eine strukturelle Begebenheit, die schwierig zu überwinden sei. David Krummen und Inclusion Handicap sind sich bewusst, dass die konkrete Ausgestaltung der inklusiven Schule komplex ist und nur unter Einbezug aller Beteiligten gelingen kann: «Die aktuelle Diskussion dreht sich um die Frage, ob eine inklusive Schule überhaupt Sinn macht, statt darum, wie eine gute inklusive Schule aussehen müsste und umgesetzt werden könnte.» Zudem: Die Schule steht aus vielerlei Gründen vor mannigfaltigen Herausforderungen, es wäre zu einfach, die Inklusion für alle Probleme verantwortlich zu machen. «Die Schule verlangt bisher, dass sich die Kinder anpassen, sonst werden sie aussortiert. Eine Schule für alle müsste sich hingegen an die Lernenden anpassen», so David Krummen.
YOUVITA: Regel- und Sonderschulen sind Partner mit gemeinsamem Ziel
Die inklusive Bildung ist ein wichtiges Anliegen der UN-Kinderrechtekonvention. Sie soll allen Kindern und Jugendlichen – unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen – eine chancengerechte Teilhabe am Unterricht ermöglichen. Dabei stellt sich die Frage, wie Inklusion gelingen kann, ohne dass Regelschulen überfordert werden. Sonderschulen übernehmen im Bildungssystem eine sehr wichtige Aufgabe. Die Idee, dass inklusive Schule nur durch die Abschaffung der Sonderschulen gelingen kann, erweist sich als Trugschluss. Um Inklusion in die Regelschule sinnvoll umsetzen zu können, braucht es Ressourcen und Know-How. Auch wenn Regelschulen aktuell bereits mehr personelle, organisatorische und fachliche Unterstützung bekommen, um Kinder mit besonderen Bedürfnissen zu integrieren, scheinen diese Ressourcen nicht zu genügen, und dies führt zu einer Situation, die geprägt ist von hartem politischem Gegenwind.
Im benötigten Ausbau der Regelschule zu einer inklusiven Regelschule sollten die Sonderschulen nicht als Konkurrenz verstanden werden, die im Weg stehen. Sie sollten als Partner im gemeinsamen Bildungsauftrag verstanden werden. Viele Sonderschulen bieten heute ambulante Angebote an, bei denen ihre Fachpersonen Regelschulen beratend und unterstützend zur Seite stehen. Sie leisten damit einen professionellen Beitrag, indem sie ihre langjährige Erfahrung mit spezifischem Förderbedarf einbringen und so zur Qualitätssicherung und Unterstützung der Regelschulen beitragen. Ein Schlüssel zum Gelingen ist die enge Kooperation zwischen allen beteiligten Akteuren: Lehrpersonen, Heilpädagogik, Eltern, Schulbehörden und Fachstellen. Interdisziplinäre Fallbesprechungen, gemeinsame Förderpläne und transparente Kommunikation sind essenziell, um eine stimmige und tragfähige Lösung für jedes einzelne Kind zu finden. Die Ausbildung der Lehrpersonen in den verschiedenen Settings könnte ebenfalls vermehrt zusammen gedacht werden. In Fällen, in denen aufgrund der Beeinträchtigung eine Integration in die Regelschule trotz umfassender Unterstützung nicht zielführend oder durch das Kind oder die Familie nicht erwünscht ist, bleibt die Sonderschule ein wichtiger Bildungsort, der individuelle Förderung in einem spezialisierten Umfeld gewährleistet. Fazit: Die inklusive Schule in der Schweiz ist kein «Entweder-oder» zwischen Regel- und Sonderschule, sondern ein «Sowohl-als-auch». Sie basiert auf einem differenzierten System, das die Stärken beider Schulformen nutzt. Durch gezielte Unterstützung der Regelschulen und die Einbindung des Fachwissens und die Kooperation mit den Sonderschulen wird Inklusion nicht zur Überforderung, sondern zur Chance für ein gemeinsames Lernen in Vielfalt.
Foto: zvg