«Die Probleme, die auf uns zukommen, werden unterschätzt»

02.07.2025 Interview: Elisabeth Seifert

Der Fachkräftemangel im Pflege- und Sozialbereich wird sich weiter verschärfen. Es drohe die Gefahr, in einen Versorgungsengpass hineinzulaufen, sagt Artiset-Geschäftsführer Daniel Höchli. Die Branche fordert jetzt mittels einer Resolution die Zusammenarbeit der Akteure. Allen voran der beiden Leistungsfinanzierer Bund und Kantone. Die Gesellschaft komme nicht darum herum, so Höchli, mehr Geld für den Pflege- und Sozialbereich zu sprechen.

Weshalb haben Sie gerade die Form der Resolution gewählt, um auf den Fachkräftemangel in den Branchen aufmerksam zu machen und Massnahmen zu fordern?

Höchli: Es ist eigentlich nicht üblich in unseren Branchen, mittels einer Resolution die Öffentlichkeit auf ein Problem aufmerksam zu machen. Es ist auch das erste Mal, das Artiset so etwas macht. Es gibt aber eine Vorgeschichte. Wir haben den Fachkräftemangel schon länger als Schwerpunktthema identifiziert, der alle unsere Branchenverbände betrifft. Und wir sehen, dass die Herausforderung enorm ist. Im Pflegebereich sind die Herausforderungen sicher am grössten, aber auch am stärksten im öffentlichen Bewusstsein. Eine vor wenigen Monaten veröffentlichte Studie zeigt auch für den Sozialbereich eine angespannte Situation.

Sie sprechen die in den nächsten Jahren grösser werdende Nachfrage im Altersbereich an und zudem führt die Pensionierungswelle der starken Jahrgänge auf der Arbeitnehmenden-Seite generell zu einer Verknappung.

Höchli: Und diese Verknappung führt zu einer grösseren Konkurrenz. Unsere Branchen haben dabei den Vorteil, dass sie eine sinnstiftende Arbeit anbieten können. Es handelt sich aber um Berufe, die aufgrund der nötigen Abend- oder Nachtdienste und der Wochenendarbeit im Vergleich zu anderen Berufen benachteiligt scheinen, vor allem was die Organisation des Familienlebens betrifft.

Das sind allesamt bekannte Probleme und es gibt gerade auch vonseiten der Föderation Artiset diverse Bemühungen, namentlich auf politischer Ebene, um diesen zu begegnen. Weshalb jetzt also eine Resolution?

Höchli: Seit bald zwei Jahren haben wir diese Probleme in Gesprächen auf der Leitungsebene thematisiert, mit dem Bundesamt für Gesundheit, den Generalsekretariaten der Gesundheitsdirektorenkonferenz und der Sozialdirektorenkonferenz sowie mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen. Überall haben wir gesagt, da kommt eine grosse Herausforderung auf uns zu und dass wir die Probleme gemeinsam anpacken müssen.

Und diese Gespräche haben nicht zum gewünschten Erfolg geführt?

Höchli: Wir stellen fest, dass alle zwar die grosse Herausforderung anerkennen, es besteht aber eine gewisse Zurückhaltung, wenn es darum geht, diese Herausforderung gemeinsam anzupacken. Wir haben den Eindruck, dass die Probleme, die auf uns zukommen, unterschätzt werden und deshalb haben wir uns jetzt entschieden, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.

Es besteht die Gefahr, dass die Versorgung längerfristig nicht mehr gewährleistet ist.

Höchli: Wir wollen wirklich verhindern, dass es zu einem Versorgungsengpass kommt. Und wir wollen auch aufzeigen, dass unsere Mitglieder, also die Arbeitgeber, nicht dafür verantwortlich sind, dass alle Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, diese auch erhalten. Die Arbeitgeber haben vielmehr die Verantwortung die Menschen, die ihnen anvertraut sind, gut zu begleiten. Wenn man aber nicht mehr genügend Arbeitskräfte hat, kann man die betroffenen Menschen nur noch begrenzt aufnehmen.

