PSYCHISCHE BELASTUNGEN | Die Klinik kommt zu Kindern nach Hause

17.06.2025 Salomé Zimmermann

Behandlung in den eigenen vier Wänden: Das ermöglicht die aufsuchende Therapie im Daheim von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen. ­Michael Kaess, Direktor der Berner Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, erläutert die Vorteile und Herausforderungen für die jungen Patienten, ihre Familien und die Mitarbeitenden.

Psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche, die während eines stationären Aufenthalts in einer Klinik wochen- bis monatelang behandelt werden, sind aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen, ohne ihre Familie, ihre Freunde und das gewohnte schulische Umfeld. «Dies bedeutet neben anderen Herausforderungen häufig auch eine erschwerte Rückkehr in den Alltag», erklärt Michael Kaess, Direktor und Chefarzt der Berner Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Ab 2019 wurde in Bern ein neues Modell ausprobiert und ­evaluiert – das Projekt «­AT_­HOME», das die aufsuchende Therapie bei den Kindern und Jugendlichen zuhause ermöglicht. «Das System, in dem unsere jungen Patienten leben, hat eine grosse Bedeutung: Einerseits sind schwierige familiäre Situationen und schulische Probleme mitverantwortlich für psychische Probleme. Andererseits ist das Umfeld wesentlich für die Genesung», erläutert Michael Kaess. «Auch wenn wir tolle Therapieerfolge in der Klinik erreichen – unter der Käseglocke gewissermassen – kann die positive Wirkung zurück im gewohnten Umfeld weniger lange andauern als erhofft», sagt der Kinder- und Jugendpsychiatrie-Professor. Die aufsuchende Therapie hingegen, so hat die Auswertung der wissenschaftlichen Untersuchung über einen längeren Zeitraum hinweg gezeigt, hilft psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen nachhaltig und dauerhaft. «Die in die vertraute Umgebung integrierte Therapie stärkt die Eigenverantwortung und lässt die jungen Menschen Selbstwirksamkeit erfahren – die Ressourcen bei unseren Patienten und ihrem Umfeld werden aktiviert», sagt Michael Kaess.

Im Früh- und Spätdienst unterwegs

Die aufsuchende Therapie funktioniert mit einem ähnlichen multiprofessionellen Team wie beim stationären Aufenthalt, bestehend aus Ärzten, Psychologinnen, Pflegefachpersonen sowie Sozialpädagoginnen. In einem Schicht­­pensum und in verschiedenen Konstellationen besuchen die Fachleute die jungen Patientinnen und Patienten zuhause. Dies verlangt einen ausgeklügelten Plan und eine ausgeklügelte Logistik, denn es gilt die Fahrwege, die Wohnorte und auch die veränderten Behandlungszeiten zu berücksichtigen. Die Kinder und Jugendlichen gehen zur Schule, ihre Eltern zur Arbeit, das erfordert Einsätze des Behandlungsteams am Morgen früh vor der Schule oder gegen Abend zuhause.

