Gemeinsam wachsen in geschütztem Rahmen

Für Familien in belasteten Lebenssituationen können Eltern-Kind-Einrichtungen eine Lösung sein. Sie verbinden einen Schutzraum für Kinder mit einem Hilfsangebot für Eltern. Das Beispiel Meliso in Bern zeigt, wie sich die stationäre Begleitung gestaltet, was die Herausforderungen sind – und wie eine Mutter die Einrichtung erlebt.
Im Dezember 2024 erkannte Anna F. (Name geändert), dass sie in einer Krise steckte und Hilfe brauchte. «Aus Liebe zu meinen Kindern» habe sie sich dazu durchgerungen, erzählt die 33-Jährige: «Ich hatte viel zu oft vor ihnen geweint.» Ihr jüngstes Kind war gerade geboren, das ältere erst ein Jahr alt. Die Mutter fühlte sich mit den beiden «komplett allein». Eheprobleme hatten sich so zugespitzt, dass die Polizei eingreifen musste. Ein unterstützendes Umfeld fehlte ihr, ihre Familie lebt nicht in der Schweiz. Schulden des Ehemannes belasteten das knappe Budget.
Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) schlug Anna F. eine Eltern-Kind-Einrichtung vor. Sie suchte selbst mit und fand bei Meliso in Bern offene Ohren und einen freien Platz. Noch vor Weihnachten zog sie mit den Kindern in eine der Wohnungen mit 24-Stunden-Betreuung, die der Trägerverein in einer Liegenschaft in einem Berner Wohnquartier betreibt. Zwar fiel es ihr schwer, die Eigenständigkeit aufzugeben. «Doch das Wichtigste war, dass ich mit meinen Kindern zusammenbleiben konnte», sagt sie.
«Schon ein wenig stabiler»
Seitdem stehen ihr das Meliso-Team und zwei Bezugspersonen zur Seite. Anfangs unterstützten sie Anna F. intensiv – im Haushalt, bei der Versorgung der Kinder und im Tagesablauf. «Sie kommen in die Wohnung und geben mir hilfreiche Tipps», erzählt sie. Nachts ist eine Nachtwache im Haus. Das Team hilft ihr auch bei administrativen Aufgaben, vermittelt Beratungsstellen und unterstützt sie bei der Organisation des Besuchsrechts für den Vater. Anna F. und ihr Mann haben sich inzwischen getrennt.
Alle seien freundlich, sagt Anna F., das habe ihr die Umstellung erleichtert. «Ich bin schon ein wenig stabiler, auch emotional», stellt sie sieben Monate nach ihrem Einzug fest. Ihr älteres Kind sei ruhiger und wirke glücklich. Und das jüngere? «Ein Sonnenschein, das sagen alle.» Beide Kinder profitieren von der neuen Alltagsroutine mit festen Schlafenszeiten und sinnvollen Aktivitäten drinnen und draussen, glaubt sie. Wenn die Mutter externe Termine hat, sind die Kleinen in der internen Kinderbetreuung der Einrichtung gut aufgehoben.
Rückkehr zur Selbständigkeit
Das kantonale Jugendamt bewilligte vorerst die Kostenübernahme für ein Jahr. Ziel ist, dass Anna F. später selbständig mit ihren Kindern leben kann. Für Meliso-Geschäftsführer Roman Rech zeigt ihr Fall, wie schnell eine Eltern-Kind-Einrichtung entlasten kann: «Wir bieten in Überforderungssituationen Stabilität und Sicherheit.» Das Kindeswohl werde gewahrt, ohne Eltern und Kinder zu trennen. Meliso entstand 2018 aus einer heilpädagogischen Lebensgemeinschaft. Die Institution hat einen Leistungsvertrag mit dem Kanton Bern und bietet 18 sogenannte Systemplätze für stationäre Familienbegleitung an zwei Standorten an.
«Wer zu uns kommt, steht an einer Weggabelung. Eine positive Entwicklung kann in ein möglichst selbständiges Familienleben führen, oft in Etappen.» Roman Rech, Geschäftsführer Meliso
Derzeit begleitet Meliso rund 50 Personen. Die grösste Einheit ist eine Mutter mit fünf Kindern. Bis vor einigen Jahren waren es vorab die Mütter, doch seit 2021 schliesst das bernische Gesetz über Leistungen für Kinder mit besonderem Förder- und Schutzbedarf beide Elternteile ein. Meliso betreute schon einen Vater alleine mit Kind und mehrere Familien mit beiden Elternteilen. Die Eltern sind zwischen 17- und 35-jährig, die meisten Kinder im Vorschulalter. Für die Aufnahme braucht es eine behördlich festgestellte Indikation, meist von der Kesb oder einem Sozialdienst.
Am Scheideweg
«Die Familiensituationen sind anspruchsvoll und komplex», sagt Rech. Die Gründe reichen von psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen eines Elternteils über soziale Isolation bis zu Verwahrlosungstendenzen. Einige Familien stammen aus dem Asylbereich. Ebenfalls Platz finden gewaltbetroffene Mütter, die nach dem Frauenhaus eine Anschlusslösung suchen. Eltern mit akuten Suchtproblemen werden jedoch nicht aufgenommen.
Drei Viertel der Aufnahmen erfolgen laut Rech einvernehmlich, ein Viertel wird als Kindesschutzmassnahme durch die Kesb angeordnet. In manchen Fällen klärt Meliso ab, ob eine Fremdplatzierung der Kinder nötig ist. «Wer zu uns kommt, steht an einer Weggabelung», sagt Rech. Eine positive Entwicklung kann in ein möglichst selbständiges Familienleben führen, oft in Etappen. Nach der stationären Begleitung können Familien Meliso-intern in ein betreutes Wohnen mit punktueller Unterstützung und später in eine ambulante Familienbegleitung wechseln.
