ERFAHRUNG TEILEN | «Selbsthilfegruppen stärken die Selbstkompetenz»

14.12.2022 Elisabeth Seifert

Der Austausch unter Menschen in ähnlichen Situationen wirkt sich auf der individuellen und der gesellschaftlichen Ebene positiv aus. Lukas Zemp, Geschäftsführer der Stiftung Selbsthilfe Schweiz, setzt sich für eine gesetzliche Verankerung der Selbsthilfe ein – und bemüht sich um Partnerschaften mit Organisationen im Sozial- und Gesundheitsbereich.

Herr Zemp, die Stiftung Selbsthilfe Schweiz engagiert sich für die ­Anliegen der gemeinschaftlichen Selbsthilfe. Was ist das genau?

Bei der gemeinschaftlichen Selbsthilfe schliessen sich Menschen mit denselben Problemen, einem gemeinsamen Anliegen oder in einer gleichen Lebenssituation zusammen, um sich gegenseitig zu helfen. Die Gruppen gestalten ihre Gespräche sorgfältig. Sie werden in der Anfangsphase und bei allfälligen Schwierigkeiten von Fachpersonen in den regionalen Selbsthilfezentren begleitet. Die gemeinschaftliche Selbsthilfe kann bei psychischen und körperlichen Erkrankungen oder Beeinträchtigungen oder in sozialen Lebensfragen Halt und Unterstützung geben. Die Teilnehmenden verstehen sich dabei als Expertinnen und Experten auf ihrem Gebiet.
 

… steht die gemeinschaftliche Selbsthilfe damit in einem gewissen Spannungsfeld zur Expertise der Fachpersonen?

Die Selbsthilfe ersetzt nicht die fachliche Unterstützung, ist aber in den genannten Bereichen komplementär sehr hilfreich. In der Schweiz ist die gemeinschaftliche Selbsthilfe in den 80er-Jahren aus dem Wunsch heraus entstanden, die eigenen Ressourcen zu stärken und damit die Selbstkompetenz zu fördern. Ganz ähnlich funktionieren auch Ansätze des Empowerments. Auch hier geht es darum, die Selbstheilungskräfte zu aktivieren und Selbstwirksamkeit erleben zu können. Gemeinschaftlich organisierte Selbsthilfegruppen bieten einen guten Rahmen, um sich partnerschaftlich, auf Augenhöhe und ohne Bevormundung begegnen zu können.
 

Wo steht die gemeinschaftliche Selbsthilfe heute nach den Anfängen vor rund 40 Jahren?

Entsprechend der Idee der gemeinschaftlichen Selbsthilfe handelte es sich vor allem zu Beginn um eine klassische Bottom-up-Bewegung, eine Bewegung also, die von den betroffenen Menschen selbst ins Leben gerufen und vorangetrieben worden ist. Im Lauf der Zeit haben sich dann professionelle Strukturen entwickelt, um die Qualität der gemeinschaftlichen Selbsthilfe zu fördern und die Anliegen der Selbsthilfe in der Öffentlichkeit bekannter zu machen. Seit gut 20 Jahren gibt es die Stiftung Selbsthilfe Schweiz, die als Koordinations- und Dienstleistungsstelle von 22 regionalen Selbsthilfezentren agiert. Die einzelnen Selbsthilfezentren sind Anlauf- und Beratungsstellen für die Selbsthilfegruppen.
 

Konkret: Wie viele Selbsthilfegruppen gibt es heute?

Schweizweit existieren heute rund 2800 lokale Selbsthilfegruppen zu rund 300 Themen. Insgesamt nehmen rund 45 000 Menschen an den Treffen teil. Drei ­Viertel der Selbsthilfegruppen sind im psychischen und somatischen Bereich ange­siedelt und rund ein Viertel im sozialen Bereich. Auffallend ist, dass im ­Gesundheitsbereich der Anteil an Gruppen mit psychosomatischen und ­psychologischen Themen gegenüber rein somatischen Themen laufend zunimmt. Diese Entwicklung bildet die gesellschaftlichen Problemlagen ab.
 

Neben diesen Selbsthilfegruppen bestehen auch eigentliche Selbsthilfeorganisationen?

Es gibt schweizweit über 200 Selbsthilfeorganisationen. Diese sind themenspezifisch ausgerichtet und stärker strukturiert als die lokalen Selbsthilfegruppen. Diese Selbsthilfeorganisationen, die zum Netzwerk von Selbsthilfe Schweiz gehören, engagieren sich in der Beratung und der Interessenvertretung. Ähnlich wie die regionalen Selbsthilfezentren koordinieren und begleiten sie zudem Selbsthilfegruppen. Das sind zum einen autonome Gruppen wie in der klassischen gemeinschaftlichen Selbsthilfe oder in Video-­Selbsthilfegruppen, aber auch fachgeleitete Gruppen, bei denen Fachpersonen an den Treffen direkt teilnehmen.

