«Die Heime sind Teil des Gesundheitswesens»

08.02.2023 Elisabeth Seifert

Bund und Kantone sollen mehr Verantwortung in der ­stationären Langzeitpflege übernehmen – mittels Vorgaben und finanzieller Unterstützung. Das fordert ein nationales Komitee aus Expertinnen und Experten. Gabriela Bieri, Ärztliche Direktorin der Gesundheitszentren der Stadt ­Zürich für das Alter* und Mitglied der Kerngruppe des ­Komitees, erläutert die Empfehlungen.

Frau Bieri, ein nationales Komitee, in dem Sie wesentlich mitgewirkt haben, kommt zum Schluss, dass die Coronapandemie längst bestehende grundsätzliche Probleme der stationären Langzeitpflege sichtbar gemacht hat: Woran denken Sie hier ganz besonders?

Die Bedürfnisse der Bewohnenden ­haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Das klassische Altersheim, wo man vor allem aus sozialen Gründen wohnt, das gibt es nur noch sehr selten. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben hohe Ansprüche an die Rehabilitation, sie haben oft Demenz oder eine andere psychische Erkrankung. Die ärztliche und pflegerische Versorgung der Heimbewohnenden hat sich aber oft noch nicht an diese veränderte Situation der Bewohnenden angepasst.

«Da es aber immer weniger Hausärztinnen und Hausärzte gibt, finden diese kaum mehr Zeit, die Bewohnenden in den Heimen zu besuchen.» 

Können Sie das konkretisieren?

In einem grossen Teil der Kantone erfolgt die ärztliche Versorgung der Heim­bewohnenden durch Hausärztinnen und Hausärzte. Da es aber immer weniger Hausärztinnen und Hausärzte gibt, finden diese kaum mehr Zeit, die Bewohnenden in den Heimen zu besuchen. Hinzu kommt, dass es für die Hausärzte auch finanziell nicht attraktiv ist, solche Besuche in den Heimen zu machen. Anders als etwa im Kanton Zürich gibt es in vielen Kantonen keinen zuständigen Heimarzt. Es gibt also niemanden, der die spezifischen Bedürfnisse der Bewohnerschaft kennt und für generelle Massnahmen zuständig ist. Zum Beispiel die Hygiene oder epidemiologische Fragen betreffend, was gerade in der Coronazeit von grosser Bedeutung war.
 

Neben der ärztlichen Versorgung haben Sie auch die Pflege angesprochen …

Der Kanton Zürich und auch viele anderen Kantone machen Vorgaben bezüglich der Anzahl und der Qualifikation von Fachpersonen. Das sind aber Minimalanforderungen, die aufgrund der Struktur der Bewohnerschaft eigentlich zu tief sind. Aufgrund der angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt lassen sich nicht einmal diese erfüllen. Zudem braucht es spezialisierte Fachpersonen wie Pflegeexpertinnen, Demenz- und Psychiatrieexpertinnen oder Hygienefachfrauen.

«Vor der Pandemie konnte man die fehlenden fachlichen Ressourcen gerade noch knapp kompensieren.»

Inwiefern hat die Pandemie diese Situation akzentuiert?

Vor der Pandemie konnte man die fehlenden fachlichen Ressourcen gerade noch knapp kompensieren. Während der Zeit der Pandemie aber sind viele, gerade auch kleinere Heime oft in schwierige Situationen geraten.
Wir als Gesundheitszentren der Stadt Zürich haben profitiert von unserer Grösse. Wir hatten genügend Fachpersonal, genügend Ärztinnen und Ärzte, die sich um die Bewohnenden kümmern konnten bzw. die intern verschoben werden konnten, und auch ein Hygieneteam. Auch wir hatten natürlich Ausfälle bei den Mitarbeitenden, was eine hohe Arbeitsbelastung zur Folge hatte.
 

Welche Schwierigkeiten gerade der kleineren Heimen sprechen Sie besonders an?

Etliche Hausärztinnen und Hausärzte kamen zum Beispiel in der ersten Welle nicht mehr ins Heim, wenn ihr ­Patient oder ihre Patientin Covid-positiv war. Die Bewohnenden wurden dann sehr schnell hospitalisiert. Innerhalb der Zürcher Gesundheitszentren haben wir mit den Bewohnenden im Vorfeld über ihre Behandlungsziele gesprochen und nicht erst in einer akuten Situation. Die gesundheitliche Vorausplanung ist in den Heimen sehr wichtig, das wurde in der Pandemie überdeutlich.

«Und hier fehlt in der Langzeitpflege bis jetzt oft noch das nötige ­Wissen zu spezifischen Hygienefragen.»

Hätten auch die Kontaktverbote verhindert oder zumindest gelockert werden können?

Die Fachlichkeit spielt auch hier eine wichtige Rolle. Mit entsprechenden Hygienemassnahmen konnte der persönliche Kontakt oft aufrechterhalten werden. Und hier fehlt in der Langzeitpflege bis jetzt oft noch das nötige ­Wissen zu spezifischen Hygienefragen.
 

