DIVERSITÄT | «Wir sind uns heute der Vielfalt bewusst»

24.03.2022 Elisabeth Seifert,
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Der Begriff «Diversität» ist in aller Munde. Sozialwissenschaftlerin Eva Soom Ammann erläutert die Gründe ­dafür und skizziert die Entwicklung des Verständnisses von Diversität. Gerade auch in Institutionen, kleinen Gesellschaften mit besonderen Bedingungen, ist das Thema von hoher Relevanz.

Frau Soom Ammann, die Verschiedenheit der Menschen ist grenzenlos: Worauf zielt der Begriff «Diversität» insbesondere?
Der Begriff Diversität bezeichnet eigentlich schlicht Vielfalt, Verschiedenheit. Oft ist Verschiedenheit aber sozial oder strukturell wirksam, das heisst: Verschiedenheit kann zu Ungleichheit führen oder diese legitimieren.
Manchmal ist das sehr offensichtlich, beispielsweise bei Bildung und Einkommen, manchmal ist es aber auch nicht so deutlich und sehr kontextabhängig. In der Schweiz ist es zum Beispiel egal, ob man blaue oder grüne Augen hat. Es gibt aber durchaus Gesellschaften, wo blaue und grüne Augen gegenüber anderen Augenfarben mit einem Statusgewinn verbunden sind.

«Deshalb braucht es auch betriebliche Lösungsansätze.»

Je nach Gesellschaft produzieren gewisse Merkmale Ungleichheit oder eben nicht?
Nicht nur in ganzen Gesellschaften, sondern auch in einzelnen Gruppen oder Organisationen können bestimmte Kategorien je nach Situation Ungleichheiten produzieren sowie auch Abhängigkeit und Asymmetrien fördern. Im Diversitätsdiskurs geht es vor allem darum, wie man mit solchen potenziell ungleich machenden Kategorisierungen umgeht.
Die Probleme lassen sich dabei nicht nur mit grossflächigen, auf der Makroebene angesiedelten Bemühungen lösen, weil sie eben oft erst in der alltäglichen Praxis in bestimmten Situationen sichtbar und wirksam werden. Deshalb braucht es auch betriebliche Lösungsansätze.

Die Auseinandersetzung mit Kategorien, die Ungleichheit produzieren, hat eine lange Tradition: Können Sie diese kurz erörtern?
Der Ursprung des gegenwärtigen Diversitätsdiskurses ist in der Mitte des letzten Jahrhunderts zu verorten. Man begann sich unter anderem in Bürgerrechtsbewegungen wie in den USA mit Kategorien auseinanderzusetzen, die zu Unterdrückung, Diskriminierung und sozialer Benachteiligung ganzer gesellschaftlicher Gruppen führen.

In den USA stand zu Beginn vor allem die Rasse als Ungleichheit produzierendes Merkmal im Vordergrund?
In der Ungleichheits- und Diversitätsforschung geht man davon aus, dass es drei zentrale Kategorien gibt, die ungleich wirken respektive eine Machtasymmetrie beinhalten. Dies sind soziale Klasse, Geschlecht und, im amerikanischen Diskurs, Rasse.
Aktuell wird gerade wieder vor allem über Rasse debattiert. Das spüren wir auch in Europa und der Schweiz. Ähnlich gelagerte Ungleichheitsdimensionen wie Migrationshintergrund oder ethnische Zugehörigkeit geraten dadurch gerade etwas aus dem Blick.

«Zu Beginn der Debatte ging es um die Frage, welches der drei genannten Kriterien entscheidend ist: die Klasse, das Geschlecht oder die Rasse?»

Heute hat man neben diesen Kategorien aber auch weitere Merkmale im Blick. Wie kam es dazu?
Zu Beginn der Debatte ging es um die Frage, welches der drei genannten Kriterien entscheidend ist: die Klasse, das Geschlecht oder die Rasse? Im Verlauf der Debatte kam es dann zu Ausdifferenzierungen der einzelnen Kategorien. Rasse beispielsweise wurde erweitert um Migrationshintergrund und ethnische Zugehörigkeit. Zudem erkannte man, dass es zahlreiche weitere Aspekte gibt, die Ungleichheit zur Folge haben und deshalb auch als Differenzkategorien verstanden werden können.

Gerade bei der Kategorie des Geschlechts zeigt sich diese Auffächerung besonders gut?
In der Auseinandersetzung mit Geschlecht als Differenzkategorie kam zunächst die Frage auf, ob die Ungleichheit naturgegeben oder sozial konstruiert ist. Man begann zu unterscheiden zwischen körperlichen Geschlechtsmerkmalen auf der einen Seite und der Frage der sozialen Rollen und geschlechtlichen Identität auf der anderen Seite.
So begann sich die vermeintlich klare Unterscheidung zwischen «männlich» und «weiblich» in eine Vielzahl von Zwischenbereichen aufzufächern. Dadurch wurde die Vielfalt mit Blick auf Geschlecht gesellschaftlich viel sichtbarer.

