INTEGRATIVE SCHULE | Wie sich der Kanton Tessin an die Inklusion herantastet

24.07.2025 Von Elisabeth Seifert

Bereits in den 70er-Jahren gab es im Tessin integrativ geführte Klassen. Bis heute hat sich ein breit gefächerter Angebots- respektive Dienstleistungsmix entwickelt, um den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden. Das gelingt nur in einer engen Zusammenarbeit zwischen Regelschul- und Sonderschulstrukturen sowie einer entsprechenden Gestaltung der Lernumgebung. Und, ganz wichtig: Auch separative Settings haben ihren Platz.

In ihrer Vision eines inklusiven und zugänglichen Schulsystems im Kanton Tessin schlägt die kantonale Schulabteilung vor, auf die bisherige Unterscheidung zwischen «Regelschule» und «Sonderschule» zu verzichten. Sie spricht in ihrem Dokument, das vor ziemlich genau zwei Jahren publiziert worden ist, stattdessen ganz einfach von «Schulsystem» oder «Schule». «Diese terminologische Entscheidung soll den Grundstein für einen Paradigmenwechsel legen», heisst es weiter, «weg von der Dichotomie zwischen Regel- und Sonderschule hin zu einem einheitlichen Bildungsweg für alle Schülerinnen und Schüler.»

Betont werde damit der Dienstleistungsansatz, sagt Mattia Mengoni. Er leitet die Sektion Sonderpädagogik innerhalb der kantonalen Schulabteilung und hat gemeinsam mit Fachpersonen der anderen Bereiche der obligatorischen Schule das Dokument erarbeitet. «Im Tessiner Schulsystem geht es darum, die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen», ­unterstreicht Mengoni den Dienstleistungsansatz. Und dies nicht erst seit gestern. Der Kanton Tessin fördere seit Jahren integrative und inklusive Bildungswege. Die Herausforderung für das Tessiner Schulsystem – und auch für dasjenige anderer Kantone – bestehe indes darin, so Mengoni, die gewonnenen Erfahrungen in der Unterstützung von Schülerinnen und Schülern sowie in der Sonderpädagogik weiterzuentwickeln – mit dem Ziel eines inklusiven Schulsystems.

Über 50 Jahre Erfahrung mit der Integration

Die Erfahrung des Kantons Tessin reicht dabei weiter zurück als in manch anderen Kantonen. Bereits in den 70er-Jahren und danach war die sonderschulische Begleitung bereits ähnlich organisiert wie heute. Neben der Sonderschule in eigentlichen Sinn wurden Schülerinnen und Schüler mit einem Unterstützungsbedarf unter bestimmten Bedingungen in die Regelschule aufgenommen und dort begleitet. Beeinflusst wurde dieses Modell durch die Nähe zu Italien, wo das integrative Schulsystem seit Jahrzehnten gepflegt wird. Und zudem erforderte die von Talschaften geprägte Geografie, den Unterricht von Schülerinnen und Schülern mehrerer Jahrgänge und unterschiedlicher Bedürfnisse in ein und derselben Schule oder Schulklasse.

«Wenn immer möglich, sollen Kinder und Jugendliche in den Regelklassen unterstützt werden. Es braucht aber auch echte Alternativen für jene, die nicht in einer Klasse bleiben können.» Mattia Mengoni, Leiter der Sektion Sonderpädagogik der kantonalen Schulabteilung

Bis heute hat sich im Kanton Tessin ein breit gefächerter Angebots- respektive Dienstleistungsmix entwickelt, der von ganz niederschwelligen Massnahmen bis hin zu mittleren und hochschwelligen Unterstützungsangeboten reicht, wobei diese – wenn immer möglich – integrativ organisiert sind. Mattia Mengoni verwendet dafür das Bild einer Pyramide: Deren Sockel bildet der pädagogische Dienst, der innerhalb der Regelschule angesiedelt ist. Teams aus unterschiedlichen Speziallehrkräften, vom Psychologen über die Logopädin bis hin zur Fachperson im Bereich Psychomotorik, sind an einer Schule oder auch über mehrere Standorte hinweg tätig. «Diese Speziallehrkräfte arbeiten mit einzelnen Kindern während einer halben oder einer Stunde pro Woche», so Mattia Mengoni. Ist diese Begleitung zu wenig, erhalten die betreffenden Schülerinnen und Schüler, ebenfalls innerhalb der Regelklasse, zusätzliche wöchentliche Unterstützung durch eine sonderpädagogisch ausgebildete Lehrperson. Die Schulen stellen dafür einen Antrag der Sektion Sonderpädagogik der kantonalen Schul­abteilung.