Das Home Treatment, wie die aufsuchende Therapie auch genannt wird, bedeutet eine Umstellung sowohl für die Fachkräfte wie auch für die Familien und deren Umfeld. Die Pflegefachpersonen etwa arbeiten stärker therapeutisch, da viele typische Pflegeaufgaben rund ums Essen oder Schlafen und vor allem die dauerhafte Beaufsichtigung wegfallen – diese Stellen seien sehr beliebt, wie Michael Kaess erwähnt. Die Arbeit der Pädagoginnen und Pädagogen verändert sich ebenfalls durch den erweiterten Wirkkreis im konkreten Schulalltag, während in der Klinik die hauseigene Schule im Vordergrund steht. Die Ärztinnen und Psychologen fokussieren sich in der Klinik auf die Arbeit mit dem einzelnen Individuum. In der aufsuchenden Therapie beziehen sie zusätzlich auch die Eltern, die Geschwister, die Schulleitung, die Klassenlehrerin, den Onkel und auch den geliebten Hund mit ein – alle, die eine Rolle spielen für das jeweilige Kind oder den Jugendlichen. «Das ist sowohl eine Bereicherung wie auch eine Herausforderung für die Mitarbeitenden und das familiäre Umfeld», weiss Michael Kaess. Im Vergleich zum herkömmlichen Klinikalltag nehmen die Dokumentation und die Kommunikation eine wichtigere Rolle ein, da etwa der Austausch innerhalb des behandelnden Teams stärker geplant werden muss, wenn nicht alle den ganzen Tag auf dem gleichen Stockwerk arbeiten. «Nicht zu vergessen, dass diejenigen Personen, die im Home Treatment tätig sind, den Fahrausweis haben müssen – der Tätigkeitsbereich erstreckt sich ja von Biel bis ins Berner Oberland», bemerkt der Klinikleiter.

Machtverschiebung und mehr auf Augenhöhe

«Es ist eine Umstellung, in so viele ganz unterschiedliche Haushalte und Systeme im ganzen Kanton Bern hineinzukommen», sagt Michael Kaess, «extrem wirksam, aber auch anspruchsvoll für beide Seiten.» Die Eltern und Patienten hätten sozusagen die Psychiatrie im Haus, das brauche Vertrauen und Offenheit. Gleichzeitig sind die Fachleute in diesem Setting Gäste und begegnen den Familien auf deren Terrain und damit stärker auf Augenhöhe als in der Klinik, die einschüchternd wirken kann. «Diese Dynamik, gewissermassen eine Machtverschiebung, verändert viel», stellt Kaess fest. Die Zusammenarbeit zum Wohl des Kindes werde automatisch stärker und intensiv – und verlangt den Eltern und Fachleuten gerade am Anfang viel ab. Grenzen gibt es dort, wo die Sicherheit der Mitarbeitenden gefährdet ist, beispielsweise bei Angehörigen oder Patienten unter Drogen­einfluss. Akute Eigen- oder Fremdgefährdung sowie Kindswohlgefährdung sind Ausschlusskriterien für die Behandlung zuhause. Sonst gebe es aber keine Einschränkungen, so Kaess, jede psychische Krankheit könne erfolgreich sowohl in der Klinik wie auch zuhause behandelt werden.

«Die Fachpersonen sind Gäste und begegnen den Familien auf deren Terrain und damit stärker auf Augenhöhe als in der Klinik, die einschüchternd wirken kann.» Michael Kaess

Derzeit sieht die Aufteilung der Plätze so aus, dass in der Kinder- und Jugendklinik in Bern 75 Betten und 22 aufsuchende Plätze vorhanden sind. Seit der Pandemie konnten laut Michael Kaess einerseits mehr Betten durch Verdichtung geschaffen werden, vor allem aber gab es eine Zunahme im Bereich der aufsuchenden Therapieplätze. Ein Vorteil des Home Treatments ist nämlich auch die Kosteneffizienz. Ohne die hohen Infrastrukturkosten und bei ähnlichem Personalaufwand seien diese Plätze günstiger als die stationären Angebote, wie Michael Kaess erklärt. Dies ist ein wichtiges Argument vor dem Hintergrund der Finanzkrise der Spitäler. «Auch im Hinblick auf die geplante Fusion im Bereich der Psychiatrie in Bern macht es Sinn, noch stärker auf die ambulante und aufsuchende Therapie zu setzen», sagt Michael Kaess.

