Das EPD: Ein ­Jahrzehnteprojekt

03.05.2023 Elisabeth Seifert

Erste Pflegeheime nutzen das elektronische Patientendossier und machen sogar Werbung dafür: Les Mouilles in Petit-Lancy GE und der Lindenhof in Oftringen AG. Eine Mehrheit der Heime ist dabei noch nicht einmal an das EPD angeschlossen. Verantwortliche von Bund und Kantonen erläutern, was es braucht, um das Patientendossier voranzubringen.

«Ich bin eine visionäre Person», sagt Pascale Covin. Die Pflegedienstleiterin des Pflegeheims Les Mouilles in der Genfer Gemeinde Petit Lancy arbeitet seit über zehn Jahren mit einem elektronischen Patientendossier (EPD). Zunächst mit dem auf den Kanton Genf beschränkten «mon dossier médical» und seit Ende 2021 mit der nach bundesgesetzlichen Vorgaben konzipierten Version. Sie macht das, obwohl das EPD noch so manche Hürde nehmen muss, bis es seine volle Wirkung entfalten wird. «Ich glaube stark daran, dass unser Gesundheitssystem einen grossen Gewinn davon haben wird, wenn wir mit dem EPD einen gemeinsamen Ort haben, wo sämtliche behandlungsrelevanten Dokumente eingespeist und eingesehen werden können.» 


«Das ist ein grosser Gewinn für uns. Wir können so die Pflege rasch entsprechend anpassen.»


«Im Rahmen der Anmeldung fürs Pflegeheim fragen wir die neu Eintretenden jeweils, ob sie ein EPD wünschen», erläutert Pascale Covin das Prozedere. Eine Frage, die von den Bewohnenden oder ihren Angehörigen in aller Regel bejaht wird. Von den 78 Bewohnenden des Pflegeheims Les Mouilles verfügen alle über ein elektronisches Patientendossier. Das Heim respektive die Pflegedienstleiterin unterstützt sie bei der Eröffnung – und übernimmt zudem bei der Betreuung der Dossiers die Funktion als Vertreterin aller Bewohnenden. Pascale Covin stellt dabei selbst – noch – keine heimspezifischen Dokumente in die EPD, sondern nützt die Dossiers, um rasch und unkompliziert die Krankheitsgeschichte der Bewohnenden verfolgen zu können. Vor allem die Spitäler, allen voran das Universitätsspital Genf (HUG), stellen derzeit ihre Dokumente ins EPD. «Das ist ein grosser Gewinn für uns. Wir können so die Pflege rasch entsprechend anpassen.» 

Das Heim werde dann selbst Dokumente ins EPD einspeisen, sobald eine kostengünstige Software-Lösung besteht, mittels der die relevanten Dokumente gleichsam automatisch – und damit vollständig und ohne grösseren Aufwand – in die EPD fliessen. Covin spricht damit auf die gerade für kleinere Leistungserbringer noch zu aufwendige Integrationslösung an. Mit der derzeit allgemein üblichen Webportal-Lösung müsste Pascal Covin jedes Dokument vom internen System zunächst herunterladen und dann ins EPD des Bewohners oder der Bewohnerin hochladen. Die Stammgemeinschaft Cara, in der ein grosser Teil der Westschweizer Leistungserbringer zusammengeschlossen ist, sei derzeit daran, wie Pascale Covin hervorhebt, in Zusammenarbeit mit Softwareanbietern eine entsprechende Lösung zu finden. Sobald diese eingeführt werden kann, dürfte das EPD rasch an Bedeutung gewinnen, ist sie überzeugt.

Die Stiftung Lindenhof macht aktiv Werbung

«Wenn das EPD überall greift und alle mitmachen, sowohl die Leistungserbringer als auch die Bevölkerung, dann sehen wir eine riesige Chance.» Das sagt Isabelle Kuhn, stellvertretende Geschäftsführerin der Stiftung Lindenhof im aargauischen Oftringen. Ganz ähnlich wie Les Mouilles wartet dabei auch der Lindenhof mit der Nutzung des EPD nicht so lange zu, bis alles perfekt läuft. «Wir wollen aktiv vorangehen», betont Isabelle Kuhn.


«Ein Interesse stellen wir vor allem bei den selbstständigeren Bewohnenden fest.»


