BRANCHEN UND KANTONE | «Task Shifting»: ARTISET entwickelt ein Projekt gegen Personalmangel

18.09.2025 Von Anne-Marie Nicole

Qualifiziertes Pflegepersonal ist knapp. Aber immer mehr Menschen mit ­Beeinträchtigung benötigen eine komplexe Pflege. Die Organisation der Pflege in sozialen Institutionen muss daher überdacht werden. Das ist die Aufgabe des von ARTISET getragenen Projekts «Task Shifting». Die Verantwortlichen arbeiten dabei mit dem Kanton Wallis zusammen, wo Pilotprojekte stattfinden werden.

Das von der Föderation ARTISET getragene Projekt «Task Shifting» respektive Neuverteilung von Aufgaben entspricht der Resolution zur Eindämmung des Fachkräftemangels, die an der ARTISET-Delegiertenversammlung vom Juni verabschiedet worden ist. Hier heisst es unter Punkt 4: «Die Entwicklung neuer Arbeitsformen und Organisationsstrukturen ist gefragt, um die Anforderungen an eine hohe Qualität von Begleitung und Pflege auch für die Zukunft zu gewährleisten.(…) Task Shifting (die Neuverteilung von Tätigkeiten zwischen Berufsgruppen) und der Einbezug von Arbeitskräften mit geeigneten Berufsabschlüssen und Berufsprofilen sind voranzutreiben.»

Das Projekt «Task Shifting» bezweckt somit die Entwicklung eines Modells für die Umverteilung von Aufgaben. Soziale Institutionen sollen damit die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen können, um die Kompetenzen in multidisziplinären Fachteams zu erweitern, die Delegation von Aufgaben insbesondere bei medizinaltechnischen Verrichtungen zu standardisieren und mit einem ganzheitlichen Begleitansatz Versorgungssicherheit und Pflegequalität zu optimieren. «Unser oberstes Ziel ist es, auch unter stetig wachsenden Anforderungen eine hohe Pflegequalität und Versorgungssicherheit zu gewährleisten», betont Sandra Bissig, Koordinatorin des Projekts «Task Shifting» für ARTISET und Leiterin des Bereichs Lebensgestaltung beim Branchenverband INSOS.

«Neu an unserem Modell ist die Tatsache, dass unterschiedliche Fachbereiche und Berufe nicht nur innerhalb eines Teams zusammenarbeiten, sondern durch die Übernahme unterschiedlicher Rollen gemeinsam ihre Kompetenzen erweitern.» Sandra Bissig, Projektkoordinatorin ARTISET

Richtig gestartet ist das Projekt vor einem Jahr. Erste Überlegungen bezüglich der Grauzone rund um die Pflegepraxis in sozialen Institutionen gab es jedoch schon vor 15 Jahren. Damals arbeitete Sandra Bissig als leitende Pflegefachfrau im Pflegebereich eines grossen Heims für Menschen mit Beeinträchtigung. Sie ist mit den Problemen also bestens vertraut. Sie erinnert sich, dass schon damals viele Bewohnende eine immer komplexere Pflege benötigten, die nur qualifizierte Fachkräfte erbringen durften. Dazu zählen etwa die Verwendung von Sonden oder Kathetern, die Verabreichung von Medikamenten oder die Wundversorgung. «Das Problem war, dass die meisten Mitarbeitenden über eine Ausbildung im Sozialbereich und nur die wenigsten über eine Pflegeausbildung verfügten. Und wenn wir Pflegefachkräfte hatten, waren sie in den Wohngruppen tätig und führten letztlich dieselben Tätigkeiten aus wie die Sozialpädagoginnen und -pädagogen», erzählt sie. Meistens informierten die Eltern oder Angehörige der Menschen mit Beeinträchtigung das Personal über die erforderliche Pflege und die zu verabreichenden Medikamente. Und die Mitarbeitenden befolgten deren Anweisungen.

Projektbeteiligte - auch auf nationaler Ebene

Um eine breite Akzeptanz von Task Shifting, die weitere Verbreitung auf nationaler Ebene und die Nachhaltigkeit sicherzustellen, umfasst das Projekt unterschiedliche Beteiligte. Dazu zählen die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren, die AVIP – die Walliser Vereinigung der Institutionen für Menschen in Schwierigkeiten mit ihren 26 Mitgliedern – sowie die Dienststelle für Sozialwesen des Kantons Wallis. Die Walliser Behörden waren damit einverstanden, in ihrem Kanton im nächsten Jahr mit Pilotprojekten zu starten.