Sie kommen immer wieder auf die fehlenden Ressourcen zu sprechen. Der Expertenbericht nimmt diesbezüglich besonders die Behörden und die Politik in die Pflicht: Was ist zu tun?

Wir haben zunächst ein strukturelles Problem: In grossen Teilen der Schweiz gehören die Pflegeheime zu den Auf­gaben der Gemeinden, das ist auch im Kanton Zürich so. Vor allem in kleineren Gemeinden fehlen aber oft schlicht die nötigen Kapazitäten, um die ­Heime zu unterstützen. Der Kanton Zürich hat im Verlauf der Pandemie eine gewisse Verantwortung übernommen, etwa bei der Bereitstellung von Schutzmaterial oder bei der Suche nach freien Betten in den Spitälern.
 

Der Expertenbericht fordert ein stärkeres Engagement der Kantone und auch des Bundes?

Das Problem besteht darin, dass sich der Bund ganz aus der Verantwortung stiehlt und auch viele Kantone hier viel zu wenig unternehmen. Es braucht ­Regelungen auf Bundes- und Kantons­ebene. Der Bund muss die gesetzlichen Rahmenbedingungen definieren und die Kantone müssen die Verantwortung für die Leistungsverträge mit den Heimen übernehmen. Bis jetzt kontrollieren die Kantone vor allem die bau­lichen Rahmenbedingungen sowie personelle Minimalanforderungen. Neu gibt es auch gewisse Anforderungen an Konzepte, im Bereich Demenz zum Beispiel. Mit solchen Konzepten alleine ist aber noch nicht viel erreicht.

«Aufgrund der immer komplexeren gesundheitlichen Situation der Bewohnenden übernehmen die Heime eine immer wichtigere Aufgabe. Deshalb müssen sie entsprechend ­eingebettet sein.»

Sie nehmen ganz besonders auch den Bund in die Pflicht, obwohl die Heime zum Aufgabenfeld der Kantone oder sogar der Gemeinden gehören?

Aus unsrer Sicht ist es zentral, dass der Bund gewisse Vorgaben macht, gerade weil das Vorgehen der Kantone oder der Gemeinden sehr heterogen ist. Da die Heime ein Teil des Gesundheitswesens und nicht nur soziale Institutionen sind, kann sich der Bund nicht völlig aus der Verantwortung nehmen. Aufgrund der immer komplexeren gesundheitlichen Situation der Bewohnenden übernehmen die Heime eine immer wichtigere Aufgabe, deshalb müssen sie entsprechend eingebettet sein. Gerade in der ärztlichen Versorgung braucht es gewisse Vorgaben des Bundes, zum Beispiel was die Zuständigkeit eines Heimarztes oder einer Heimärztin betrifft und auch bezüglich der Finanzierung für die Heime, sei es in der Pflegefinanzierung oder im ärztlichen Tarif.
 

Gibt es Kantone, die aus Ihrer Sicht beispielhaft sind?

Der Kanton Waadt zum Beispiel erlässt Regelungen zur Qualität der ärztlichen Versorgung in den Heimen, und die Ärztinnen und Ärzte, die sich hier engagieren, bekommen ein bestimmtes Entgelt dafür. Einige andere Kantone, wozu auch Zürich gehört, verlangen jetzt immerhin die Benennung eines Heimarztes. Im Kanton Tessin zum Beispiel muss der Heimarzt respektive die Heimärztin Teil der Geschäfts­leitung eines Heimes sein.

«Wichtig ist, dass jedes Heim über einen geriatrischen und auch einen geronto­psy­chiat­rischen Konsiliardienst verfügt.»

Fordern Sie für jedes Heim einen Heimarzt oder eine Heimärztin?

Es muss nicht jedes Heim selbst einen Heimarzt anstellen, das wird gar nicht möglich sein. Wichtig ist aber, dass jedes Heim über einen geriatrischen und auch einen gerontopsychiatrischen Konsi­liardienst verfügt. Dadurch wird sichergestellt, dass ein Geriater regelmässig vor Ort ist, das Pflegeteam berät und gerade auch die Prävention fördert, zum Beispiel beim Thema Mangelernährung oder Sturz. Weiter braucht es auch die Zusammenarbeit mit weiteren Spezialistinnen und Spezialisten, zum Beispiel mit einer Infektiologin oder einem Infektiologen.
 

Neben der ärztlichen Versorgung braucht es aber auch eine Stärkung der Pflege?

Ja, es braucht auch eine Stärkung der Pflege, und zwar gerade auch, was die Qualifikation der Pflegenden betrifft, besonders auch im Bereich Geriatrie. Zudem bedeutet eine Investition in einen ärztlichen Konsiliar- oder Liaisondienst eine Entlastung für die Pflege. Die Pflegenden haben nämlich dann eine konstante ärztliche Ansprechperson, die sie bei komplexen Problemen unterstützen kann.
 