Dazu gehört etwa, dass der Lindenhof seiner internen und auch externen Kundschaft gegen ein kleines Entgelt die Betreuung des EPD anbietet. Gestartet worden ist das Angebot vor rund einem Jahr. Im letzten Frühling hat der Lindenhof zudem in Zusammenarbeit mit Verantwortlichen der Stammgemeinschaft Emedo, die im Kanton Aargau alle Aktivitäten rund um das EPD verantwortet, an mehreren öffentlichen Veranstaltungen die interessierte Bevölkerung dazu aufgefordert, ein elektronisches Patientendossier zu eröffnen.

Im Heim selbst werden die neu eintretenden Bewohnerinnen und Bewohner wie im Pflegeheim Les Mouilles jeweils danach gefragt, ob sie ein EPD möchten. 26 der insgesamt 78 Bewohnenden haben ein Dossier. «Ein Interesse stellen wir vor allem bei den selbstständigeren Bewohnenden fest», sagt Isabelle Kuhn. Die meisten werden dann bei der Betreuung ihres EPD von Andrea Nyffenegger, der Bereichsleiterin Langzeitversorgung, unterstützt. 

«Wir stellen alle Dokumente, die der Kunde oder die Kundin wünscht, ins EPD», unterstreicht Isabelle Kuhn. Während die Behandlungsdokumente der Spitäler vielfach automatisch ins EPD fliessen, ist das bei den Dokumenten des Heims sowie anderer Leistungserbringer – noch – nicht der Fall. Der Lindenhof arbeitet derzeit mit der Webportal-Lösung, bei der mehrere Arbeitsschritte nötig sind, um heiminterne Dokumente in das EPD der Bewohnenden zu laden. Dokumente von ambulanten Leistungserbringern wie Apotheken oder Ärztinnen und Ärzten, die vielfach noch gar nicht an das EPD angeschlossen sind, muss der Lindenhof eigens von diesen einfordern, vielfach noch einscannen und dann ins EPD hochladen. 

Der Aufwand sei, wie Isabelle Kuhn unterstreicht, vertretbar und rechtfertige sich durch den Nutzen. Ein solcher bestehe zum einen für das Heim: «Wenn eine Kundin oder ein Kunde aus dem Spital zurückkehrt, sehen wir den ganzen Behandlungsverlauf, ohne beim Spital aktiv nachfragen zu müssen.» Und zum anderen für die Bewohnerinnen und Bewohner. «Sie haben alle Informationen, die sie wünschen, an einem Ort und können jederzeit über ihr Smartphone darauf zugreifen.» Einige der Bewohnenden verweisen denn auch im Kontakt mit dem Spital und dem Arzt oder der Ärztin selbstbewusst auf ihr EPD. Das Patientendossier stärke die Selbstbestimmung, so Isabelle Kuhn und fügt schmunzelnd bei: «Wir stellen immer wieder fest, wie Bewohnende gegenüber den Leistungserbringern eigentliche Aufklärungsarbeit für das EPD leisten.»

Hohe Anbindungsquote in einzelnen Regionen

Es dürfte in der Schweiz zurzeit wenige Pflegeheime geben, die das EPD so aktiv bewerben und nutzen wie Les Mouilles in Petit-Lancy und der Lindenhof in Oftringen. Gut zwei Drittel aller Heime sind noch nicht einmal an das EPD angeschlossen, verfügen also gar nicht über die Voraussetzungen, mit dem EPD zu arbeiten. Ähnliches trifft im Übrigen auch auf Spitäler, Rehakliniken und Psychiatrien zu, von denen ebenfalls eine Mehrheit noch keine Anbindung ans EPD hat. Sowohl Pflegeheime also auch Spitäler wären dabei – im Unterschied zu einem grossen Teil der ambulanten Leistungserbringer – seit geraumer Zeit vom Gesetz her dazu verpflichtet.

Auffallend ist indes, dass bei der Anbindungsquote grosse regionale Unterschiede bestehen. Zuständig für sämtliche Aktivitäten rund um das EPD, sowohl für die Anbindung der Leistungserbringer als auch für die Eröffnungsmodalitäten eines Dossiers durch Patientinnen und Patienten, sind acht (Stamm-)Gemeinschaften. Dabei handelt es sich um regionale respektive überregionale Zusammenschlüsse von Leistungserbringern. Träger dieser als Vereine oder Verbände organisierten (Stamm-)Gemeinschaften sind teilweise die Kantone. 

«Die Unterstützung der Kantone sind einer der Erfolgsfaktoren dafür, dass Leistungserbringer sich anbinden.»


