ANGEHÖRIGE | Kurs in Pflegehilfe: Grosse Hürde für Angehörige

19.07.2023 Christian Bernhart

Pflegende Angehörige, die ihre Nächsten zu Hause mit ­Körperpflege, Bewegungsübungen und Essen versorgen, könnten dafür nicht mehr von Spitex-Organisationen entlöhnt werden. Ein neuer Vertrag zwischen den Spitex-Verbänden und den ­Krankenkassen verpflichtet die Angehörigen, den Kurs in Pflegehilfe zu absolvieren. Den meisten fehlt dazu die Zeit. ­Kantone und lokale Spitex-Organisationen setzen auf andere ­Lösungen.

«Wenn meine Frau mich nicht mehr pflegen könnte, wüsste ich nicht, welchen Sinn das Leben für mich noch hätte», erklärt klipp und klar Beat Berger (80), den seine Frau Tina Berger rund um die Uhr betreut und auch pflegt. Die Spitex Region Konolfingen habe ihr vor drei Jahren angeboten, sie für die Körperpflege, für die Hilfe beim An- und Auskleiden, beim Essen sowie für das Bewegungstraining zu entlöhnen. Diese Grundpflege war für die ehemalige Musiklehrerin Tina Berger (74) nicht neu. Ihr Mann, der in leitender Position für Coop tätig war, leidet an einer motorischen Störung, die 30 Jahre zuvor begann, nach der Pensionierung zunahm und ihn schliesslich mehrheitlich zu einem Leben im Rollstuhl brachte. Nach und nach übernahm seine Frau mehr pflegerische Aufgaben. Ihr Engagement und das gegenseitige Vertrauen erlauben es dem Ehepaar heute noch, gemeinsame Ausflüge und auch kleinere Reisen zu unternehmen. «Wir sind ein zusammengeschweisstes Team», sagt sie und meint erleichtert: «Schön ist, dass mein Mann intellektuell noch voll da ist.»

Morgens kommt die Spitex vorbei, abends, samstags und sonntags jedoch pflegt sie alleine. Es ist auch Pflegehilfe rund um die Uhr: nachts den Gang auf die Toilette, abends ­Waschen und Körperpflege. Dies bedeutet, das Essen gabelfertig zuzubereiten und mit ihm die täglichen Bewegungsübungen mithilfe des Rollators durchzuführen. Die Intimität bei der Pflege schätzt ihr Mann, denn: «Es brauchte für mich manchmal schon eine Überwindung, mich von Leuten pflegen zu lassen, die ich nicht kannte.»

Ihre Anstellung für diese Pflege beurteilt Tina Berger in erster Linie als Anerkennung: «Für mich ist es vor allem ein Zeichen, dass meine Arbeit auch einen Wert hat. Die Wertschätzung ist gegenseitig, denn, so erklärt Marius Muff, Geschäftsleiter der Spitex Region Konolfingen: «Wir haben zurzeit elf pflegende Angehörige angestellt. Fallen diese weg, müsste ich fünf Vollzeit-Pflegefachleute anstellen. Beim momentanen Pflegenotstand dauerte die Suche zwei Jahre.»

Kurs in Pflegehilfe vertraglich gefordert

Muffs Sorgen sind begründet, denn sowohl der öffentliche sowie der private Spitex-Verband, Spitex Schweiz und die Association Spitex-Privée Suisse (APSP), haben im März mit den Krankenversicherern vertraglich vereinbart, dass pflegende Angehörige nur noch entlöhnt werden, wenn sie innerhalb eines Jahres den Kurs in Pflegehilfe absolviert haben. Vertraglich betroffen sind davon schweizweit 1090 Spitex-­Organisationen. Dort, wo Angehörige nicht in der Lage oder willens sind, diesen Kurs zu besuchen, muss die Spitex im ausgetrockneten Markt neue Fachleute anstellen, mit entsprechenden Kostenfolgen. Dieser neue Administrativ­vertrag bedeutet eine Kehrtwende. Denn 2019 entschied das Bundesgericht, dass Angehörige ohne Ausbildung für die Grundpflege entlöhnt werden können (vergleiche «Gerangel um Grundpflege» Seite 21). Zuvor hatte die gerichtliche ­Auseinandersetzung zwischen den Kranken­kassen und den Spitex-Verbänden 13 Jahre gedauert.

