«Begegnung ist der erste Schritt zur Partizipation»

07.02.2024 Elisabeth Seifert

Eine offene, partnerschaftliche Haltung gegenüber Menschen mit Unterstützungsbedarf, Mitarbeitenden, Institutionen und ­Behörden: Das ist eine Grundmaxime von Rahel Stuker, der neuen Geschäftsführerin von INSOS. Vor diesem ­Hintergrund erläutert sie erste Schwerpunkte ihrer Arbeit, die geprägt ist von der Umsetzung der UN-BRK.

Frau Stuker, wie haben Sie Ihre ersten Monate als Geschäfts­führerin des Branchenverbands Insos erlebt?

Ein Highlight für mich ist, dass ich auf der Insos-Geschäftsstelle mit vielen inte­ressanten, engagierten und kompetente Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten kann. Ich komme aus einer Institution, wo an der Geschäftsstelle nur wenige Mitarbeitende arbeiten, die meisten sind «draussen» in der Begleitung und Betreuung von Menschen mit Behinderung tätig. Der Austausch hier gefällt mir sehr gut, es ­kommen auch verschiedene Perspek­tiven, Fachbereiche und Disziplinen zusammen. Inspirierend finde ich auch, dass Menschen aus der Romandie und dem Tessin hier arbeiten. 
 

Als INSOS-Geschäftsführerin ­stehen Sie zudem in Kontakt mit all den vielen Dienstleistern für Menschen mit Behinderung. Konnten Sie schon erste ­Erfahrungen machen?

Wir arbeiten auf der Geschäftsstelle immer auch mit den Mitgliedern des Branchenrats und der Branchenkonferenz zusammen, also mit Vertretenden von Institutionen. Dazu natürlich auch mit den Geschäftsstellen der kantonalen Kollektivmitglieder von Insos. Mit dem neuen Jahr habe ich mir jetzt zudem vorgenommen, jede Woche zumindest eine Institution zu besuchen. Es ist mir wichtig, dass ich die Bedürfnisse der Institutionen vor Ort wahrnehmen kann und auch die Vielfalt ihrer Angebote kennenlerne. Zudem bin ich gespannt auf die Mitgliederversammlungen der Kollektivmitglieder, die im Frühjahr statt­finden. Ich freue mich auf die Be­geg­nungen mit Menschen ausserhalb der Geschäftsstelle. 
 

Sie betonen den Austausch und die Begegnungen: Weshalb ist das für Sie so wichtig?

Dies entspricht einer Haltung, die ich als Person meinem Gegenüber habe. Als Leitungsperson habe ich die Erfahrung gemacht, dass die ­Betriebskultur mit einer offenen ­Haltung sehr positiv geprägt wird. Offen­heit heisst für mich, dass ich weiss, dass ich selbst nicht perfekt bin und in der Begegnung mit anderen lernen kann. Diese Haltung war und ist für mich auch in der Begleitung von Menschen mit Behinderung von zentraler Bedeutung.
 

Weshalb betonen Sie die offene Haltung gegenüber begleiteten Menschen?

Im Umgang mit dem «Anderen» oder dem «Fremden» erleben wir immer wieder Ängste und Verunsicherung. Das habe ich bei meinen früheren beruflichen Stationen, dem Schweizerischen Roten Kreuz und der igs, der Interessengemeinschaft für Sozialpsychiatrie in Bern, immer wieder erlebt. Der Umgang mit Migrantinnen und Migranten oder mit Menschen mit psychischen oder auch kognitiven Beeinträchtigungen ist für die Gesellschaft oft eine ­Herausforderung. Die Forschung hat gezeigt, dass das «Andere» nicht jenen besonders Angst macht, die in einem direkten Kontakt mit diesen «anderen» Menschen stehen, sondern vielmehr jenen, die das nicht tun. Es geht also darum, Begegnungen zu schaffen. 
 

Mit der Schaffung von Begegnung gelingt es, Verunsicherung abzubauen?

Im Rückblick auf meine bisherige Tätigkeit kann ich sagen, dass Begegnung der Schlüssel ist, um Partizipation und Inklusion zu ermöglichen. Die Begegnungen müssen von einer offenen Haltung geprägt sein. Das heisst dann auch, dass wir als Fachpersonen die begleiteten Menschen nicht in Kästchen einteilen und meinen zu wissen, was sie benötigen. Vielmehr gehen wir offen auf sie zu und erfragen ihre Anliegen. Indem sie ihre Anliegen vorbringen und wir zuhören, ermöglichen wir Selbstbestimmung und Teilhabe, was ganz den Postulaten der UN-BRK entspricht. Solche Begegnungen auf Augenhöhe führen auch immer wieder zu Aha-Erlebnissen, Überraschungen, die mich persönlich weiterbringen. 

Können Sie aus Ihrer bisherigen Tätigkeit entsprechende Projekte benennen?