«Der Einsatz von Peers ist zwischen der gemeinschaftlichen und der fachgeleiteten Selbsthilfe angesiedelt.»

Wie und wo verorten Sie die Unterstützung durch Peers?

«Peers» sind zunächst einfach «Gleich­betroffene». Vor allem im psychischen Bereich und im Rahmen der Recovery-Bewegung sind Peers eigentliche «Expertinnen oder Experten aus eigener Erfahrung», die zusätzlich eine spezifische Ausbildung durchlaufen und in Institutionen als Mitarbeitende angestellt werden.
 

… Peers werden damit zu einer Art Fachpersonen?

Der Einsatz von Peers ist zwischen der gemeinschaftlichen und der fachgeleiteten Selbsthilfe angesiedelt. Vor allem innerhalb der Selbsthilfeorganisationen aber auch bei Selbsthilfe Schweiz respektive den Selbsthilfezentren wird derzeit darüber diskutiert, welche Rolle Peers übernehmen können. Es gibt hier aber eine Reihe von Fragen. Dies beginnt mit der Definition von Peers. Handelt es sich hierbei um Betroffene respektive um Betroffene mit zusätzlichem Wissen, oder sind es betroffene Fachpersonen?
 

Zurück zur gemeinschaftlichen Selbsthilfe: Wo steht die Schweiz im internationalen Vergleich?

Seit vielen Jahren hat die Stiftung Selbsthilfe Schweiz einen Leistungsauftrag des Bundesamtes für Sozialversicherung und zudem werden wir mit Beiträgen der Kantone unterstützt. All diese Beiträge decken aber nur einen Teil der effektiven Kosten der Selbsthilfebewegung ab. International sieht es ganz anders aus …

«In Deutschland hat die gemeinschaftliche Selbsthilfe bereits seit vielen Jahren einen gesetzlich verankerten Auftrag und wird finanziell entsprechend unterstützt.»

Was bedeutet das konkret?

Namentlich in Deutschland hat die gemeinschaftliche Selbsthilfe bereits seit vielen Jahren einen gesetzlich verankerten Auftrag und wird finanziell entsprechend unterstützt. Deutschland hat aus diesem Grund proportional zur Bevölkerung zwei- bis dreimal so viele Selbsthilfegruppen. In Österreich ist es ähnlich. Mit der entsprechenden Unterstützung hätten wir auch in der Schweiz noch grosses Potenzial. Sehr wenige Selbsthilfegruppen gibt es traditionellerweise in Frankreich und Italien, dafür sehr viele in Grossbritannien und den USA.
 

Engagieren Sie sich in der Schweiz für eine gesetzliche Verankerung der Selbsthilfe?

Die Basler SP-Nationalrätin Sarah Wyss hat eine entsprechende Motion eingereicht. Der Bundesrat hat diese Ende Februar abgelehnt hat, im Parlament ist der Vorstoss noch hängig. Wir von Selbsthilfe Schweiz engagieren uns sehr für eine Annahme der Motion. Schub erhoffen wir uns dabei von einer Literaturstudie des Bundesamts für Gesundheit zum ­Thema Kosteneffizienz und Selbstmanagementkompetenz, die Anfang November publiziert wurde. Darin ist Selbst­hilfe ein wesentlicher Bestandteil der Selbstmanagementkompetenz.
 

Lassen sich mit Selbsthilfe Kosten sparen?

Die Studie zeigt auf, dass eine Förderung der Selbstmanagementkompetenz und damit auch der Selbsthilfe zu einer Entlastung des Sozial- und Gesundheitswesens und zu möglichen Kosteneinsparungen in der Schweiz führen kann.
 

Bereits 2017 hat ja eine Studie der Hochschule Luzern und der Universität Lausanne gezeigt, dass Selbsthilfe wirkt.

Die Studie machte deutlich, dass sich Selbsthilfe sowohl auf der individuellen als auch der gesellschaftlichen Ebene positiv auswirkt. Mit der Teilnahme an einer Gruppe fühlen sich die Mitglieder generell besser. Sie haben auch weniger Schuldgefühle, weil sie sehen, dass es anderen ähnlich geht. Sie fühlen sich mit der schwierigen Situation nicht alleingelassen und finden praktische Lösungen, die sich bei anderen bereits bewährt haben. Weiter verbessern sich die Beziehungen zu Nahestehenden und auch zu Fachleuten. Zudem werden unter den Gruppenteilnehmenden neue Beziehungen geknüpft.
 

Und inwiefern belegt die Studie eine Wirkung auf der gesellschaftlichen Ebene?