Wen genau wollen Sie mit der Resolution erreichen?

Höchli: Wir möchten zwei Adressaten-Gruppen ansprechen. Zum einen jene, die in der Verantwortung stehen, zu handeln. Das sind insbesondere Bund und Kantone, aber auch die Sozialpartner, auch wir, die Föderation Artiset mit dem Branchenverbänden Curaviva, Insos und Youvita sowie unsere Mitglieder. Wir zeigen auf, dass es auf verschiedenen Ebenen Handlungsbedarf gibt.

Und zum anderen sprechen Sie die Öffentlichkeit an?

Höchli: Ja, wir wollen das öffentliche Bewusstsein für die Notwendigkeit der Massnamen schärfen. Dies nicht zuletzt, weil es auch finanzwirksame Massnahmen braucht, sei es durch den Einsatz von mehr Steuergeldern oder eventuell durch Anpassungen bei den Krankenkassenprämien. Angesichts der Herausforderungen ist es aus unserer Sicht zu wenig, immer nur in Fachkreisen über diese Themen zu diskutieren. Es ist jetzt die Zeit da, die Öffentlichkeit stärker auf diese Probleme aufmerksam zu machen.

Die Resolution fordert ganz besonders die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure, um die Probleme anzugehen. Weshalb betonen Sie diese Zusammenarbeit?

Höchli: Man kann schon der Auffassung sein, dass alle Akteure einfach ihre Aufgaben machen sollen, der Bund, die Kantone und auch die Betriebe. Wenn wir diesen Weg einschlagen, gibt es aber zwei Nachteile: Erstens besteht eine gewisse Gefahr, dass alle meinen, die anderen müssen handeln. Und zweitens, wenn jeder etwas für sich macht, dann haben wir kein Gesamtbild und können nicht abschätzen, ob wir wirklich eine Wirkung erzielen. Es braucht eine gemeinsame Auslegeordnung und wir müssen uns auch gegenseitig verpflichten.

Was erhoffen sich konkret von dieser Zusammenarbeit?

Höchli: Nehmen wir zum Beispiel den administrativen Aufwand, der für die Mitarbeitenden in unseren Branchen eine grosse Belastung darstellt. Diesen administrativen Aufwand generieren verschiedene Akteure: Das können Auflagen des Kantons oder des Bundes sein, Im Pflegebereich auch vonseiten der Versicherer, und auch die Betriebe selber haben Aufwand generierende interne Regelungen. Um diesen Aufwand zu reduzieren, wäre es wichtig, dass alle zusammensitzen und prüfen, wo Vereinfachungen möglich sind. So gilt es etwa, Doppelspurigkeiten bei der Aufsicht durch die Versicherer und die Kantone zu beseitigen.

In der Resolution geht es wesentlich darum, dem Fachkräftemangel mit einer besseren Finanzierung der Leistungen zu begegnen: Bund und Kantone stehen also besonders in die Pflicht?

Höchli: Im freien Arbeitsmarkt haben Arbeitgebende einen gewissen unternehmerischen Spielraum, um die Arbeitsbedingungen anzupassen. Stark regulierte Branchen wie der Pflege- und Sozialbereich sind hier stark eingeschränkt. Und zwar deshalb, weil vorgegeben ist, welche Entschädigungen die Betriebe für ihre Leistungen bekommen. Wenn es keine Anpassungen in der Leistungsfinanzierung gibt, dann haben wir einen Nachteil. Die Finanzierer müssen sich bewusst sein, dass sie es sind, die im Wesentlichen die Bedingungen dafür setzen, wie attraktiv unsere Branchen auf dem Arbeitsmarkt sein können.

Unterstreichen Sie mit der Resolution diese Forderung der Branche im Rahmen der Debatte über das neue Bundesgesetz zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege?