Man wurde sich dann immer besser bewusst, dass all diese Zwischenbereiche und Kategorien Ungleichheit zur Folge haben können, aber nicht müssen?
Wir wissen heute, dass unterscheidende Merkmale in unterschiedlichen Kombinationen Ungleichheit produzieren können und nicht immer so klar ist, was in welcher Situation zum Vor- oder Nachteil wird. Der Diskurs um Diversität setzt dabei bewusst keine Kategorie an die erste Stelle. Die Sensibilität nimmt zu, dass es bei Fragen der Ungleichheit nicht in erster Linie um das Merkmal Geschlecht geht, oder um Behinderung, um Nationalität, Rasse, Alter oder was es dann auch immer ist.
Welche Merkmale und auch welche Kombination von Merkmalen wirksam werden, kommt auf den Kontext und die jeweilige Situation an. Dabei kann die Situation individuell, betrieblich oder auch gesamtgesellschaftlich definiert sein.

Diversität ist derzeit in aller Munde. Weshalb ist das so?
Wir sind uns heute der gesellschaftlichen Vielfalt in einem besonderen Mass bewusst. Das hat, gerade in der Schweiz, mit Werten wie Individualismus, Freiheit und Gleichheit zu tun. Die Globalisierung mit ihrem Wertepluralismus spielt hierfür auch eine zentrale Rolle. Wir sind in Berührung mit unterschiedlichsten Wertvorstellungen und sozialen Organisationsformen.

Die Diversitätsdebatte ist Ausdruck einer offenen, wertepluralistischen Gesellschaft?
Unsere aktuelle gesellschaftliche Situation lässt es zu, über Kategorien der Zugehörigkeit zu diskutieren und diese zu verhandeln. Das hat mit unserem demokratischen Selbstverständnis zu tun und, wie zuvor erwähnt, mit bestimmten Werten, vor allem der Individualität. Davon abgeleitet sind Autonomie und Selbstbestimmung zentrale Werte. Gerade auch in Pflegeheimen und sozialen Institutionen geht es heute wesentlich um die Diskussion über solche Werte und die Umsetzung entsprechender Konzepte.

«Wie können wir Menschen mit Einschränkungen Sonderbehandlung zukommen lassen, ohne dass wir sie dadurch ausgrenzen oder unnötig exponieren?»

Auch in einer offenen Gesellschaft wird es aber immer Kategorisie­rungen geben, die ein- oder ausschliessende Wirkung haben?
Es ist keine Gesellschaft denkbar, die ohne solche Kategorisierungen auskommt. Wir Menschen müssen kategorisieren und Zugehörigkeiten konstruieren, um uns orientieren zu können und handlungsfähig zu sein.
Es gibt Gesellschaften und historische Epochen, wo solche Zugehörigkeitskategorien von oben verordnet werden oder aber, wie wir das jetzt sehr ausgeprägt erleben, verhandelt werden können. Dabei geht es immer auch um das Infragestellen von Ungleichheit und die Suche nach Möglichkeiten, wie man Gerechtigkeit herstellen kann. So stellt sich eben auch die Frage: Wer hat aufgrund von Ungleichheiten einen Anspruch auf besonderen Schutz oder Sonderbehandlung?

Sprechen Sie mit dieser «Sonder­behandlung» unter anderem den Diskurs rund um das Thema Inklusion an?
Diese Frage ist im Inklusionsdiskurs besonders zentral. Wie können wir beispielsweise Menschen, die längerfristig kognitive oder körperliche Einschränkungen haben, Unterstützung gewähren, um ihre Benachteiligung auszugleichen? Wie können wir ihnen Sonderbehandlung zukommen lassen, ohne dass wir sie dadurch ausgrenzen oder unnötig exponieren? Dazu gehören strukturelle Veränderungen und auch individuelle Unterstützung. Diese Unterstützung soll idealerweise so gestaltet sein, dass dadurch nicht wieder Aussonderung und Ungleichheit produziert wird – und das ist komplex.

Über die Jahrzehnte hinweg sind rechtliche Grundlagen entstanden, von Diskriminierungsverboten über Gleichstellungsgesetze bis zu internationalen Vereinbarungen. Wie beurteilen Sie den Erfolg dieser Bemühungen?
All die rechtlichen Bemühungen sind sehr wichtig, sie schaffen die Grundlage dafür, dass Einzelpersonen und Gruppen Rechte einfordern können. Internationale rechtliche Vereinbarungen wie die UN-Behindertenrechtskonvention geben gerade auch Heimen und Institutionen eine Leitlinie für die Umsetzung entsprechender Konzepte.
Die Problematik solcher Vereinbarungen, auch der UN-BRK, besteht darin, dass auch hier Kategorien gebildet werden müssen und dadurch gewisse Personengruppen profitieren, andere aber wiederum ausgeschlossen werden oder zumindest am Rand stehen. Können zum Beispiel Menschen mit Demenz auch Inklusion einfordern und so die nötige Unterstützung bekommen, um selbstbestimmt zu Hause bleiben zu können, oder können sie das nicht?