Die Selbsthilfe ergänzt die Gesundheitsversorgung und den Sozialbereich und leistet einen Beitrag zur Prävention. Zudem kann sie für neue, gesellschaftlich relevante Themen sensibilisieren. Mitglieder von Selbsthilfegruppen sind kritische Patientinnen und Patienten und können auf diese Weise einen positiven Einfluss haben auf die Qualität und das Angebot im Gesundheits- und Sozialwesen. Selbsthilfegruppen können insbesondere dazu beitragen, dass die Interessen der Betroffenen besser wahrgenommen werden.
 

Wie beurteilen Sie die Positionierung der Selbsthilfe im Sozial- und Gesundheitsbereich?

Insbesondere die regionalen Selbsthilfezentren haben in den vergangenen Jahren zahlreiche Kooperationen aufgebaut mit Psychiatrischen Diensten und Kliniken sowie mit Spitälern, mit Sozialberatungsstellen und mit Behindertenorganisationen. Auch die Geschäftsstelle von Selbsthilfe Schweiz unternimmt grosse Bemühungen, mit verschiedenen Akteuren im Sozial- und Gesundheitsbereich Partnerschaften einzugehen. Ich sehe hier noch grosses Potenzial. Im Gesundheitswesen gibt es sehr viele Akteure. Wichtig ist aber, dass gerade die Erfahrung und die Kompetenz der Betroffenen, der Patientinnen und Patienten, noch besser berücksichtigt werden. Mit unserem aktuellen Projekt «Gesundheitskompetenz dank selbsthilfefreundlicher Spitäler» versuchen wir mit Unterstützung von Gesundheitsförderung Schweiz genau ­solche Ziele zu erreichen.

«Mitglieder von Selbsthilfegruppen sind kritische Patientinnen und Patienten und können einen positiven Einfluss auf die Qualität und das Angebot im Gesundheits- und Sozialwesen haben.»

Wie wird ein Spital selbsthilfefreundlich?

In einem selbsthilfefreundlichen Spital arbeiten Ärzteschaft, Pflege, Therapie und weitere Mitarbeitende mit Selbsthilfegruppen zusammen. Patienten und Patienten sowie ihre Angehörigen werden zum Beispiel bei einem Austritt über die mögliche Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe informiert. Selbsthilfegruppen wird ermöglicht, an internen Weiterbildungen oder Informationsveranstaltungen teilzunehmen, was zu einer Verbesserung von Behandlungsabläufen führen kann. Eine Reihe von Spitälern in der Schweiz hat bereits die Auszeichnung «Selbsthilfefreundlich» erhalten.

 

Welche Potenziale sehen Sie in der Zusammenarbeit mit Dienstleistern für Menschen mit Unterstützungsbedarf?

Das Konzept, das wir für den Weg zum selbsthilfefreundlichen Spital entwickelt haben, könnte man auch für sozialmedizinische und soziale Institutionen sowie für Leistungserbringer im ambulanten Bereich verwenden. Egal, ob Menschen im Alter oder Menschen mit Beeinträchtigung in ihren eigenen vier Wänden oder in einer Institution leben: Die Teilnahme an Selbsthilfegruppen stärkt bei Betroffenen und auch ihren Angehörigen die Autonomie und Selbstkompetenz massiv und führt so zu einer höheren Lebensqualität.

 

Können Sie diesen Mehrwert gerade auch für Bewohnerinnen und Bewohner eines Pflegeheims oder einer Behinderteninstitution konkretisieren?

Selbsthilfegruppen sind Austauschgruppen untereinander. Sie entscheiden selber, was das Ziel ihrer Gespräche ist. Heime könnten zum Beispiel Gesprächsgruppen oder Partizipationsgefässe für ihre Bewohnenden gründen. Aber das ist fachlich gesehen etwas anderes als eine gemeinschaftliche Selbsthilfegruppe. Der Vorteil einer externen, gemeinschaftlichen Selbsthilfegruppe liegt darin, dass die Heimbewohnenden in Kontakt kommen mit Gleichbetroffenen ausserhalb ihrer eigenen Institution. Dies könnte ihre gesellschaftliche Integration festigen respektive zusätzlich fördern. Dies gilt auch für Selbsthilfegruppen von Angehörigen, die zum Beispiel einander Tipps geben und ihre Erfahrungen dem Heim zurückspiegeln könnten.

 



Lukas Zemp, Jahrgang 1960, ist seit Anfang 2022 Geschäftsführer der Stiftung Selbsthilfe Schweiz. Er ist ausgebildeter Kommunikationsfachmann und Verbandsmanager. Vor seiner Tätigkeit bei Selbsthilfe Schweiz hat er für verschiedene, nationale Organisationen und Projekte im medizinischen Bereich sowie im Gesundheits- und Sozialumfeld gearbeitet.

www.selbsthilfeschweiz.ch


 


Foto: Privat