Höchli: In der Pflege erfolgen die Anpassungen über die OKP, die obligatorische Krankenpflegeversicherung, und über die Restfinanzierung der Kantone. Beim Bundesgesetz über eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege, das jetzt ins Parlament kommt, ist genau das die grosse Frage. Es gibt hier kostenwirksame Massnahmen, aber das Gesetz schreibt nicht vor, dass diese finanziert werden sollen, sondern überlässt dies den Finanzierern.

Ganz entsprechend der Resolution fordern Sie hier jetzt also, dass Bund respektive Krankenversicherer, und Kantone zusammensitzen und Nägel mit Köpfen machen?

Höchli: Die Resolution gibt einen Rahmen und in der Pflege haben wir jetzt ein konkretes Gesetz. Und da fordern wir natürlich, dass die Finanzierung im Gesetz geregelt ist. Das muss jetzt konkret werden. Mit der Einführung von EFAS, der einheitlichen Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen, müssen dann die Tarifpartner, also Versicherer, Kantone und Leistungserbringer, zusammensitzen und schauen, dass die Tarife so ausgestaltet sind, dass wir attraktive Arbeitsbedingungen gewährleisten können.  

Dass Sie die Resolution gerade jetzt erlassen, kommt also nicht von ungefähr?

Höchli: Die Resolution hat eine strategische und damit langfristige Komponente: Wir wollen damit deutlich machen, dass wir am Thema dranbleiben. Die Resolution lässt sich nicht von heute auf morgen umsetzen, es handelt sich hier vielmehr um eine permanente Aufgabe während der nächsten zwei Jahrzehnte. Und gleichzeitig ist es tatsächlich ein taktisch guter Moment: Das Gesetz, das jetzt auf dem Tisch liegt, ist wichtig, aber es reicht nicht, es braucht viel mehr.

Und das ist eben nur dann möglich, wenn die Akteure zusammenarbeiten?

Höchli: Das aktuelle Bundesgesetz ist gerade diesbezüglich eigenartig konstruiert. Der Bundesrat kann bestimmen, zum Beispiel die Normalarbeitszeit von 42 auf 40 Stunden runterzusetzen. In der Botschaft schreibt er, die Mehrkosten sollen die Restfinanzierer tragen. Die Kantone erhalten damit die Aufgabe, die Finanzierung sicherzustellen, aber es ist keine Verpflichtung damit verbunden. Und dann gibt es noch eine Bestimmung, dass die Arbeitnehmenden-Verbände klagen können, wenn ein Arbeitgeber das Gesetz nicht einhält. Das heisst im Klartext: Eine Stelle bestimmt, was gilt, die zweite Stelle bestimmt, ob es finanziert wird und die dritte Stelle muss den Kopf hinhalten, wenn die Finanzierung fehlt.

In der Zusammenarbeit der Akteure soll ein Masterplan entstehen, das ist ein sehr ambitioniertes Vorgehen – wie wollene Sie das konkret angehen?

Höchli: Es gibt vereinzelte kantonale Beispiele, wo im Bereich der Sozialberufe oder auch anderer Berufe solche Pläne erarbeitet worden sind. Was wir fordern, ist nichts Spektakuläres und man kann es auch anders nennen. Es geht einfach darum, dass alle involvierten Akteure zusammensitzen und prüfen, wer welche Verantwortung hat. Weiter geht es dann darum, die Umsetzung zu begleiten und auch zu evaluieren, ob die gewünschte Wirkung erzielt wird. Es geht um die Idee. Und wenn ich sehe, welche Herausforderungen auf uns zukommen, werden wir nicht um einen solchen Plan herumkommen.

Und wie gehen Sie jetzt konkret vor, um all die Akteure an einen Tisch zu bringen?