«Die Institutionen müssen sich heute mit der Frage beschäftigen, ob, wie und in welche Richtung implizit Macht ausgeübt wird.»

Gerade auch im Bereich der sozialen und sozialmedizinischen Institutionen ist die Debatte rund um Diversität angekommen. Wie beurteilen Sie die Relevanz des Themas für diesen Bereich?
Beziehungen und soziale Regeln spielen im Heimbereich eine besonders grosse Rolle. Heime sind, so könnte man sagen, kleine Gesellschaften mit besonderen Bedingungen. Dort wohnen über einen längeren Zeitraum hinweg sehr unterschiedliche Arten von Menschen zusammen. Diese Menschen werden dabei von Mitarbeitenden begleitet und unterstützt, da sie solche Begleitung und Unterstützung bis zu einem gewissen Grad brauchen. Es besteht also immer eine gewisse Asymmetrie.
Über lange Zeit hinweg galten hier Regeln und Modelle, die diese asymmetrische Beziehung wenig reflektierten, teilweise sogar festschrieben. Das hat sich jetzt geändert. Die Institutionen, aber auch alle, die in den Institutionen arbeiten, müssen sich heute mit der Frage beschäftigen, ob, wie und in welche Richtung implizit Macht ausgeübt wird.

Ungleichheiten und Machtasymmetrien gibt es auch zwischen den Mitarbeitenden?
Ja, auch Mitarbeitendenteams sind divers, gerade im Heimbereich. In den Pflegeheimen etwa arbeiten viele Frauen, Migrierte, wenig erfahrene oder auch gut qualifizierte, aber bereits etwas ältere Fachpersonen. Zwischen all diesen Mitarbeitenden kann es zu vielen Asymmetrien kommen, die auch reflektiert werden müssen.
Die grosse Diversität der Arbeitnehmenden in den Pflegeheimen und den sozialen Institutionen hat auch damit zu tun, dass Care-Arbeit in Heimen sehr viele unterschiedliche Kompetenzen braucht, gerade auch, weil es um die Gestaltung von Lebenswelten geht. Hier kann man auch sagen: Eine diverse Bewohnerschaft kann von diversen Mitarbeitenden profitieren.

Gerade auch in der Diversität der Mitarbeitenden besteht also sehr viel Potenzial?
Es kann von Vorteil sein, wenn Mitarbeitende und Bewohnende gemeinsame Anknüpfungspunkte haben, zum Beispiel dieselbe Sprache sprechen, biografische Erinnerungen an ihre Herkunft teilen oder auch eine gleiche geschlechtliche Orientierung haben. Zu eindeutige Kategorisierung kann aber auch ein Nachteil sein. Man muss immer die spezifische, individuelle Situation berücksichtigen.

Wo stehen wir als Gesellschaft in der Schweiz?
Neben dem vergleichsweise hohen Wohlstand ist die Schweiz aufgrund ihrer politischen Tradition und der sprachlichen und kulturellen Vielfalt eigentlich gut gerüstet, um mit Diversität umzugehen. In der Schweiz haben vor allem auf das einzelne Individuum bezogene Konzepte Tradition.
Ansätze, die ganze Gruppen betreffen, zum Beispiel Quotenregelungen, haben es eher schwierig.

«Institutionen können die  Diversitätsdebatte nutzen, um sich zu reflektieren und weiterzuentwickeln.»

Was ist Ihrer Meinung nach zu tun,, damit wir uns als diverse Gesellschaft verstehen können?
Meiner Meinung nach ist dafür unabdingbar, dass wir in vielfältiger Weise miteinander zu tun haben, uns dabei auch reiben können, dass wir Werte, ­Normen und Freiräume aushandeln können. Manchmal müssen wir das auch, und das müssen wir aushalten können.
Damit das möglich ist, brauchen wir eine gewisse soziale Absicherung des Einzelnen, und wir brauchen ein demokratisches Grundverständnis und ein verlässliches Rechtssystem.

Wo sehen Sie den Handlungsbedarf aufseiten der Institutionen?
Wenn man als Institution die Lebens- und Arbeitswelten im Heim diversitätsgerecht gestalten will, kommt man nicht darum herum, die Perspektiven der Bewohnenden und der Mitarbeitenden mit einzubeziehen, sich also partizipativ auszurichten.
Partizipative Verfahren bedeuten für das Management eine gewisse Herausforderung. Partizipation ist mit Aufwand verbunden, man muss auch mit Dissens umgehen können und Raum für Aushandlung schaffen. Gegenwärtig, so denke ich, ist die Auseinandersetzung mit Diversität ein Muss. Institutionen können die aktuelle Diversitätsdebatte aber auch konstruktiv nutzen und zum Anlass nehmen, sich als Institution zu reflektieren und weiterzuentwickeln.


Unsere Gesprächspartnerin

Eva Soom Ammann, 53, ist Sozialanthropologin und seit bald sieben Jahren Dozentin in der angewandten Forschung und Entwicklung Pflege am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule BFH.

Foto: BFH