Manchmal zeigt sich jedoch, dass einem Elternteil «im Moment die Ressourcen fehlen, um die Elternrolle verantwortungsvoll auszuüben», wie Rech es vorsichtig formuliert. Am schmerzhaftesten sei das für die Betroffenen selbst. In solchen Fällen teilt die Institution der Kesb ihre fachliche Einschätzung mit. Auch anhaltender Widerstand gegen die Platzierung im Meliso kann dazu führen, dass eine andere Lösung gesucht werden muss.
Auch wenn die Kesb dann eine Fremdplatzierung verfügt, sei der Aufenthalt nicht vergeblich gewesen, betont Rech, selbst Vater von vier Kindern. «Es ist richtig, der Familie die Chance auf ein Zusammenbleiben zu geben, besonders vor dem Hintergrund der problematischen Geschichte der Fremdplatzierungen in der Schweiz.» Jede Familie habe ein Recht auf Halt, Unterstützung und Perspektiven.
Zwei Anspruchsgruppen
Die Aufenthaltsdauer in der 24-Stunden-Betreuung liegt meist zwischen einem halben und zwei Jahren. Die Betreuenden sind sozialpädagogisch ausgebildet oder Fachpersonen Kinderbetreuung mit viel Berufserfahrung oder einer Weiterbildung. Qualifizierte Mitarbeitende verschiedener Disziplinen sind unerlässlich, sagt Rech: «Wir haben zwei Anspruchsgruppen – Erwachsene und Kinder –, denen wir gerecht werden wollen.»
Die alltagsnahe Begleitung soll die Eltern in ihrer Selbständigkeit stärken und in ihrer Elternrolle festigen. Um eine vertrauensvolle Eltern-Kind-Beziehung zu fördern, nutzt Meliso unter anderem die Marte-Meo-Methode: Alltägliche Situationen werden gefilmt und ausgewertet, um daraus zu lernen. Der Fokus liegt weniger auf Fehlern als auf gelingenden Interaktionen. Regelmässig finden Runde Tische zwecks Standortbestimmung statt, bei denen auch die Betreuten ihre Sicht einbringen.
Eltern-Kind-Einrichtungen in der Schweiz haben unterschiedliche Zielgruppen und Konzepte, weiss Samuel Keller, Forscher und Dozent am Institut für Kindheit, Jugend und Familie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). «Gemeinsam ist ihnen, dass sie Problemlagen von Eltern und Kindern intensiv systemisch angehen.» Während die Zusammenarbeit mit Eltern in der stationären Kinder- und Jugendhilfe oft Zusatzaufgabe sei, bilde sie hier die Basis. Das bringe Vorteile, aber auch Herausforderungen mit sich.
Zu Letzteren gehöre, «im Dreieck Eltern, Kind und Angebot auf das zentrale Ziel des Kindeswohls hinzuarbeiten», Elternschaft nicht nur als Checkliste zu vermitteln, das Umfeld einzubeziehen und mit Widerständen oder Rückfällen der Eltern umzugehen. Mitarbeitende müssten dabei mit gegensätzlichen Rollen klarkommen: Sie sind Bezugspersonen, beobachtende Prüfinstanz und Kindererziehende zugleich.
Studie zeigt Effekt und Hindernisse
Kennzahlen zu Eltern-Kind-Einrichtungen fehlen in der Schweiz, auch sind sie noch wenig erforscht. Eine ZHAW-Studie im Kanton Zürich zeigte positive Wirkungsbereiche. «Die Angebote bieten die Chance, dass Familien gemeinsam auf ein autonomes oder teilautonomes Leben danach hinarbeiten», sagt Keller. Wichtig sei, dass die Kostengutsprache nicht zu früh endet und Nachsorgeangebote bereitstehen. Hindernisse wie teure Kitas oder fehlender günstiger Wohnraum können den Erfolg erschweren. Sind Anschlusslösungen erforderlich, entsprechen diese besser dem Bedarf, auch bei Fremdplatzierungen der Kinder, so Keller.
Für Anna F. steht fest: «Ich will selbständig für meine Kinder sorgen, sie sollen eine gute Zukunft haben.» Die Mutter, die noch in Psychotherapie ist, hofft auf genügend Zeit, um Fuss zu fassen. Parallel plant sie ihre berufliche Entwicklung. Zuletzt arbeitete sie im Detailhandel, doch sie ist ausgebildete Sozialarbeiterin. Damit ihr Abschluss in der Schweiz anerkannt wird, muss sie Voraussetzungen erfüllen. Den Deutschkurs für Fortgeschrittene besucht sie bereits. Sie sagt: «Mir wird hier geholfen. Als Sozialarbeiterin kann ich später anderen helfen.»
25 Angebote in acht Kantonen
Die Eltern-Kind-Einrichtungen sind im Dachverband KIEL organisiert, der zurzeit 25 Angebote in acht Kantonen umfasst. Neben fachlicher Vernetzung setzt sich der Verband für flächendeckende gesetzliche Grundlagen zur Finanzierung der Leistungen ein. «Es nützt der Gesellschaft, wenn wir früh genug in belastete Familien investieren», sagt Vorstandsmitglied Roman Rech. Zudem will der Verband die Einrichtungen bekannter machen – bei Behörden, Fachleuten und in der Öffentlichkeit.
Weitere Infos: www.kindeltern.ch
Foto: Marco Zanoni