Höchli: Die Schreiben an wichtige Akteure sind bereits verschickt, so an Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider und auch an die Präsidien der Sozialdirektorenkonferenz und der Gesundheitsdirektorenkonferenz. In diesen Schreiben bringen wir auch unsere Bereitschaft zum Ausdruck, an einem solchen Plan mitzuarbeiten.

Es handelt sich hier aber doch um ein sehr komplexes Unterfangen?

Höchli: Es besteht sicher die Frage, ob wir einen einzigen Masterplan für die Berufe im Sozial- und Pflegebereich machen sollen, oder ob es separate Pläne braucht. Möglich ist auch, dass zuerst die Kantone etwas erarbeiten und der Bund erst zu einem späteren Zeitpunkt einbezogen wird. Möglich ist auch, dass wir uns zunächst auf ein Thema konzentrieren, zum Beispiel den Abbau administrativer Hürden, oder auch die Förderung sozialer Innovationen. Wir können mit Teilprojekten anfangen, es kann sich auch um ein Pilotprojekt handeln. Wir sind offen, was das weitere Vorgehen betrifft. Wichtig ist aber, dass wir jetzt endlich ins Handeln kommen, da werden wir hartnäckig sein.

In den einzelnen Punkten spricht die Resolution vor allem Finanzierungsfragen an.

Höchli: Ohne Investitionen geht es nicht. Unsere Gesellschaft kommt nicht darum herum, mehr Geld für den Pflege- und Sozialbereich zu sprechen, wenn wir die Versorgung sicherstellen wollen. Es geht in der Resolution nicht nur um die Finanzen, aber es geht auch um die Finanzen. Unsere Botschaft lautet: Das Geld allein reicht nicht, aber ohne zusätzliches Geld werden wir es nicht schaffen.

Die Finanzierung ist gerade auch im Bereich Bildung wichtig: Können Sie das noch etwas ausführen?

Höchli: Eine gute Ausbildung braucht die richtigen Rahmenbedingungen, auch hier müssen wir bereit sein zu investieren. Die Praxisausbildnerinnen müssen genügend Zeit haben, um die Lernenden im Sozial- und Pflegebereich zu unterstützen. Nur so können sie in diese anspruchsvollen Berufe hineinwachsen. Es braucht hier besonders viel Begleitung, damit die jungen Leute langfristig in diesen Berufen bleiben.

Die Resolution nimmt auch die Branchen selber in die Pflicht. Gefordert sind innovative Personallösungen und interprofessionelle Zusammenarbeit. Können Sie das konkretisieren?

Höchli: Unsere Branche muss innovativ sein, in der Arbeitsgestaltung, auch in der interprofessionellen Zusammenarbeit. Zudem sollen auch Peers, Angehörige und Freiwillige vermehrt in die Arbeit integriert werden. Zu all dem gibt es schon viele gute Beispiele. Obwohl es Innovationen braucht, fällt auf, dass es vonseiten der Politik keine wirkliche Innovationserwartung an die Branche gibt. Wir können den gesetzlichen Auftrag, die Menschen zu begleiten und zu pflegen aber nur erfüllen, wenn wir innovativ sind. Das können soziale Innovationen oder technologische Lösungen sein. Dafür braucht es aber entsprechende Rahmenbedingungen und auch den Auftrag vonseiten der Politik.

In einem letzten Punkt spricht die Resolution die Auswirkungen von Versorgungskonzepten an: Warum ist das so wichtig?

Höchli: Es gibt neue, sehr berechtigte Konzepte. So etwa die vermehrte Begleitung und Betreuung älterer Menschen zu Hause oder auch eine Ausweitung des IV-Assistenzbeitrags, damit noch mehr Menschen mit Behinderung selbstständig wohnen können. Die Frage ist aber, ob wir genügend Fachkräfte dafür haben. Wir müssen uns also fragen, wie wir solche Konzepte vor dem Hintergrund begrenzter Arbeitskräfte ausgestalten können.


Foto: Matthias Luggen