Konkret erwähnen möchte ich das Projekt Radio Locomotivo, wo Menschen mit und ohne psychische Beeinträchtigung gemeinsam Radio machen. Die Begegnungen zwischen den Radiomacherinnen und Radiomachern sind sehr inspirierend. Und jene, die zuhören, merken gar nicht, ob es sich bei den Moderierenden um Menschen mit oder ohne Beeinträchtigung handelt. Eine integrative Wirkung hat auch, dass die igs einige ihrer Klientinnen und Klienten in Genossenschaftswohnungen begleitet. Sie werden damit Teil des Mikrokosmos Genossenschaft und sind weniger «ausgeschlossen». Auf diese Weise entsteht Austausch, wobei es darum geht, das Gegenüber als gleichwertig wahrzunehmen.

«Offenheit heisst für mich, dass ich weiss, dass ich nicht perfekt bin und in der Begegnung mit anderen lernen kann. Diese Haltung ist für mich auch in der Begleitung von Menschen mit Behinderung von zentraler Bedeutung.» Rahel Stuker

Wie werden die Postulate der ­UN-BRK die Welt der Institutionen verändern und damit auch die Arbeit des Branchenverbands INSOS?

Die UN-BRK und ihre beiden grossen Maximen Selbstbestimmung und Teilhabe beziehen sich auf Menschen mit Behinderung. Wir möchten die Institutionen dabei unterstützten, den begleiteten Menschen zu mehr Teilhabe und Selbstbestimmung zu verhelfen. Das ist aber eine Herausforderung, weil die Institutionen in einen Konflikt ­geraten können. Es wird zwar immer stationäre Leistungserbringer brauchen, aber wohl weniger als heute. ­Dafür wird es mehr Dienstleistungen geben, die die Menschen in ihrer eigenen Wohnumgebung beanspruchen können. Die Diversifizierung der Angebote wird zunehmen. Die Aufgabe von Insos ist es, diese Entwicklung zu unterstützen. Wir dürfen nicht einfach am Althergebrachten festhalten. 
 

Von Kanton zu Kanton wird jetzt die Subjektfinanzierung eingeführt, die diese Entwicklung fördert. ­Welche Rückmeldungen habe Sie vonseiten der Institutionen?

Die grossen Kantone Bern und ­Zürich haben per 1. Januar 2024 die Subjektfinanzierung eingeführt. Es besteht also noch wenig Erfahrung, wie sich die Subjektfinanzierung in der Praxis auswirkt. Aufgrund der langen Vorbereitungszeit in Bern können die Institutionen die Folgen für sich vielleicht etwas besser einschätzen als in Zürich. Hinzu kommt, dass die Kantone die Subjektfinanzierung unterschiedlich umsetzen. Generell stelle ich fest, dass die Umsetzung der Subjektfinanzierung für die Institutionen planerisch eine grosse Herausfor­derung bedeutet. Es lässt sich im ­Moment nur schwer abschätzen, ­welche Leistungen von den Menschen mit Behinderung tatsächlich auch nachgefragt werden. 
 

Wie begegnen Sie dieser Herausforderung für die Institutionen?

Ganz generell sind unsere Wirtschafts- und Arbeitswelt geprägt von fortlaufenden Veränderungen, die von allen eine hohe Anpassungsleistung erfordern. Aufgrund des Paradigmenwechsels, unterstützt durch die UN-BRK, trifft dies ganz besonders auf die Sozial­branche zu. Wir müssen diverser werden, offen für Veränderungen unserer Angebote. Zum einen können Institutionen eine breitere und auch durchlässige Angebotspalette entwickeln. Eine weitere Möglichkeit sind Koopera­tionen mit anderen Dienstleistern. ­Gefragt ist aber auch die Offenheit dafür, dass es ein bestimmtes Angebot künftig vielleicht nicht mehr braucht. 
 

Wie beurteilen Sie die Zusammen­arbeit der Kantone mit den ­Institutionen, gerade auch vor dem Hintergrund ihrer lang­jährigen Tätigkeit als Leiterin einer ­sozialen Institution?

Kantone und Institutionen müssen sich als Partner verstehen, die gemeinsam den gesellschaftlichen Versorgungsauftrag umsetzen. Das funktioniert nicht in allen Kantonen gleich gut. Ich möchte darauf hinwirken, dass ganz besonders die Zusammenarbeit zwischen unseren Kollektivmitgliedern und den kantonalen Behörden verbessert wird. Besonders wichtig scheint mir, dass Bund und Kantone bei den Vorgaben zur Qualitätssicherung wieder zu einem vernünftigen Mass zurückfinden. Die Regulatorien haben in den letzten Jahren immer stärker zugenommen. Die Administration wird damit laufend grösser und es bleibt immer weniger Zeit für die eigentlichen Aufgaben, die Begleitung und Betreuung. Diesen Themenbereich möchte ich aktiv angehen.
 

Wo sehen Sie neben der Eindämmung der Regulierung weitere wichtige Aufgaben in der Zusammenarbeit mit den Kantonen?

Bei der Umsetzung der Pflegeinitiative, die in erster Linie die Pflegeeinrich­tungen betrifft, dürfen die sozialen ­Institutionen nicht vergessen gehen. Zum Beispiel, wenn es um bessere Anstellungsbedingungen geht. Auch die sozialen Institutionen sind vermehrt vom Fachkräftemangel betroffen. Wir müssen hier auch überkantonal und national zusammenarbeiten. Dazu gehört auch die Entwicklung neuer beruflicher Profile, um die Fachpersonen möglichst gut einsetzen zu können. 