In der ganzen Schweiz beginnt man derweil in den sozialen Institutionen, den Pflegebereich so zu organisieren, wie es Sandra Bissig und ihre Kolleginnen und Kollegen bereits vor 15 Jahren getan haben. Auf diese Erfahrung gehen ihre ersten Überlegungen hinsichtlich einer optimalen, effizienten Pflegeorganisation mit den vorhandenen Mitarbeitenden und strukturellen Ressourcen zurück. Gestützt darauf entsteht jetzt ein beispielhaftes Modell für die Neuverteilung von Aufgaben.

Im Pflegebereich bezeichnet Task Shifting die gezielte Übertragung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten innerhalb einer Organisation oder eines fachübergreifenden Teams. Bestimmte medizinaltechnische Aufgaben und Verrichtungen, die normalerweise qualifiziertes Pflegepersonal übernimmt, werden an Mitarbeitende delegiert, die zwar keine Pflegefachkräfte sind, aber über eine entsprechende Ausbildung verfügen. So werden diese Aufgaben und Tätigkeiten mit der nötigen Sicherheit und im Einklang mit den rechtlichen und ethischen Vorgaben ausgeführt. «Damit so etwas funktioniert, muss man die Rollen neu überdenken», betont Sandra Bissig. «Das gilt besonders für die Funktion der Pflegefachperson. Sie erbringt nicht mehr nur Pflegeleistungen, sondern muss zur Teamentwicklung und zur Erweiterung der Kompetenzen ihrer Kolleginnen und Kollegen mit anderen Berufen beitragen.» Damit ist die Pflegefachperson für die Pflegekoordinierung innerhalb des Teams verantwortlich und leistet Gewähr für die Qualität der Leistungen für eine Gruppe begleiteter Menschen. Sie überwacht die individuellen Bedürfnisse, schult die Teammitglieder, entscheidet, was delegiert werden kann, und verfügt über den Gesamtüberblick. Sie kann bestimmte fachspezifische Verrichtungen wie etwa das Anlegen eines Verbands lehren. Sie verfügt über die erforderliche klinische Expertise zur Beurteilung von Wirksamkeit und Angemessenheit der Pflegeleistungen.

«Angesichts älterer Menschen mit Beeinträchtigung, die immer mehr Pflege benötigen, ist dies ein vielversprechendes Projekt. Es wird sicher nachhaltige Antworten für die Zukunft bieten.» Jérôme Favez, Leiter der Dienststelle für Sozialwesen im Kanton Wallis

Das Modell umfasst somit mehr als nur die Tätigkeiten, die in den Teams normalerweise im Rahmen interdisziplinärer oder berufsübergreifender Zusammenarbeit erfolgen. «Neu an unserem Modell ist die Tatsache, dass unterschiedliche Fachbereiche und Berufe nicht nur innerhalb eines Teams zusammenarbeiten, sondern durch die Übernahme unterschiedlicher Rollen gemeinsam ihre Kompetenzen erweitern.» Sandra Bissig gibt auch ein Beispiel: «Eine Pflegefachperson kann die Pflegekoordinierung übernehmen. Sie kann aber auch als lernende Person auftreten, wenn sie Tätigkeiten aus dem sozialen Bereich ausführt.»

Die vorhandenen Ressourcen nutzen

Mit dem modellhaften Beispiel der Neuverteilung von Aufgaben möchte das Team des Projekts Task Shifting vor allem die Kluft zwischen der aktuellen Pflegeorganisation in den sozialen Institutionen und der wünschenswerten Situation verringern. «Wir möchten keinesfalls neue Strukturen oder zusätzliche Ressourcen erzwingen, sondern mit den in den Institutionen vorhandenen Mitteln arbeiten», versichert Sandra Bissig. Genauso wenig sollen bestehende Ausbildungen im Pflegebereich oder in der Sozialarbeit ersetzt werden. Vielmehr möchte man Module anbieten, die gezielt die Kompetenzen in den Teams stärken. Es handelt sich also um ein Modell «à la carte». Die Organisationen können das abschöpfen, was sie je nach ihrem eigenen Kontext und institutionellen Projekt benötigen. «Mit Sicherheit werden nicht alle Institutionen darauf zurückgreifen, denn manche sind bereits sehr gut aufgestellt.»