«Wir haben zurzeit elf pflegende ­Angehörige angestellt, fallen diese weg, müsste ich fünf Vollzeit-­Pflegefachleute anstellen. Beim ­momentanen Pflegenotstand ­dauerte die Suche zwei Jahre.»
Marius Muff, Geschäftsleiter der Spitex Region Konolfingen

In Grosshöchstetten äussern am Sitz der Spitex Region Konolfingen neben Muff auch deren Präsident Urs Eymann sowie Spitex-Teamleiterin Ruth Trachsel Unverständnis über diese Kehrtwende. «Dieser neue Administrativvertrag ist ein Schritt zurück», urteilt Eymann und folgert: «Jemand, der eine Angehörige pflegt, kann die Zeit für diesen Kurs, der mindestens ein halbes Jahr in Anspruch nimmt, nicht aufbringen.» Aus Sicht seiner angestellten Angehörigen sagt Geschäftsleiter Muff: «90 Prozent könnten diesen Kurs gar nicht besuchen.» Sein Fazit: «Der Kurs ist eine Schikane.»

Praxiserprobte Pflege

Schikanös vor allem auch für die pflegenden Angehörigen, die über mehrere Jahre unter Anweisung und Betreuung von Spitex-Fachleuten ihre Nächsten pflegen. Weil die bisherige Pflege offenbar den Anforderungen nicht mehr genügen soll, müssten sie diese mit 120 Lektionen und Fernbetreuung von zwei Wochen auf den Stand der Pflegehilfe bringen. Obschon sie, urteilt Pflegefachfrau Trachsel, aufgrund ihrer monatelangen Pflege am besten auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen wissen. Bedürfnisse, auf die der Kurs zum Teil gar nicht eingeht, denn, so Trachsel: «Ein erwachsener Tetraplegiker braucht nicht die gleiche Pflege wie eine demente Person.» Trachsel zollt gegenüber diesen Angehörigen Achtung: «Ab und zu warten sie mit pflegerischen Handgriffen auf, die lehr- und hilfreich sind, ohne zum Handbuch der Pflege zu gehören.»

Es betrifft insbesondere auch Frauen, die längst das Pensionsalter erreicht haben. «Ich bin jetzt 74 Jahre alt, da will ich nur meinen Mann pflegen», sagt Tina Berger. Und: «So ich es denn überhaupt könnte, fühle ich mich nicht bereit, für den Kurs 14 Tage andere Leute auswärts zu pflegen.» Werde sie ohne Kurs weiterhin entlöhnt, so Berger, «dann darf ich meinen Mann pflegen, andernfalls muss ich ihn pflegen». Ansonsten müsste er nämlich ins Pflegeheim. Der Spitex-Dienst rund um die Uhr ist nicht vorgesehen.

Kurs in Pflege ohne gesetzliche Grundlage

Somit geht es auch um den Entscheid zwischen stationärer und ambulanter Pflege. Für die ambulante Pflege der Spitex, die prinzipiell kostengünstiger ist, kommen hauptsächlich die Prämienzahler der Krankenkassen auf. Die stationäre Pflege in den Pflegeheimen zahlen die Betagten selbst, aber auch die Gemeinden und die Kantone. Der Bundesgerichtsentscheid von 2019 zugunsten der pflegenden Angehörigen ohne Ausbildung hatte zur Folge, dass neu gegründete private Spitex-Dienste, wie AsFam, Arnacare und Solicare, Angehörige unter Anleitung von Fachleuten für die Grundpflege anstellten. Ihr Vorgehen deckt sich mit den gesetzlichen Vorgaben der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP), auf dessen Grundlage die Kantone eine Betriebsbewilligung erteilen.