Inklusive Klassen nehmen laufend zu

Um weitergehende Bildungsbedürfnisse abzudecken, haben sich drei Formen sonderschulischer Unterstützung etabliert. Zwei davon erfolgen in einer engen Zusammenarbeit zwischen der Regel- und der Sonderschule: In den inklusiven Klassen, die 2011 eingeführt wurden und deren Anzahl seither stark angestiegen ist, arbeiten jeweils eine Regelschul- und eine sonderpädagogisch ausgebildete Lehrperson zusammen. Letztere begleitet insbesondere die drei bis vier Kinder oder Jugendlichen mit speziellen Bedürfnissen, die in den regulären Klassen integriert sind. Im gerade zu Ende gegangenen Schuljahr gab es im Kanton Tessin 84 inklusive Klassen (37 Kindergartenklassen, 34 Primarschulklassen, und 13 Klassen auf der Sekundarstufe I). Im Schuljahr 2020 / 21 waren es erst 22 Klassen.

In diesen inklusiven Klassen werden etwa Schülerinnen und Schüler mit Autismusspektrumsstörungen oder unterschiedlichen kognitiven Beeinträchtigungen gemeinsam mit Regelschul­kindern unterrichtet. Kindern und Jugendliche, die auf einen noch stärker individualisierten Unterricht angewiesen sind, werden innerhalb der Regelschulen in Klein- respektive Sonderschulklassen begleitet, die aus sechs bis sieben Schülerinnen und Schülern bestehen und von zwei Sonderpädagogik-Lehrkräften unterrichtet werden. Im Schuljahr 2024 / 25 gab es kantonsweit 73 solcher Sonderschulklassen, etwas mehr als im Schuljahr 2020 / 21.

Strikt separatives Setting betrifft sehr wenige

Ein wichtiger Aspekt ist gemäss Mattia Mengoni die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Arten von Unterstützungsmassnahmen: «Je nach Bedürfnis können Schülerinnen und Schüler von einer inklusiven Klasse in eine Sonderschulklasse wechseln und umgekehrt.» Eine Herausforderung namentlich in den Sonderschulklassen bestehe darin, so Mengoni, dass der Austausch mit den Kindern der Regelklassen bewusst organisiert werden muss, während er sich in den inklusiven Klassen gleichsam von selbst ergibt. Für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten, die nicht in ­einer Regelklasse bleiben können, gibt es zudem noch über den ganzen Kanton verteilt sechs Spezialklassen, die gezielt auf deren Bedürfnisse zugeschnitten sind. Mengoni: «Sie werden hier während maximal ein oder zwei Jahren begleitet und kehren dann wieder in ihre Klassen zurück.»

Die dritte Form sonderschulischer Unterstützung – und damit die Spitze der Pyramide – bilden vier Sonderschulinstitutionen im Kanton. Mengoni: «In diesem einzig wirklich separativen Setting werden ausschliesslich Kinder und Jugendliche mit einem sehr hohen Schutzbedürfnis begleitet, Schülerinnen und Schüler mit Mehrfachbehinderungen und grossen, vor allem auch physischen Problemen.» Im Kanton Tessin sind das gerade mal 0,3 Prozent der jungen Menschen, die in diesen separativen Institutionen unterstützt werden. Im schweizweiten Durchschnitt beträgt die Quote fast 2 Prozent. In den Klein- respektive Sonderschulklassen werden im Kanton Tessin 1,3 Prozent der Kinder auf der Kindergarten- und Primarschulstufe begleitet und etwas mehr auf der Sekundarstufe I. Dies entspricht in etwa dem Schweizer Durchschnitt.

Hohe politische Akzeptanz des Systems

«Wenn immer möglich, sollen Kinder und Jugendliche in den Regelklassen bleiben können», unterstreicht Mattia Mengoni das Tessiner Credo. Es brauche aber auch echte Alternativen für jene, die nicht in einer Klasse bleiben können. «Es entspricht einem falschen Verständnis von Inklusion, zu meinen, dass alle Schülerinnen und Schüler in ein- und derselben Klasse unterrichtet werden können», hält Mengoni fest. Mit einem solchen Verständnis werde man den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler nicht gerecht.

