ANGEHÖRIGE | Loslassen auf einem holprigen Weg

19.07.2023 Claudia Weiss

Werden Kinder mit einer Behinderung in der Adoleszenz langsam flügge, kann es für ihre Eltern schwierig sein, sie nach vielen ­intensiven Jahren ziehen zu lassen. Wie gut sich die jungen ­Menschen auf den Weg ­machen können, hängt daher oft viel stärker von den Eltern ab als bei ­Jugendlichen ohne Behinderung. Drei Beispiele zeigen die ­mannigfaltigen Herausforderungen, ­denen Familien sich ­stellen müssen.

Mael Habegger, bald 17, ist begeistert: Soeben haben genau neben dem Restaurant, in dem er mit seiner Mutter auf das Mittagessen wartet, vier Polizisten einen schimpfenden jungen Mann zur Abklärung in ein Polizeiauto verladen. Als die Polizisten ebenfalls ins Auto steigen, winkt Mael ihnen fröhlich zu, dann holt er seine Playmobilfiguren aus dem Rucksack: Er hat auch einen Polizisten dabei, den er jetzt sofort in Position stellt. Dezidiert sagt er: «Ich möchte auch einmal ein Detektiv werden, oder Polizist.» Oder etwas anderes, ihn interessiert vieles: Mael hat schon zweimal bei der Coiffeuse seines Wohnorts in der Nähe von Winterthur geschnuppert, das hat ihm gut gefallen, ebenso die zwei Tage in Küche und Service des nahegelegenen Altersheims. Jetzt will er unbedingt für eine Schnupperlehre im Ausflugsrestaurant Goldenberg anfragen. Und nach der Schule, das steht für ihn fest, wird er von zuhause ausziehen und in einer eigenen Wohnung leben.

«Ich will selber bestimmen, was ich will.» Mael Habegger

Seine Mutter Barbara Habegger, Geschäftsstellenleiterin von Insieme21, unterstützt ihn voll in seinen Zielen. Ein inklusives begleitetes Wohnen kann sie sich für ihn gut vorstellen, schon seit je habe er klargestellt: «Ich will selber bestimmen, was ich will.» Pubertätsdispute habe sie mit ihrem Jüngsten auch ab und zu, sagt sie, und diese seien gar nicht so viel anders als zuvor bei seinen drei älteren nicht beeinträchtigten Brüdern. Sie lacht und sagt: «Mael ist ein Besserwisser und schwankt zwischen ‹Mama, ich liebe dich› und ‹Ich kann selber schauen›, aber sonst ist seine Pubertät gut erträglich.»

Das Loslassen habe ihr schon bei ihren älteren Söhnen ein bisschen Mühe bereitet, bei Mael sei das jetzt nicht viel anders. «Ich habe auch nicht häufiger Angst um ihn, denn ich merkte früh, dass er Gefahren gut einschätzen kann.» Mehr Mühe als das emotionale Loslassen bereiten ihr die vielen Gedanken darüber, wie ihr Sohn seinen künftigen Lebensweg gestalten kann: Seit seiner Geburt kämpft sie dafür, dass ihr Jüngster gleiche Chancen bekommt wie seine Brüder. Inzwischen berät sie in Sprechstunden andere Eltern, wie sie ihre Kinder von klein auf richtig fördern können, damit sie möglichst selbstständig leben können.

Für Mael ist Sonderschule keine Option

Bei Mael lief es schulisch nicht immer problemlos, aber er besuchte den Kindergarten im Ort und die Primarschule, begleitet von einer Heilpädagogin und einer Klassenassistenz. Als es um den Übertritt in die Oberstufe ging, hiess es jedoch, das sei nicht machbar. Mael hätte ungefragt und gegen den Willen der Eltern in eine Sonderschule wechseln müssen. Barbara Habegger schüttelt den Kopf: In der Sonderschule, die Mael früher probehalber besucht hatte, gefiel es ihm gar nicht, er war völlig überfordert, wenn ein anderes Kind plötzlich zu schreien begann oder einen epileptischen Anfall hatte, und weigerte sich vehement, jemals wieder dort hinzugehen.