«Es geht darum, die Qualität der Pflege zu sichern», begründet Marianne Pfister, Co-Geschäftsführerin von Spitex-Schweiz, die Mindestanforderung eines Kurses für Pflegehilfe. Spitex Schweiz prüfe aber, wie der Kurs in Pflegehilfe oder eine vergleichbare Weiterbildung noch gezielter auf die Rolle der pflegenden Angehörigen eingehen können. Zusätzlich zum Kurs des Roten Kreuzes anerkennt Spitex-Schweiz noch Kurse von fünf weiteren Anbietern, darunter jene von AsFam und Arnacare. Während Marcel Durst, APSP-Geschäftsführer, der Auffassung ist, dass für pflegende Angehörige der Kurs ohne zweiwöchiges Praktikum gilt, setzt Spitex-Schweiz den Kurs mit Praktikum vor­aus.

Pflegende Angehörige als Politikum

Pflegende Angehörigen sind inzwischen ein Politikum. ­Lorenz Hess, Verwaltungsratspräsident der Visana-Krankenkasse, fragt als Nationalrat in einer Interpellation, ob der Bundesrat im Bild sei, dass Firmen «gesetzliche Schlupflöcher nutzen», um pflegende Angehörige anzustellen. Seine Befürchtung: «Darunter leidet die Qualität der erbrachten Leistungen, und Ausbildungsvorgaben fehlen gänzlich.» Die Firmen, die er dabei im Auge hat, wollte Hess gegenüber Artiset nicht nennen. Der Bundesrat räumt in seiner ­Antwort zur Interpellation Hess und zu drei weiteren Parlamentsvorstössen zum selben Thema ein, dass pflegende Angehörige statistisch nicht erfasst werden. Der Bundesrat will die Problematik in einem Bericht aufarbeiten, weist jedoch darauf hin, dass im OKP gesetzliche Vorschriften zur Qualitäts­sicherung bestünden und diese von den Kantonen zu überprüfen seien. Allgemein gilt, dass die Leistungen primär wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein müssen (KVG Art. 32), die Spitex-Verbände über genügend fachliches Personal (Krankenkassenverordnung KVV Art. 51) verfügen und ein Qualitätsmanagement (KVV Art. 58 g) anwenden müssen.

Entscheid bei den Kantonen

Während Spitex-Schweiz-Geschäftsführerin Pfister bemerkt haben will, dass sich die Kantone für die Kurse in ­Pflegehilfe starkmachen, setzen viele Kantone, nicht nur aus Kostengründen, auf Grundpflege von Angehörigen ohne obligatorischen Kurs in Pflegehilfe und erteilen die Betriebserlaubnis Spitex-Organisationen, die sich auf diese Angehörigen spezialisiert haben. In Graubünden sind es Solicare und Arnacare. Im weitläufigen, von Tälern durchfurchten Kanton könne man pflegenden Angehörigen diesen Kurs, verbunden mit einem Standortwechsel, nicht zumuten, urteilt man aus dem Bündner Gesundheitsamt. Eine Aussage, die nicht autorisiert wird mit der Begründung, so Amtsvorsteher Rudolf Leuthold, dass der Kanton erst daran ist, den Aktionsplan zur Unterstützung und Entlastung von betreuenden und pflegenden Angehörigen umzusetzen. Dieser sieht vor, «Hürden abzubauen, damit betreuende und pflegende Angehörige von einem Dienst der häuslichen Pflege und Betreuung (Spitex) angestellt werden können». Für Leuthold ist klar, dass der Kanton gemäss Bundesgerichtsentscheid die Anstellung von Angehörigen zur Pflege erlauben kann.

Auch im Kanton Aargau ist die Strategie «ambulant vor stationär» in der Umsetzungsphase. Die Folge davon ist, dass Solicare, die sich in 16 Kantonen etabliert hat, den grössten Teil ihrer Klientinnen und Klienten, nämlich 19 Prozent, im Kanton Aargau versorgt, wie ihr Geschäftsführer Romano Ricciardi mitteilt.