Auf dem Gebiet der Stammgemeinschaft Cara, welche die Kantone Genf, Waadt, Wallis, Fribourg und Jura umfasst, sind praktisch alle Spitäler und Kliniken und auch alle Pflegeheime ans EPD angebunden. Gleiches gilt für den Kanton Aargau, dem Tätigkeitsgebiet der Stammgemeinschaft Emedo. Andere Regionen der Schweiz sind bedeutend weniger weit. Ein wichtiger Faktor für den Erfolg des EPD sind denn auch die Kantone. «Die Unterstützung der Kantone sind einer der Erfolgsfaktoren dafür, dass Leistungserbringer sich anbinden», sagt Isabelle Gassmann, Verantwortliche für Information und Befähigung bei eHealth Suisse. 

Für die Kantone, die hinter der Stammgemeinschaft Cara stehen, ist das EPD Teil ihres Service public. Wie Daniel Rohrer, operativer Direktor von Cara, ausführt, übernehmen die Kantone deshalb praktisch alle Kosten, die für die Leistungserbringer entstehen. So müssen diese keine Gebühren für die Mitgliedschaft bei der Stammgemeinschaft zahlen. Kostenlos für die Leistungserbringer ist auch der Zugang zur Webportal-Lösung einschliesslich der dafür nötigen Schulungen fürs Personal. Kostenpflichtig sei einzig, wie Daniel Rohrer betont, die Einrichtung der Integrationslösung, über die derzeit aber erst wenige Institutionen verfügen. Der Anschluss an das Webportal sei zudem aufgrund der Online-Dienstleistungen von Cara schnell und einfach zu bewältigen. 


«Wir stellen immer wieder fest, wie Bewohnende ­gegenüber ­Leistungserbringern eigentliche ­Aufklärungsarbeit für das EPD ­leisten.»


Im Kanton Aargau müssen die Leistungserbringer zwar für die Mitgliedschaft bei der Stammgemeinschaft Emedo einen Beitrag entrichten, darin sind dann aber sämtliche Dienstleistungen rund um den Anschluss an das Web-Portal der Stammgemeinschaft eingeschlossen. Ähnlich wie bei Cara ist auch hier der Anbindungsprozess rasch und unkompliziert zu bewältigen. «Emedo ist hochautomatisiert und digital», betont Emedo-Geschäftsführer Nicolai Lütschg. Er spricht damit etwa auf den digitalen Anbindungsvertrag sowie die eLearnings für das Personal an. Und sollte ein Leistungserbringer dennoch Probleme haben, dann bietet Emedo kostenlose Unterstützung an.

Das EPD wird – noch – kaum genutzt

Obwohl sich in der Westschweiz und im Aargau praktisch alle Leistungserbringer, die vom Gesetz her dazu verpflichtet sind, an das EPD angeschlossen haben, wird dieses noch wenig genutzt. Schweizweit gibt es derzeit gerade mal rund 18 000 EPDs, viele davon im Kanton Genf, wo aufgrund des kantonalen Vorgängerprojekts, dem «mon dossier médical», eine lange Tradition besteht. Besonders wenige Dossiers sind bis jetzt von Bewohnerinnen und Bewohnern von Pflegeheimen eröffnet worden. 

«Das EPD ist ein Jahrzehnteprojekt und lässt sich nicht von heute auf morgen realisieren», sagt André Rotzetter. Er ist Präsident des Trägervereins Emedo. Zudem präsidiert er den Branchenverband CURAVIVA im Kanton Aarau und ist Geschäftsführer des Vereins Altersbetreuung im Oberen Fricktal. Obwohl er bereits vor zehn Jahren in einer Arbeitsgruppe des Kantons zum Aufbau des EPD mitgewirkt hat, gehört sein Betrieb, anders als etwa der Lindenhof in Oftringen, nicht zu den Vorkämpfern in Sachen EPD. Im Verein Altersbetreuung im Oberen Fricktal hat niemand der Bewohnenden ein Dossier, und Rotzetter verzichtet auch darauf, aktiv Werbung dafür zu machen. 


«Leistungserbringer können uns ­buchen, und wir eröffnen dann vor Ort für Bewohnende oder ­Patientinnen und Patienten ein EPD.»


