Die UN-BRK verleiht Flügel

08.06.2022 Peter Saxenhofer

Der UN-BRK-Ausschuss hat den ersten Staatenbericht der Schweiz beurteilt. Das Fazit ist wenig schmeichelhaft: Es werde zu wenig für die gesellschaftliche und politische Gleichstellung von Menschen mit Behinderung getan. Gefordert sind alle Akteure – auch Organisationen, die sich für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung einsetzen.

Als die Schweiz 2014 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifizierte, glaubten viele, dass die Schweiz die Anforderungen der Konvention bereits erfüllt habe und nichts mehr zu tun bleibe. Acht Jahre später ist unbestritten, dass sich in unserem Land noch einiges bewegen muss, um die volle gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung umzusetzen.

«Bund und Kantone müssen jetzt eine umfassende Strategie für die Umsetzung der UN-BRK mit einem verbindlichen Aktionsplan ausarbeiten.»

Der UN-Ausschuss erachtet in seinen «Concluding observations» die föderative Ausrichtung der Schweiz als schwierig für eine zielstrebige und einheitliche Umsetzung der UN-BRK. Er empfiehlt, den rechtlichen und politischen Rahmen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene zu harmonisieren.

Bund und Kantone müssen jetzt eine umfassende Strategie für die Umsetzung der UN-BRK mit einem verbindlichen Aktionsplan ausarbeiten. Kernelemente sind die Klärung der Aufgabenbereiche und Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen sowie die Durchlässigkeit von ambulanten und institutionellen Angeboten.

Kein «Entweder-Oder», sondern ein «Mehr oder Weniger»

Mit den Anpassungen beim Finanzausgleich 2008 wurden die Zuständigkeiten im Behindertenbereich neu geregelt: Die Kantone übernahmen die Verantwortung und Finanzierung für institutionelle Angebote bei Wohnen, Arbeit und Beschäftigung. Die Zuständigkeit und Finanzierung von ambulanten Angeboten im Sinne individueller Eingliederungsmassnahmen blieben beim Bund. Diese Aufteilung von Aufgaben, Kompetenzen und Finanzierung stellt sich allerdings als enormes Hindernis auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft heraus.

Ambulante und stationäre Leistungen sind kein Gegensatz, sondern verschiedene Formen von Dienstleistungen, die sich ergänzen. So lässt sich ein personenorientiertes Setting         
zusammenstellen, das sich an den Bedürfnissen der Menschen und nicht an den Angeboten von Bund und Kantonen orientiert.

Soziale Institutionen fungieren als Brückenbauer

Die sozialen Institutionen begleiten Menschen mit Behinderung und unterstützen sie dabei, ihr Leben selbstbestimmter zu gestalten. Die Verbände der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf engagieren sich deshalb auch im Mehrjahresprogramm «Selbstbestimmtes Leben» von Bund und Kantonen. Der mit der UN-BRK angestossene Transitionsprozess von der Angebots- zur Bedarfsorientierung steht für einen grundlegenden Haltungswechsel.

«Vom allumfassenden Fürsorgeprinzip hin zu einer partizipativen, bedürfnisorientierten Begleitung von Menschen.»

Dienstleister stehen im Auftrag von Bund und Kantonen und sind somit abhängig von den strukturellen Rahmenbedingungen. Die Dienstleister haben jedoch proaktiv begonnen, ihre Angebote den Zielvorgaben der UN-BRK entsprechend weiterzuentwickeln. Die (Werte-)Haltung und die Betriebskultur in Verbänden und sozialen Institutionen bilden das Fundament. Der Sensibilisierung aller involvierten Menschen kommt darum eine entscheidende Bedeutung zu.

Mit dem Aktionsplan UN-BRK hat sich die Branche rasch selbst auf einen Massnahmenplan zur Umsetzung der UN-BRK geeinigt. Mit den formulierten Zielen und Massnahmen betonen die Verbände den eingeschlagenen Weg, einen Paradigmenwechsel zu vollziehen: vom allumfassenden Fürsorgeprinzip hin zu einer partizipativen, bedürfnisorientierten Begleitung von Menschen mit dem Ziel der vollständigen gesellschaftlichen Teilhabe und selbstbestimmten Lebensführung.

Zum Beispiel beim Wohnen

Viele Menschen mit Beeinträchtigung befinden sich in einem Übergang zwischen betreutem und begleitetem Wohnen. Doch gerade bei diesem entscheidenden Übergang wechselt die Zuständigkeit bei der Finanzierung einer allenfalls gewünschten Unterstützung. Dadurch wird die grosse Herausforderung zu einem selbstbestimmteren Leben nochmals künstlich erhöht.

Erschwerend ist, dass in der geltenden Ausrichtung der Behindertenpolitik bei einem Rückfall kein Auffangnetz vorgesehen ist, das situativ in Anspruch genommen werden kann. Die Idee der Eingliederung kennt nur eine Richtung. Die Möglichkeit, bei den Übergängen für eine gewisse Zeit einen Schritt zurückzugehen, ist im bestehenden System nicht wirklich vorgesehen.

Es braucht günstige gesetzliche Rahmenbedingungen. Nur so kann einer Wahlfreiheit auf der Angebotsseite Vorschub geleistet werden, insbesondere der Förderung:

  • einer Diversität von möglichen Wohnformen und Wohnunterstützungsmöglichkeiten,
  • einer Durchlässigkeit von verschiedenen Wohnangeboten, die auch Auffangmöglichkeiten beinhalten,
  • einer flexiblen, bedürfnisorientierten Unterstützung in der jeweiligen, selbstgewählten Wohnform.