«Besonders wichtig scheint mir, dass Bund und Kantone bei den ­Vorgaben zur Qualitätssicherung wieder zu einem
vernünftigen Mass zurückfinden.» Rahel Stuker

Anfang Dezember hat der Bundes­rat die Vernehmlassung zur Teilrevision zum Behindertengleichstellungsgesetzes lanciert: Wird damit die Integration von Menschen mit Behinderung  gerade auch ins Erwerbsleben vorangetrieben?

Wir sind aufgrund der Ankündigungen letzten März von konkreten Massnahmen zur Förderung der Arbeits­integration ausgegangen. Der Fokus liegt nun stark auf der Schaffung von angemessenen Vorkehrungen gegen die Diskriminierung, die aber keine unzumutbare Belastung für Arbeitgeber darstellen dürfen. Dieser neue Rechtsbegriff ist noch etwas unbestimmt, dessen Bedeutung und Tragweite ist wohl erst noch zu ermitteln. Dass aber dadurch grundsätzlich die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung verhindert werden soll, ist an sich zu begrüssen. Wir werden im Rahmen der Vernehmlassung unsere Überlegungen einbringen. 
 

Wie beurteilen Sie die ­Bereitschaft der Arbeitgebenden, ­Menschen mit Behinderung eine Chance im allgemeinen ­Arbeitsmarkt zu geben? 

Wir freuen uns besonders darüber, dass gerade auch schweizweit tätige Konzerne wie die Post vermehrt Anstrengungen unternehmen. Seit einiger Zeit ermöglicht die Post Menschen mit Beeinträchtigung, am allgemeinen Arbeitsmarkt teilzuhaben. Dieses Enga­gement kostet zwar etwas, fördert aber den Teamspirit, wie die Mitarbeitenden selbst sagen. Das beeindruckt mich. Gemeinsam mit Partnerorganisationen aus der Wirtschaft möchten wir weitere Good-Practice-Modelle entwickeln. 
 

Haben Sie sich als Leiterin der igs von Insos gut vertreten ­gefühlt? Oder anders gefragt: Wo sehen Sie Verbesserungs­möglichkeiten? 

Die igs ist eine eher kleine Institution, und da war es für mich sehr hilfreich, dass Insos wertvolle Grundlagenarbeit in verschiedenen Bereichen leistet. Ein wichtiges Anliegen ist es mir nun, die Sichtbarkeit all dieser Dienstleistun­gen zu erhöhen, womit auch die Vorteile einer Mitgliedschaft noch deut­licher werden. Für die Institutionen haben unsere Kollektivmitglieder, also die Kantonalverbände, eine wichtige ­Bedeutung: Insos muss gerade auch für sie gute Dienstleistungen erbringen.
 

Worin bestehen aus Ihrer Sicht die wichtigsten Leistungen von INSOS?

Die Tagungen, die Insos durchführt, tragen viel zum gegenseitigen Lernen und zur Vernetzung innerhalb der ­Branche bei. Und dann sind natürlich die Wissensaufbereitung und die ­politische Interessensvertretung von zentraler Bedeutung. 
 

Als INSOS-Geschäftsführerin sind Sie Mitglied der ARTISET-Geschäfts­leitung: Wo sehen Sie die Chancen der Zusammenarbeit mit den ­Verbänden CURAVIVA und YOUVITA?

Die Überschneidung zwischen dem Gesundheits- und Sozialbereich wird schweizweit immer grösser. Schon ­allein deshalb, weil Menschen mit ­Behinderung älter werden und damit auf Pflege angewiesen sind. Und umgekehrt Menschen mit dem Älterwerden zunehmend Beeinträchti­gungen erwerben. Zudem gibt es zahlreiche weitere Themen, etwa den Fachkräftemangel, die alle drei Branchenverbände gemeinsam betreffen. Die Idee von Artiset erachte ich deshalb als genial. Künftig muss es darum gehen, unsere Synergien noch besser zu nützen. Inspi­rierend ist für mich, dass sich unter dem Dach von Artiset alle darum bemühen, dass die Dienstleistungen für Menschen mit Unterstützungsbedarf immer besser werden. 

 


Rahel Stuker

Rahel Stuker, Jg. 1970, ist seit 1. Oktober 2023 Geschäftsführerin von INSOS und Mitglied der ARTISET-Geschäftsleitung. Sie hat Ethnologie, Soziologie und Religionswissenschaften studiert und mit dem Lizentiat abgeschlossen. Sie war über zehn Jahren beim Schweizerischen Roten Kreuz in verschiedenen Funktionen tätig. Von 2012 bis 2023 arbeitete sie dann bei der Interessengemeinschaft Sozialpsychiatrie Bern (igs Bern), ab 2014 als Institutions­leiterin. Rahel Stuker hat zwei erwachsene Kinder und wohnt mit ihrem Partner in Bern

 

Foto: esf