«Wir sind an das EPD angebunden, zahlen unseren Mitgliederbeitrag, nutzen das Dossier derzeit aber nicht», hält der Aargauer CURAVIVA-Präsident fest. Den Aufwand für die Leistungserbringer erachtet er im Vergleich zum Nutzen derzeit schlicht für zu hoch. Er ist aber davon überzeugt, dass sich dies innerhalb weniger Jahre ändern werde. Zum einen spricht er damit auf Bemühungen vonseiten der Stammgemeinschaft Emedo an, eine kostengünstige Lösung für die Vollintegration zu finden, bei der die institutionsinternen Dokumentationssysteme direkt mit dem EPD kommunizieren. Rotzetter: «Mit der Integrationslösung wird sich die Nutzung aufseiten der Leistungserbringer stark vereinfachen.» 

Zum anderen setzt Rotzetter die Hoffnung darauf, dass bei immer mehr Dokumenten vonseiten des Bundes «strukturierte Daten» eingeführt werden, so zum Beispiel beim Impfausweis oder auch bei der Medikation. Damit werden die entsprechenden Daten laufend aktualisiert – und ersetzen die derzeitigen PDF-Dateien. Sowohl der Ersatz der Webportal-Lösung durch die Integration als auch die Einführung strukturierter Daten dürften dann automatisch dazu führen, so Rotzetter, dass immer mehr Patientinnen und Patienten ein EPD eröffnen und sich auch immer mehr Leistungserbringer dem EPD anschliessen, gerade auch Ärztinnen und Ärzte sowie Apotheken. 

Bundesamt plant eine Kampagne

Um die Nutzung des EPD voranzutreiben, setzen auch die beiden Geschäftsführer von Emedo und Cara, Nicolai Lütschg und Daniel Rohrer, auf eine kostengünstige Integra­tionslösung sowie die Einführung strukturierter Daten. Darüber hinaus verweisen sie aber auch auf die Notwendigkeit, Werbung für das EPD zu machen – sowohl bei den Leistungserbringern also auch bei Patientinnen und Patienten. 


«Die Leistungserbringer müssten zudem per Gesetz nicht nur verpflichtet werden, sich an das EPD anzubinden, sondern dieses auch zu nutzen.»


Die Stammgemeinschaft Cara unternehme, so Rohrer, verstärkt Bemühungen, um die Leistungserbringer dazu zu bewegen, das EPD aktiv zu nutzen. Cara biete Schulungen an und leiste Supportdienst. «Die Leistungserbringer müssten zudem per Gesetz nicht nur verpflichtet werden, sich an das EPD anzubinden, sondern dieses auch zu nutzen», so Rohrer. Cara versuche auch, die Leistungserbringer zu ermutigen, Patientinnen und Patienten von den Vorteilen eines EPD zu überzeugen.

Im Mitgliederbeitrag der Stammgemeinschaft Emedo ist die Dienstleistung einer mobilen EPD-Eröffnungsstelle inbegriffen: «Leistungserbringer können uns buchen, und wir eröffnen dann vor Ort für Bewohnende oder Patientinnen und Patienten ein EPD und beraten interessierte Personen», erläutert Geschäftsführer Nicolai Lütschg. Emedo arbeite zwecks Marketing zudem mit einer Reihe von Patientenorganisationen zusammen.

«Ein Grund für die verhaltene Nachfrage nach einem EPD aufseiten der Bevölkerung ist darauf zurückzuführen, dass das Angebot noch schlicht zu wenig bekannt ist», führt Isabelle Gassmann von eHealth Suisse aus. Das Bundesamt für Gesundheit plane deshalb noch in diesem Jahr eine nationale Kampagne. «Je mehr Menschen ein EPD haben und ihre Behandelnden auffordern, die wichtigsten Unterlagen im Dossier abzulegen, desto grösser wird der Nutzen des EPD.»


«Mit dieser schrittweisen Weiterentwicklung wird das EPD weiter an Nutzen gewinnen.» 


Noch in diesem Jahr werde der Impfausweis in strukturierter Form verfügbar sein, hält Gassmann fest. Im nächsten Jahr folge der Medikationsplan. Zudem werden die gesetzlichen Grundlagen für das Austauschformat eRezept in Kraft treten. Darüber hinaus werde an weiteren strukturierten Daten wie eAllergie- und eNotfallpass gearbeitet. Gassmann: «Mit dieser schrittweisen Weiterentwicklung wird das EPD weiter an Nutzen gewinnen.» 


 

Foto: Lindenhof