Im Expertenbericht werden ex­plizit auch eine Anpassung der Pflegefinanzierung auf Bundes­ebene sowie eine bessere Ausgestaltung der Restfinanzierung aufseiten der Kantone gefordert …

Wir sind bei diesen Finanzierungs­fragen auf Bundes- und Kantonsebene schon sehr lange dran. Die Pandemie hat die schwierige Situation der Heime offengelegt und wir hoffen, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit jetzt dazu führen wird, dass hier etwas weitergeht. Die Annahme der Pflegeini­tiative ist ein wichtiger Schritt. Die Stadt Zürich hat die Löhne des Pflegepersonals analysiert und Verbesserungen bereits umgesetzt. Mit der Stadt Zürich, die für die Restfinanzierung zuständig ist, haben wir generell eine in sozialen Fragen engagierte Partnerin. Das ist aber in vielen Gemeinden der Schweiz anders. Generell bin ich eher skeptisch, dass sich bei der Finanzierung viel verändern wird.

«Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit und Vernetzung.»

Welche anderen respektive ­weiteren Möglichkeiten bestehen denn aus Ihrer Sicht, um die ­Situation zu verbessern?

Neben den erwähnten strukturellen Anpassungen müssen wir zum einen die Pflegenden sowie die Ärztinnen und Ärzte mit Blick auf die spezifischen Bedürfnisse der Bewohnerschaft besser ausbilden. Und zum anderen brauchen wir eine bessere Zusammenarbeit und Vernetzung.
 

Können Sie diese Vernetzung konkretisieren?

Es braucht mehr Fachpersonals in den Heimen. Und wenn Heime es von ihrer Grösse her nicht schaffen, Spezialistinnen und Spezialisten anzustellen, dann braucht es Zusammenarbeitsstrukturen, um sich Expertinnen und Experten zu teilen. Ich habe zuvor die ärztlichen Konsiliardienste erwähnt. So könnten sich zum Beispiel mehrere Heime für solche Zwecke zusammenschliessen oder sie könnten auch Zusammenarbeitsverträge mit einem Spital machen. Heime könnten auch auf mobile Palliativ-Care-Dienste der Spitex zurückgreifen.
 

Sie nehmen damit auch die Institutionen selbst in die Pflicht?

Ohne Vernetzung geht es nicht. Fälschlicherweise empfinden es heute immer noch viele Heime als Armutszeugnis, externe Fachpersonen beizuziehen. Auch wir, die Gesundheitszentren der Stadt Zürich, sind sehr gut vernetzt, was uns gerade auch in der Pandemie geholfen hat. Ich spreche hier insbesondere die Zusammenarbeit mit dem Stadtspital Zürich und der Spitex an.

«Um gutes Personal zu finden und zu halten, ist Weiterbildung zentral. »

Neben einer verbesserten Zusammenarbeit räumen Sie auch der Bildung einem grossen Wert ein?

Bildung ist ein wichtiges Thema. Und zwar neben den Pflegenden gerade auch bei den Ärztinnen und Ärzten. In den Bereichen Palliative Care und Geriatrie benötigen auch sie zusätzliches Wissen. Zudem ist für viele Ärztinnen und Ärzte die interprofessionelle Zusammenarbeit mit der Pflege noch nicht sehr üblich.
 

Weiterbildungen tragen auch zur Attraktivität des Berufs bei?

Um gutes Personal zu finden und zu halten, ist Weiterbildung zentral. Wir müssen gut zum Personal schauen. Weiterbildungen sind interessant und tragen dazu bei, den Herausforderungen im Alltag gewachsen zu sein. Darüber hinaus sind aber natürlich auch attraktive Arbeitsbedingungen, wie etwa flexible Arbeitszeiten und gute Dienstpläne, erforderlich.
 


Empfehlungen eines nationalen Komitees

Ein nationales Komitee, bestehend aus rund 40 Expertinnen und Experten, hat auf Anregung der Swiss National Covid-19 Science Task Force im Rahmen der Pandemie erkannte Probleme und Herausforderungen in der stationären Langzeitpflege analysiert und daraus Empfehlungen erarbeitet. Diese richten sich an Bund und Kantone sowie an Verbände, Ausbildungsins­titutionen und Fachgesellschaften. ­Mitgewirkt im Komitee haben auch Vertretende des Branchenverbands CURAVIVA.

www.bioethics.ch/sgbe/artikel 



Gabriela Bieri-Brüning (62), Dr. med., ist Geriaterin im Langzeitbereich. Sie ist Zürcher Stadtärztin, Chefärztin des Geriatrischen Dienstes und ärztliche Direktorin der Gesund­heitszentren für das Alter der Stadt Zürich. Die Gesundheitszentren – entstanden aus dem Zusammenschluss der Pflegezentren und der Alterszentren der Stadt Zürich – sind das Zuhause von über 3000 älteren Menschen. Die Gesundheitszentren verfügen über 40 Standorte, die über das gesamte Stadtgebiet verteilt sind. Rund 3300 Mitarbeitende und 900 Lernende, Studierende oder Praktikantinnen und Praktikanten aus über 100 Nationen arbeiten hier.

 

Foto: Gesunheitszentren