Ganz konkret umfasst das vom Projektteam entwickelte Konzept mehrere Dokumente, die die Dienstleister ganz nach ihren Bedürfnissen nutzen können: ethische und fachliche Empfehlungen für eine sichere Delegation, ein praktisches Konzept für die Erweiterung der Kompetenzen und die Aufgabendelegation, ein Schulungskonzept, standardisierte Dokumentations- und Archivierungsprozesse oder auch ein kontinuierliches System zur Qualitätssicherung und Beurteilung. Derzeit beinhaltet das Projekt – unabhängig von der Finanzierung – nur die Pflegeorganisation und bezieht sich ausschliesslich auf soziale Institutionen. «In einer zweiten Phase könnte man das Konzept vielleicht auch auf Alters- und Pflegeheime ausweiten», sinniert Sandra Bissig. Schwerpunkt wäre nicht mehr die Organisation der Pflege, sondern die Umverteilung von Aufgaben auch im sozialen Bereich.

Im Wallis starten im Jahr 2026 Pilotprojekte

Zwar scheint der Mangel an qualifiziertem Personal in den Walliser Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigung weniger gravierend zu sein als anderswo. Trotzdem gilt es, die gesellschaftlichen Veränderungen zu antizipieren und zu begleiten. «Angesichts älterer Menschen mit Beeinträchtigung, die immer mehr Pflege benötigen, ist dies ein vielversprechendes Projekt. Es wird sicher nachhaltige Antworten für die Zukunft bieten», so Jérôme Favez, Leiter der Dienststelle für Sozialwesen im Kanton Wallis. Er erinnert jedoch auch daran, dass die Qualität der delegierten Leistungen und der Schulungen für die neuen Aufgaben sehr genau überwacht werden müssen – unter anderem durch Supervisionen und Beurteilungen. «Wir möchten den betroffenen Personen maximale Effizienz bieten. Das hat oberste Priorität. Daneben wollen wir die vorhandenen Ressourcen bestmöglich nutzen, sodass sich alle in ihrem beruflichen Umfeld wohlfühlen. Zugleich möchten wir aber auch, dass das Gemeinwesen für die erbrachten Leistungen einen angemessenen Preis zahlt.»

«Dieses Projekt kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Ob im Bereich Behinderung oder im Bereich Jugend: Zahlreiche Heime sehen sich mit einer wachsenden Medikation ihrer Be­wohnenden konfrontiert und müssen regelmässig auf externes Medizinal- oder Pflegepersonal zurückgreifen.» John Roux, Generalsekretär von AVIP

Laut John Roux, Generalsekretär der AVIP, «kommt dieses Projekt genau zum richtigen Zeitpunkt». Ob im Behinderungs- oder im Jugendbereich: Zahlreiche Heime sehen sich mit einer wachsenden Medikation ihrer Bewohnenden konfrontiert und müssen regelmässig auf externes Medizinal- oder Pflegepersonal zurückgreifen. «Verzögern könnte sich die Projektumsetzung durch die zusätzliche Arbeitsbelastung infolge von Koordinierung, Schulung und Umstrukturierung. Ich glaube aber, dass auch in den Heimen der Wunsch besteht, die Kompetenzen im Pflegebereich zu erweitern.»

Wie Jérôme Favez und John Roux anmerken, sind beim jetzigen Projektstart noch viele Fragen offen. Das gilt insbesondere für die genaue Funktion der kantonalen Partner in diesem Projekt, die rechtlichen Grundlagen, die finanziellen Folgen und die mit der Aufgabenumverteilung und der Qualität der delegierten Pflegeleistungen verbundenen Verantwortlichkeiten. Im Herbst 2024 begann das Projekt mit der Zusammenstellung der Grundlagendokumente zu den medizinaltechnischen Verrichtungen, Berufsprofilen und Schulungen im Pflege- und Sozialbereich. Aktuell befindet es sich in einer Phase der empirischen Situationsanalyse. Pilotprojekte mit Heimen im Ober- und Unterwallis dürften 2026 starten, um das Modell zu testen und allfällige Änderungen vorzunehmen. Die Validierung und Umsetzung des Konzepts ist für Sommer 2027 geplant.