Spitex-Neugründungen

Öffentlich-rechtliche Spitex-Organisationen, die sich an den neuen Administrativvertrag gebunden fühlen, drohen derweil wirtschaftlich ins Hintertreffen zu geraten. Spitex-Geschäftsführer Muff will deshalb für die Region Konolfingen eine Tochterorganisation ausserhalb des Spitex-Verbandes gründen, um weiterhin Angehörige ohne Kurs in Pflegehilfe beschäftigen zu können. Dass Qualität ein Standortvorteil bedeutet, hat seinerseits die private Spitex AsFam erkannt. Pflegende Angehörige mit Kurs in Pflegehilfe sind nun in der AsFam-Tochterfirma angestellt, die dem APSP-Verband inklusive Unterzeichnung des neuen Administrativvertrags beigetreten ist. AsFam-Gründer Ruedi Kunz begründet: «Wir wollen damit kundtun, dass wir generell Qualität in der Pflege hoch einschätzen.»

Fachkräftemangel und der demografische Wandel haben bei den Spitex-Organisationen zum Anstieg der privaten Spitex geführt, die nach ihren Kriterien die zu pflegenden Personen auswählen kann, während für die öffentlich-rechtliche Spitex eine Versorgungspflicht besteht. Die Voten im Nationalrat, wonach sich die Spitex dank kostengünstigen Angehörigen ohne Kurs in Pflege zum cleveren gewinnbringenden Geschäftsmodell mausern könnte, sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Aus zwei Gründen: Trotz mehreren Studien und Analysen zum Thema «pflegende Angehörige» hat der Bund es bisher versäumt, den Begriff schlüssig zu definieren. Der Administrativvertrag schliesst als pflegende Angehörige auch Personen aus dem engen Lebensumfeld mit ein. Diese vage Definition erlaubt es, auch Angehörige zur Pflege von Kunden in mehreren Liegenschaften zu rekrutieren. Und ermöglicht somit ein neues Geschäftsmodell. Angehörige, die umsteigen wollen, heuern bei privaten Spitex-­Firmen für die Pflege von mehreren Personen an. Jedoch mit ungewissen Perspektiven, denn das Pensum hängt von der Kundschaft ab, die in der Pflege selten konstant ist.

Angehörigen mit dieser Absicht rät Spitex-Schweiz Geschäftsführerin Pfister deshalb: «Bevor der Beruf zugunsten der Pflege reduziert will, ist eine gründliche Kalkulation nötig, will man nicht in die Armutsfalle geraten.» Der ­zweite Grund ist die beschränkte Kontrolle der Spitex-Dienste durch die Kantone. Gemäss OKP beschränkt sie sich in erster Linie auf administrative und finanzielle Belange, erst bei Beanstandungen wird die Pflege als solche unter die Lupe genommen.
 


Gerangel um Grundpflege

Pflegende Angehörige können für eine Grundpflege angestellt und entlöhnt werden. Diese beschränkt sich auf die Körperpflege und Bewegungsabläufe, welche die Patienten nicht selbstständig ausführen können, wie Ankleiden, Essen und Trinken oder Dekubitusprophylaxe sowie Hilfe im Tagesablauf, Trainingshilfen und Förderung sozialer Kontakte, gemäss Art. 7 Abs. 2 c der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV). Laut Bundesamt für Gesundheit ist eine Anstellung ohne Kurs in Pflegehilfe rechtsgültig gemäss Bundesgerichtsentscheid vom 18. April 2019 (BGE 145 V 161). Kantone ­können solche Kurse in ihren Spitex-Leistungsaufträgen aber verlangen. Derzeit ­verhandeln die Spitex-Verbände mit den Krankenkassen um eine Erweiterung der Grundpflege, so sollen Angehörige mit Kurs in Pflegehilfe auch Vitalmessungen, wie Blutdruck, Puls und Gewicht, vornehmen sowie Medikamente verabreichen können.
 


Foto: Christian Bernhart