Noch heute hält er sich die Ohren zu, wenn die Rede auf die Sonderschule kommt. «Mael hat so klare Vorstellunge – ich verstehe nicht, warum er nicht gefragt wird, wo er zur Schule gehen möchte», sagt Barbara Habegger. Sie hat sich sogar schon überlegt, eine eigene Schule zu eröffnen. Stattdessen zogen sie und ihr Mann für ihren Sohn vor Gericht, erhielten einen abschlägigen Bescheid, zogen weiter vor Verwaltungsgericht und erhielten recht: Die Weigerung der Schule sei «eine Diskriminierung», lautete der bahnbrechende Entscheid. Seit den Frühlingsferien darf Mael jetzt an vier Tagen pro Woche in einer kleinen Klasse die Sekundarschule besuchen, der fünfte Tag ist frei für Praktika.

«Mael ist einen ganz normalen Ablauf gewohnt, geht locker auf Menschen zu und hat keine Berührungsängste.» Barbara Habegger

Aber hinter sich hat er neun Monate heilpädagogische Einzelbeschulung im Kämmerchen, so lange die Gerichtsbeschlüsse hängig waren: Monate, in denen er nur beim Sport und in der Kochstunde dabei sein durfte und sonst betrübt fragte, warum er nicht mit den anderen ­Kindern zur Schule gehen dürfe. Barbara Habegger versteht das nicht. «Mael ist einen ganz normalen Ablauf gewohnt, geht locker auf Menschen zu und hat keine Berührungsängste.» Er kann auch körperlich locker mithalten, saust mit seinen Brüdern auf dem Bike durch den Bikepark, schlägt auf dem Trampolin Salti und rennt mit seinem Border-Collie Darcy über den Agility-Parcours.

Jetzt hofft Barbara Habegger, dass die Schule für die letzten Jahre doch noch gut läuft. Und dass sie es als Familie gut hinbekommen, für den Jüngsten eine erfüllende Lehrstelle zu finden: «Er hat Anrecht auf genau eine IV-Lehre», erklärt sie, er wird also nicht beliebig oft seine Berufswünsche anpassen können. Sie schaut liebevoll zu ihrem Sohn hinüber. «Mael will normal leben», sagt sie dann. «Aber das ist ein Grundrecht, das immer schwierig durchzusetzen sein wird.» Wäre die Gesellschaft inklusiver und wüsste sie, welche Hindernisse auf Mael warten, würde ihr das Loslassen leichter fallen, denn sie kennt ihren Sohn als selbstbestimmten jungen Mann: «Mael weiss sehr genau, was er will und was er kann. Aber der Kampf rund um das Erwachsenwerden ist immer da.»

«Mama, wann kommt mein Bébé?»

Ähnliche Gefühle hegt Nadine Ramseier, wenn sie ihre Tochter Alina anschaut: Mit ihren 15 Jahren ist sie körperlich voll in der Pubertät, vor zwei Jahren hat sie ihre Menstruation bekommen und weibliche Kurven entwickelt. Auch innerlich sei sie am Wachsen und Abstrampeln, erzählt Nadine Ramseier, und dennoch je nach Situation oft geistig bei ungefähr sieben Jahren stehengeblieben, sodass sie vor ihrer Haustür in Konolfingen BE ganz unvermittelt über die Strasse rennen könne, wenn sie auf der anderen Seite ein herziges Kätzchen sehe. «Das ist eine wahnsinnige Diskrepanz.»

«Das Thema Sexualität wird irgendwann im Raum stehen.»

Oft schwanke auch ihre Tochter selbst extrem zwischen «Ich will nicht, dass du mir hilfst!» und «Ich brauche dich, lass mich nicht allein!». Und sie hat bereits gefragt: «Mama, ich bin jetzt eine Frau – wann bekomme ich mein Bébé?» Ihre Mutter schluckte und erklärte, dazu brauche sie doch einen Mann. Alina nickte und gab sich für den Moment damit zufrieden.