Um möglichst flexibel und schnell auf die Bedürfnisse reagieren zu können sei ein guter, ständiger Kontakt zwischen den Sonder- und den Regelschulstrukturen zwingend nötig, so Mengoni. Dies betreffe sowohl die Zusammenarbeit vor Ort als auch in der Organisation auf kantonaler Ebene. Die verschiedenen Schulbereiche sind denn auch alle in der kantonale Schulabteilung innerhalb des Departements für Bildung, Kultur und Sport vereinigt.

Neben flexiblen, spezifisch auf die Bedürfnisse ausgerichteten Unterstützungsmassnahmen braucht es gemäss Mengoni zudem eine entsprechende Unterrichtsorganisation respektive Lernumgebungen, die individuellen Lernunterschieden Rechnung tragen. Dies wiederum erfordere die entsprechende Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen in differenzierenden und individualisierenden Unterrichtsmethoden.

Der Kanton Tessin hat in diesen Handlungsfeldern bereits einiges auf den Weg gebracht. Dies spiegelt sich auch in einer hohen politischen Akzeptanz des Systems, verbunden mit der Einsicht, dass dafür die nötigen Ressourcen erforderlich sind. So hat etwa letztes Jahr eine Petition, die von 9000 Personen unterschrieben worden ist, dazu beigetragen, dass der Kanton im Rahmen eines allgemeinen Sparpakets nicht auch noch sonderpädagogische Ressourcen kürzt.

Schritte in Richtung einer inklusiven Schule

Seit einigen Jahren konzentriert sich die Arbeit gemäss Mengoni ganz besonders auf die Gestaltung der Lern­umgebungen. «Damit streben wir einen Paradigmenwechsel an», betont er. «Es geht nicht einfach darum, Massnahmen für einzelne Schülerinnen und Schüler umzusetzen, sondern den Kontext so zu gestalten, dass die volle Teilhabe und ein möglichst hoher Lernfortschritt für jeden und jede möglich werden.» In einem inklusiven Schulsystem dürften nicht einfach besondere Massnahmen in ein reguläres Umfeld gebracht werden, sondern die Lernumgebungen müssen so organisiert werden, «dass sie besondere Bedürfnisse bereits von sich aus berücksichtigen».

Dies sei umso wichtiger, weil die Schülerschaft aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung immer heterogener werde – und damit die Lehrerschaft stark fordere. Mengoni spricht damit etwa auf fragile familiäre Verhältnisse an oder auch auf die Folgen eines hohen Internetkonsums sowie der Nutzung sozialer Medien.

Die Arbeit an der Lernumgebung und die entsprechende Grund- und Weiterbildung der Lehrpersonen sind denn auch wichtige inhaltliche Aspekte der im Juni 2023 verabschiedeten ­Vision eines inklusiven und zugänglichen Schulsystems im Kanton Tessin. Eingebettet sind diese Inhalte in theoretische Erörterungen zum Begriff ­«Inklusion». Der Kanton Tessin verstehe Inklusion, wie Mengoni ausführt, dabei in einem weiteren Sinn, «als Prozess kontinuierlicher Entwicklung, um die Vielfalt zu schätzen und jedem Lernen und Teilhabe zu ermöglichen». Im Unterschied zu einem Verständnis von Inklusion in einem engeren Sinn, wo alle in einer Klasse unterrichtet werden, lässt das Tessiner Modell separative Strukturen zu.

Ein weiterer zentraler Aspekt der Vision betrifft Verbesserungen in der ­Zusammenarbeit der die Bedürfnisse abklärenden Stellen. Dies mit dem Ziel, Regel- und Sonderschulstrukturen immer besser in ein inklusives System zu überführen und auch um administrative Hürden abzubauen. Eine weitere wichtige Stossrichtung der Vision ist es, den Schulen mehr Autonomie zu gewähren, damit sie die nötigen Massnahmen zugeschnitten auf die Bedürfnisse vor Ort flexibel gestalten können.


Foto: Marco Zanoni