LGBTIQ+ | «Ich habe meinen Platz gefunden»
Carlos Correvon, 37, teilt sein Leben mit seinem Lebensgefährten in einer betreuten Wohnung der Fondation Eben-Hézer in Lausanne. Der engagierte Mann kann es kaum erwarten, bis Ideen verwirklicht werden. Unermüdlich und mit Überzeugung steht er für die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigung ein – für ihre Autonomie, ihre aktive Teilnahme am politischen Leben oder auch ihre sexuelle Orientierung.
Mit einem Lächeln auf den Lippen empfängt uns Carlos Correvon zu Hause in seiner Wohnung, die er schon seit drei Jahren mit seinem Lebensgefährten Charly im Lausanner Quartier Chailly bewohnt. Eben-Hézer, eine Waadtländer Stiftung, die Menschen mit Beeinträchtigung oder pflegebedürftige Personen betreut, hat sie dem Paar zur Verfügung gestellt. Im Quartier Chailly betreibt sie unterschiedliche Wohnstrukturen wie etwa Wohngruppen, Einzelzimmer, Heime und Wohnungen. Ein pädagogisches Team betreut und unterstützt die Leistungsempfänger:innen je nach Bedarf.
Carlos ist ein freundlicher, zuvorkommender und begeisterungsfähiger Gastgeber. Zur Feier des Tages trägt er ein T-Shirt mit einem Löwenkopf. Der Löwe ist sein Lieblingstier und spielt auf sein Pseudonym «DJ Lion» an. Die Farben passen perfekt zum orangeroten Ton seiner Haare. Kaum haben wir die Wohnung betreten, bietet er uns auch schon einen Kaffee an. Dann besinnt er sich anders und nimmt uns mit auf eine Besichtigungstour durch die Wohnung – von den Schlafzimmern über Bad und Küche bis hin zum Wohnzimmer. Auch Erläuterungen zur unmittelbaren Umgebung und zum Quartier vergisst er nicht.
Nach einem Trauerfall und einigen schwierigen Trennungen von Lebensgefährten trifft Carlos 2018 Charly bei einem Fussballturnier, das von mehreren Heimen im Kanton veranstaltet wird. Er ist damals 30, Charly ein paar Jahre älter. Da sie in unterschiedlichen Heimen wohnen, treffen sie sich zunächst mehrmals im Monat am Wochenende. Vor einem Zusammenleben möchten sie sich besser kennenlernen. «Wir sind glücklich», bestätigt Carlos. «Wir machen alles gemeinsam: Wäsche, Haushalt, Einkauf. Wir gehen spazieren, manchmal auch essen, wir laden Freunde ein. Wir leben ein recht normales Leben, wie alle anderen auch», erzählt er. In seiner vorherigen Wohngruppe lernte er, selbstständig zu leben: wie man mit Geld und Medikamenten umgeht, alltägliche Aufgaben verrichtet, sich nicht in Gefahr bringt und Exzesse vermeidet. «Ich habe gelernt, stark zu sein, ich habe Vertrauen, keine Angst.» Das Paar weiss, dass es im Bedarfsfall die Hilfe des pädagogischen Teams in Anspruch nehmen kann, das nie weit weg ist.
Ungeduldig und hartnäckig
Sich diese Selbstständigkeit zu erobern, war jedoch nicht einfach. Erst recht nicht mit der Absicht, mit einem anderen Mann zusammenzuleben. Es gab viele Diskussionen über ihre jeweilige Fähigkeit, selbstständig leben zu können, sowie Widerstand gegenüber dem Wunsch zweier Männer nach einem gemeinsamen Leben. «Es gab viele Treffen mit dem Heim, meinen Eltern, einer Psychologin, einer Psychiaterin... Aber wir haben gekämpft, wir haben nicht lockergelassen und unser Recht auf ein Leben als Paar eingefordert. Wir haben geredet, geredet, geredet... So etwas ist ermüdend, es kostet sehr viel Zeit und Energie.» Man muss dazu sagen, dass Carlos ein ungeduldiger Mensch ist: Sobald eine Idee im Raum steht, ist sie sofort umzusetzen. Er ist auch hartnäckig und engagiert – ganz besonders, wenn es darum geht, für die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigung einzutreten. «Er ist ein Kämpfer, ein Streiter, er hat eine grosse Überzeugungskraft», so Omar Odermatt, sozialpädagogischer Betreuer und Leiter von Estimédia, der mit der Kommunikation von Eben-Hézer Lausanne betrauten Werkstatt, in der auch Carlos tätig ist.
Carlos Correvon ist jetzt 37 Jahre. Er ist in Brasilien, in Rio de Janeiro geboren, wo er die ersten Jahre auf der Strasse verbrachte. Dann wurde er von einem schweizerisch-brasilianischen Paar adoptiert. Die Familie lässt sich weiter im Norden, in Nova Friburgo nieder, weit weg von der Gewalt und Armut der Favelas in Rio. Carlos verbringt mit seinen Eltern mehrmals Ferien in der Schweiz bei seiner Familie mütterlicherseits. Als er 19 Jahre ist, trennen sich seine Eltern, und er kehrt mit seiner Mutter endgültig in die Schweiz zurück. Sehr bald zieht er in die Wohngruppe Rhapsodie der Fondation Eben-Hézer.