Aber Nadine Ramseier weiss jetzt schon: Das Thema wird wiederkehren. «Alina ist eine sehr körperliche junge Frau, sie hüpft, tanzt und bewegt sich gerne und geht gern auf Menschen zu, ganz sicher wird das Thema Sexualität irgendwann im Raum stehen.» Irgendwie sei die gegenwärtige Situation auch ein wenig amüsant, findet sie, weil sie selbst in die Wechseljahre gekommen sei und daher gleichzeitig mit ihrer Tochter einen entgegengesetzten Prozess durchmache. Einfach sei es trotzdem nicht, und sie macht sich viele Gedanken, «aber das bin ich als alleinerziehende Mutter mit einer Tochter mit Trisomie 21 gewohnt».

Dennoch habe die Entwicklung bei ihr ganz viel Neues ausgelöst: «Zuerst gab es mir einen Stich ins Herz, als Alina sich abzustossen begann. Dann dachte ich ‹super, sie macht sich auf den Weg› und wollte sie voller Vertrauen gehen lassen.» Beider Ziel sei Selbstständigkeit, und Nadine ­Ramseier weiss, dass sie ihre Tochter nicht ewig bei sich behalten kann. Dennoch fragt sie sich bang, wie Alina in einer Gesellschaft bestehen kann, die oft noch nicht inklusiv ist: «Kann sie sich wehren? Kann sie Grenzen setzen?»

Beruflich macht sich Nadine Ramseier keine grossen Sorgen, Alina arbeite so gerne mit Menschen, sie werde sich sicher für eine der Pra-INSOS-Lehren begeistern können, beispielsweise als Assistentin Soziales. Grössere Sorgen bereiten ihrer Mutter Fragen rund um das Privatleben, allfällige Beziehungen und die Wohnsituation – besonders, falls Alina dereinst mit einem Freund in eine WG ziehen möchte. Nadine Ramseier überlegt kurz und sagt dann, insgesamt sei es plötzlich schnell gegangen seit den Anfangszeiten, in denen das ­kleine Mädchen so viel Begleitung und Aufmerksamkeit ­gebraucht habe, bis sie sich zur pubertierenden jungen Frau entwickelt habe. In ihr löst das Bedauern aus. Und zugleich auch Erleichterung: «Die Pubertät hat auch ihr Gutes: Ich bin nicht mehr nur Mama, sondern auch wieder Nadine.»

Wenn sich die Eltern lösen müssen

Was aber, wenn ein Kind mit Behinderung älter wird und zwar körperlich, aber nicht geistig in die Pubertät kommt? So erlebt das die Familie Della Rossa mit ihrer Tochter Julia. Die 16-Jährige kam mit dem Angelman-Syndrom zur Welt, sie kann sich nur nonverbal ausdrücken und ist geistig auf dem Stand eines Kleinkindes. Auch wenn sie inzwischen fast gleich gross ist wie ihre Eltern, wird sie sich nie von sich aus abnabeln wollen. Melanie und Roman Della Rossa hingegen kamen an den Punkt, an dem sie merkten: «Wir schaffen es nicht mehr. Unsere Kräfte schwinden, und es hört nie auf.» Weil Julia, anders als ihr zwei Jahre älterer Bruder Yanis, sich niemals selbst lösen wird, haben die Eltern beschlossen, das für sie zu übernehmen.

«Anfangs war es schmerzhaft, zu wissen, dass sie noch zuhause bleiben könnte, wenn sie nicht behindert wäre.»

«Julia ist eine sehr fröhliche und kecke junge Frau, sie ist gerne unter Menschen und öffnet mit ihrer Art Herzen», beschreibt Melanie Della Rossa ihre Tochter liebevoll. Aber: Julia benötigt rund um die Uhr in sämtlichen Lebensbereichen eine Eins-zu-eins-Betreuung, sie kann weder selbstständig zur Toilette gehen noch sich an- und ausziehen. Sie braucht Unterstützung beim Essen und bei der Körperpflege, sie hat Epilepsieanfälle, kann ihre Kräfte schlecht dosieren und beisst, wenn sie überfordert ist. Man könne sie keine Sekunde allein lassen, da sie keine Gefahren erkenne, sagt ihre Mutter. Die Familie kam an den Rand der Erschöpfung. Und Melanie Della Rossa wusste, dass Julia nie wie ihr Bruder Yanis, der Schreinerlehrling, nach einem Arbeitstag nur rasch zum Essen nach Hause kommen und danach ihren Hobbys nachgehen oder Freunde treffen wird. «Es tut weh, zu sehen, dass Julia das nie können wird», sagt sie. «Und anfangs war es auch schmerzhaft, zu wissen, dass sie noch zuhause bleiben könnte, wenn sie nicht behindert wäre.»