Zum Beispiel bei der Arbeit

Integrationsbetriebe wirken als Brückenbauer für die berufliche Teilhabe. Sie verhelfen Menschen, trotz einer leistungseinschränkenden Behinderung ihre Potenziale im Arbeitsleben zu entfalten. Der allgemeine Arbeitsmarkt muss dringend inklusiv(er) ausgestaltet werden.

Integrationsbetriebe mit ihrer personenorientierten Unterstützung können wesentlich zu einem inklusiven Arbeitsmarkt beitragen, indem sie Menschen mit Unterstützungsbedarf in ihrem beruflichen Leben begleiten und dafür mit Arbeitgebenden des allgemeinen Arbeitsmarktes eng zusammenarbeiten – bei der Ausbildung, bei der (Wieder-)Eingliederung und mit der Bereitstellung von betriebsinternen und -externen Arbeitsstellen.

«Der mit der UN-BRK angestossene Transitionsprozess von der Angebots- zur Bedarfsorientierung steht für einen grundlegenden Haltungswechsel.»

Damit Menschen mit Behinderung ihr Potenzial wirklich einbringen können, braucht es Unterstützung sowohl bei der individuellen Begleitung auf dem Weg vom ergänzenden zum allgemeinen Arbeitsmarkt wie auch für Arbeitgeber bei der Gestaltung des Arbeitsumfelds. Ohne die Bereitschaft der Arbeitgeber, Menschen mit Beeinträchtigung einzustellen, wird die Integration aber nicht funktionieren. Ein begleitendes Coaching ist auch für diese nötig. Wichtig sind die Durchlässigkeit und damit eine Elastizität zwischen den heute noch zu wenig miteinander verbundenen Arbeitsmärkten.

Was die Verbände fordern

Aktionsplan
Damit der UN-BRK-Transitionsprozess den nötigen Schub erhält, muss auch die Schweiz, das heisst Bund und Kantone, einen verbindlichen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK erarbeiten.

Ausbildung
Noch immer besteht ein defizitorientierter Leistungsansatz. Dabei gehen Potenziale verloren. Der Nachteilsausgleich greift gerade bei Menschen mit kognitiver oder psychischer Beeinträchtigung zu wenig. Es braucht die gesetzliche Anerkennung einer kompetenzorientierten (Berufs-)Bildungsmöglichkeit für alle, damit Personen mit Unterstützungsbedarf in den Arbeitsmarkt integriert werden und dort ihre Fähigkeiten einbringen können.

Inklusiver Arbeitsmarkt
Integrationsbetriebe leisten einen wichtigen Beitrag als Brückenbauer in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Dieses Engagement kann nur gelingen, wenn für Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarkts Anreize und Vorgaben bestehen, Menschen mit Behinderung einzustellen, und sie gewillt sind, eine enge wirtschaftliche Kooperation mit den Integrationsbetrieben zu pflegen.

Wohnen
Dienstleister müssen die Möglichkeit erhalten, Wohnformen gemäss den spezifischen Bedürfnissen weiter zu diversifizieren. Die künstliche Trennung von institutioneller bzw. stationärer und ambulanter Unterstützung beim Wohnen ist aufzuheben. Dieses Hindernis steht einer Bedarfsorientierung vom betreuten übers begleitete bis zum selbständigen Wohnen für Menschen mit Behinderung entgegen. Diese brauchen die Unterstützungsleistungen dort, wo sie wohnen.

Integrationsbetriebe
Die Verschärfung bei der Finanzierung und zunehmende Auflagen stellen die Umsetzung des Auftrags zur beruflichen Integration in Frage. Es braucht eine klare Unterscheidung zwischen der von den Kantonen finanzierten agogischen Begleitung und dem betriebswirtschaftlichen Bereich, der in alleiniger Verantwortung des Integrationsbetriebs liegen soll. Unter den aktuell gültigen Rahmenbedingungen fehlt der Anreiz für soziales Unternehmertum.

Finanzierung
Entflechtung der Finanzierungskanäle zwischen Bund – Kantonen – Krankenkassen (Pflegeleistungen über OKP) und Vereinheitlichung der Finanzierung qualitativ vergleichbarer, aber nicht «homogenisierter» Dienstleistungen. Aufhebung der getrennten Angebots- bzw. Anbieterfinanzierung durch Kantone (Wohnen, institutionell erbrachte Leistungen) und durch den Bund (Arbeitsintegrationsmassnahmen, ambulant erbrachte Leistungen).

Fachpersonal
Bei der Umsetzung der UN-BRK ist Fachpersonal unverzichtbar. Die Sicherstellung der Qualität und der Finanzierung derselben bei der Leistungserbringung (ob im institutionellen oder im ambulanten Bereich) ist für den UN-BRK-Transitionsprozess unabdingbar.

Mehr Infos

Infos zum Aktionsplan UN-BRK
www.aktionsplan-un-brk.ch

Überblick zu den Projekten
Die Broschüre «Woran wir arbeiten» gibt einen Überblick zu den laufenden Projekten des Aktionsplans UN-BRK.
Projekte lesen

 


Peter Saxenhofer ist Geschäftsführer von INSOS und Mitglied der Geschäftsleitung der Föderation ARTISET.


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