Eine mehrfache Herausforderung
In dieser Zeit, beim Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen, beginnt Carlos, über seine Sexualität nachzudenken. «Ich hatte damals eine Freundin. Aber ich stellte mir trotzdem viele Fragen: Bin ich wirklich heterosexuell? Und wenn ich bisexuell bin? Oder homosexuell?» Beim pädagogischen Team findet er ein offenes Ohr und Unterstützung. Mit seinem Umfeld darüber zu sprechen, fällt ihm dennoch schwer. Nur wenigen Leistungsempfänger:innen gegenüber kann er sich öffnen. «Beeinträchtigt und zugleich gay zu sein, ist doppelt so schwer. Das schockt, weil die Gesellschaft uns anders sieht», analysiert Carlos. In seinem Heimumfeld fühlt er sich als schwule Person zurückgestossen. In gewisse betreute Werkstätten geht er nicht mehr, weil er Opfer von Homophobie wurde. «In einem Heim lebt man verborgen…» In den Vereinen, die sich für die Rechte von LGBTIQ+-Personen einsetzen, wird er als Mensch mit Beeinträchtigung nicht heimisch. Dazu kommt ein drittes Problem, mit dem Carlos regelmässig konfrontiert ist: Rassismus aufgrund seiner Hautfarbe.
Eines Abends, als alle in der Wohngruppe Rhapsodie schon schlafen, entsteht während eines Gesprächs zwischen Carlos und Omar eine Idee: einen offenen, inklusiven Ort für Austausch und Gespräche zwischen LGBT-Personen mit Beeinträchtigung zu schaffen. So gründen 2016 Leistungsempfänger:innen und Mitarbeitende von Eben-Hézer den unabhängigen Verein Alliage, der sich ausserhalb der Institution weiterentwickelt. Carlos Correvon ist nicht nur Gründungsmitglied, sondern auch Präsident. Neben der Unterstützung und Vernetzung der Personen hat Alliage zum Ziel, «die politische und gesellschaftliche Anerkennung aller LGBT-Personen in Heimen wie in der Gesellschaft zu fördern». 2019 wird der Verein aufgrund fehlender personeller und finanzieller Ressourcen aufgelöst. Es folgt die Groupe Alliage, die sich dem Verein Voqueer (vormals Vogay) anschliesst.
Im gleichen Jahr arbeitet Carlos als Peer-Ausbilder an einem Kurs über das Gefühls- und Sexualleben in der Fondation Eben-Hézer mit. So kann er seine Erfahrungen unter anderem im Rahmen eines Workshops zu sexuellen Orientierungen weitergeben. Mit einem Team aus dem Heim nimmt er auch am Christopher Street Day in Freiburg und später an der Lake Parade in Genf teil. Mitten in den Techno-Klängen wird es ihm schlagartig klar: «Ich hatte sofort Lust, dasselbe zu machen wie sie, die Musik zu mischen, die ich liebe.» Er nimmt DJ-Unterricht und mixt jetzt Techno, Latino-Rhythmen und afrikanische Musik. Unter dem Namen DJ Lion tritt er im MAD Lausanne, beim Musikfest oder auch an der Pride in Lausanne und Genf auf. Jeden Donnerstag legt er in der Wohngruppe Rhapsodie auf und mixt oft gemeinsam mit seinem Freund Jules. Auch in Alters- und Pflegeheimen legt DJ Lion auf – eher ruhige Klänge von Charles Aznavour oder Jacques Brel.
Unermüdlicher Einsatz
Über all die Jahre setzt sich Carlos weiter für die Rechte von LGBT-Personen mit Beeinträchtigung ein. Oft wird er dabei von Omar Odermatt und dem pädagogischen Team sowie seiner Familie und seinem Lebensgefährten unterstützt. Heute ist zum grossen Bedauern von Carlos die Groupe Alliage aufgrund von Veränderungen im Team von Voqueer auf Eis gelegt. Aber er gibt die Hoffnung nicht auf, bald dorthin zurückzukehren, und bereitet sich schon darauf vor, wieder seine Kolleg:innen um sich zu versammeln. «Das ist wie bei der Musik: Es ist alles eine Frage des Willens. Also stürzt euch ins Leben. Nehmt die anderen, wie sie sind.» Und fügt hinzu: «Es hat Zeit gekostet, aber letztlich habe ich meinen Platz gefunden. An dem Tag, an dem wir nicht mehr unsere Sexualität einfordern müssen, haben wir viel erreicht.» Ende November war die Waadtländer Stimmbevölkerung aufgerufen, über das automatische aktive und passive Stimmrecht für Menschen mit geistiger oder psychischer Beeinträchtigung abzustimmen. Carlos – der stimmberechtigt ist – schloss sich sofort seinen mit Transparenten ausgerüsteten Kamerad:innen von Eben-Hézer an, um dieses Grundrecht zu verteidigen. Auf dem Transparent von Carlos Correvon war zu lesen: «Black, gay, behindert – Stimmrecht für alle.»
Der Verein VOQUEER
Der vormals Vogay genannte Verein Voqueer wurde 1996 in Lausanne gegründet. Zunächst beschäftigte er sich mit Fragen im Zusammenhang mit Homosexualität und Bisexualität. Dann erweiterte er seinen Tätigkeitsbereich auf sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und tritt heute für die Interessen der gesamten LGBTIQ+-Gemeinschaft ohne Diskriminierung ein. Voqueer bietet für junge Menschen, Senior:innen, Menschen mit Beeinträchtigung, alle LGBTIQ+-Personen und ihr Umfeld sowie Fachkräfte verschiedene Gruppen und Begegnungsräume an.
Foto: Thomas Brasey