Gesundheitssystem mit weniger Betten

Das Projekt «AT_HOME» wurde als Modellversuch gestartet, entwickelt sich seither stetig weiter und wird auch noch weiter wissenschaftlich untersucht – etwa im Hinblick darauf, welche Personengruppen besonders von der ambulanten Behandlung profitieren, was die Zuteilung erleichtern würde. «Bisher zeigte sich, dass die Behandlung im stationären wie im aufsuchenden Bereich gleich wirkungsvoll ist, im längeren Verlauf zeigt sich wie schon erwähnt die grössere Nachhaltigkeit des Home Treatments.» Damit bestätigt sich, was Michael Kaess schon in anderen Ländern beobachtet hat. Er, der ursprünglich aus Deutschland kommt, hat vor seiner Tätigkeit in der Schweiz auch in Ländern gearbeitet, in denen das Gesundheitssystem mit weniger stationären Betten ausgestattet ist, beispielsweise in Australien. «Ich habe gelernt, dass die Psychiatrie auch mit weniger Betten, dafür mit mehr ambulanten Angeboten funktionieren kann.» Die Schweiz ist wie andere Länder im Bereich der Psychiatrie unterversorgt, Michael Kaess sieht jedoch die Antwort auf diesen Missstand nicht in erster Linie in einer Aufstockung der Betten. «Mein Team und ich sind von der aufsuchenden Therapie überzeugt», so der Chefarzt.

Die Resultate überzeugen auf verschiedenen Ebenen, bei den Zuweisern, bei den Behandelnden wie den Behandelten und nach einer Eingewöhnungszeit auch bei den Schulen. «Es war eine Umstellung für die Schulleitungen und Klassenlehrpersonen, als die Problemschüler nicht mehr für einige Monate in der Klinik unterrichtet wurden, sondern während der ganzen Behandlung an der Schule blieben. Schliesslich kommt dies aber allen zugute durch die nachhaltigen Verhaltensänderungen und durch den verbesserten Umgang miteinander», führt Michael Kaess aus. «Die aufsuchende Therapie korrigiert gleich von Anfang an bei allen Beteiligten den nach wie vor verbreiteten Irrglauben, dass die Menschen in die Klinik zur Reparatur gehen und dann geheilt heimkehren», sagt Michael Kaess. So einfach funktioniert die menschliche Psyche nicht: Der Genesungs- und Veränderungsprozess dauert, und auch die jungen Patientinnen und Patienten müssen und dürfen lernen, im eigenen Lebensumfeld zurechtzukommen.


Foto: zvg


Plädoyer für niederschwellige bedarfsorientierte Unterstützung für junge Menschen

Die Interessengruppe NiPro (Niederschwellige Projekte), die sich aus Fachpersonen für die Unterstützung junger Menschen sowie dem Kompetenzzentrum Leaving Care zusammensetzt, hat ein neues Positionspapier erarbeitet. Unter dem Titel «Zur Notwendigkeit niederschwelliger und bedarfsorientierter Unterstützung für junge Menschen» sind sechs zentrale Forderungen aufgeführt, die eine Verbesserung des Unterstützungssystems für junge Menschen in komplexen und mehrfach belastenden Lebenssituationen anstreben.

  • Junge Menschen benötigen eine bedarfsorientierte Unterstützung bei der Lebensbewältigung.
  • Es braucht niederschwellige Angebote, die junge Menschen in Übergängen begleiten.
  • Es braucht ein umfassendes Verständnis von Bildung, das alltagsbezogenes Lernen miteinbezieht.
  • Es braucht institutionell und organisational koordinierte Hilfen, um dem vielfältigen Hilfebedarf gerecht zu werden.
  • Es braucht die Regelung der Finanzierung von niederschwelligen, bedarfsorientierten Unterstützungsleistungen.
  • Es braucht strukturelle Weiterentwicklungen auf verschiedenen Ebenen, um niederschwellige und bedarfsorientierte Angebote zu ermöglichen.

Die Forderungen richten sich an Akteure, die in der Finanzierung, Entwicklung und Umsetzung von Angeboten für junge Menschen involviert sind, auf fachlicher, wissenschaftlicher oder politischer Ebene.

Mehr Informationen: https://leaving-care.ch/news/nipro-positionspapier