Zwei Tage Luft geben Energie für die Woche

Dennoch begann das Ehepaar Della Rossa nach einer Institution zu suchen, in der sich Julia langsam und schrittweise eingewöhnen konnte. Nicht alle Institutionen sind jedoch offen für flexible Lösungen – und die Familie war nicht bereit für eine Vollinternatslösung. Im Sonnenberg Baar fanden sie schliesslich die Unterstützung, die ihnen den Schritt erleichterte: Die Familie konnte wählen zwischen einer bis vier Nächten pro Woche und beschloss, mit zwei Nächten Teilinternat anzufangen. Das sei eine gute Lösung, finden alle: Seit zwei Jahren wird Julia am Montag um 8.30 Uhr vom Schultaxi abgeholt und am Mittwoch nach dem Mittag wieder nach Hause gebracht. Das, sagt ihre Mutter, habe bereits eine gewaltige Entlastung in ihr Leben gebracht: Sie freut sich immer auf die zwei Tage Luft für sich, kann wieder ausser Haus arbeiten und Freundinnen treffen.

Und sie freut sich immer, wenn Julia am Mittwoch wieder nach Hause zurückkehrt, und hat frische Energie für den Rest der Woche. An den freien Tagen kann das Ehepaar Della Rossa erstmals seit Julias Geburt spontan mit Freunden zum Essen abmachen oder zusammen biken. Zudem ermöglicht ihnen die Entlastung durch die Institution, wieder Ferien zu zweit zu planen. Immer in Reichweite zwar, «doch das ist eine grosse wiedergewonnene Freiheit».

Neues Wohnangebot als «enorme Entlastung»

Dank einem neuen Wohnangebot des Sonnenbergs in Baar ist auch Julias Zukunft gut eingefädelt, sie wird dort bleiben können, wo sie sich inzwischen fast so zuhause fühlt wie bei den Eltern daheim. Eine grosse Erleichterung für die Eltern. Bis dahin war es jedoch ein weiter Weg: Anfangs brach der montägliche Abschied Melanie Della Rossa jedes Mal fast das Herz, und sie habe die Nächte genauso wenig durchgeschlafen, wie wenn sie tatsächlich auf Julia hätte hören müssen. «Ich hörte sie nächtelang schreien und wollte immer jedes Detail hören, wie Julia die Tage und Nächte erlebte», erzählt sie. In den ersten schlimmen Tagen des Loslassens half ihr sehr, dass eine der vertrauten Assistentinnen Julia begleiten durfte: Diese versteht Julias nonverbale Äusserungen und vermittelte ihr ein Stück Normalität in der neuen Situation – und der Mutter viel Sicherheit. «Die verständnisvolle und professionelle Begleitung vonseiten der Institution hat uns sehr geholfen», sagt sie.

Heute verabschiedet Melanie Della Rossa ihre Tochter entspannt und weiss, dass Julia im Sonnenberg genauso glückliche und weniger glückliche Momente erlebt wie zuhause. Sie hat ihren Weg gefunden mit den verworrenen Gefühlen zwischen Trauer, Ängsten, Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen, Erleichterung und neuer Freiheit umzugehen.

Diesen schwierigen Prozess hat sie dank der nimmermüden Unterstützung ihres Mannes und der ganzen Familie inzwischen hinter sich gebracht, und rückblickend denkt sie, vielleicht hätten sie diesen Schritt sogar schon früher tun sollen. Heute hilft ihr der Gedanke, dass Julia am Ende auch glücklicher ist, wenn sie als Eltern entspannter sind. Sie ist überzeugt: «Auch Kinder wie Julia können in neue Situationen hineinwachsen, wenn sie das Vertrauen ihrer Eltern spüren.» Ein Satz, der sie durch diese Zeit begleitete, kommt ihr auch heute immer wieder in den Sinn: «Loslassen kostet weniger Kraft als festhalten. Und dennoch ist es schwerer.»
 



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