FÜHRUNG | Soziale Unternehmung, lebendig und lernend

08.06.2022 Claudia Weiss

Kontext Mensch mit Sitz in Bern bietet ambulante Unterstützung: Anfangs in den Bereichen Soziale Arbeit – vor allem für Kinder und Familien – sowie Gesundheit und Coaching, seit Neuerem auch in der Domäne Arbeit und Wirtschaft. Entscheide werden nach soziokratischen Gesichtspunkten konsentbasiert gefällt, die Organisation ist lernend und leichtfüssig gehalten.


Kontext Mensch im Bild: Zur Fotostory


Eine soziokratische Entscheidungsfindung und schwerfällig? Ramona Bischoff und Samuel Steiger schauen einander an und schütteln gleichzeitig den Kopf. «Alles andere als das», sagt Bischoff nachdrücklich. Im Gegenteil, finden beide: Festgelegte Entscheidkreise helfen, dass Abläufe bei Kontext Mensch, der «kreativen Anbieterin ambulanter Unterstützung» in Bern, flink funktionieren. Endlose Diskussionen, komplizierte Kaskaden – genau das komme hier nicht vor.

Damit das funktioniert, sagt Samuel Steiger, Sozialpädagoge, Mediator und Kapitän der Vorgängerinstitution Kontext Bern, braucht es eine klar strukturierte, aber bewegliche Organisation mit kleinen, agilen Kreisen von Expertinnen und Experten. Der innerste Kreis, die sogenannte DNA von Kontext Mensch, besteht aus vier Personen: Im Lauf der Jahre hatte sich um Steiger herum ein Kernteam gebildet mit David Capdevila (Sozialarbeiter, Kunst- und Maltherapeut), Michael G. Walser (Sozialarbeiter und Sexologe) und Ramona Bischoff (Betriebswirtin und Wirtschaftspsychologin).

«Wir arbeiten immer nur mit jenen Rollen und Prozessen, die uns nützen und pragmatisch dem Erfüllungsziel dienen.»

Ihre gemeinsamen Ziele: Die Arbeit soll Sinn und Freude machen. Sie soll Zeit lassen zum Leben und für die persönliche Entwicklung. Und sie soll erst noch wirtschaftlich sein. «Leerlauf, Zeitfüllersitzungen und Nonsensaufgaben leisten wir uns nicht, nicht an Finanzen und nicht an Lebenszeit», sagt Ramona Bischoff dezidiert. «Wir arbeiten immer nur mit jenen Rollen und Prozessen, die uns nützen und pragmatisch dem Erfüllungsziel dienen.» Dabei sollen stets die Menschen im Zentrum stehen – jene, die mitarbeiten, und jene, die begleitet werden.

Tragende Rollen als Kreise

Bei Kontext Mensch sind tragende Rollen als Kreise organisiert. Diese übernehmen Arbeiten von Erstgesprächen mit Kundinnen und Kunden bis hin zur Finanzplanung. So passt die Organisation ihre zentralen Geschäftsabläufe ständig an die Notwendigkeit an. Dabei sollen auch menschliche und fachliche Prozesse begleitet werden. Dafür steht in der Organisation beispielsweise die Rolle «Buddy» zur Verfügung. Diese wird von sieben Fachspezialistinnen und -spezialisten für alle angebotenen Bereiche, auch für Administration und Projektleitung, wahrgenommen. «Die Verantwortlichkeit der Rolle stellt sicher, dass die Aufträge mit den passenden Fachpersonen besetzt werden», erklärt Samuel Steiger.

Die sieben Buddys betreuen die Fachpersonen – die Kontextologinnen und Kontextologen – in engem Austausch. Sie kennen untereinander die Persönlichkeiten und Stärken und können deshalb sehr rasch entscheiden, wen sie für einen bestimmten Auftrag vorschlagen möchten.

Die Kontextologinnen und Kontextologen wiederum arbeiten ausschliesslich auf Mandatsbasis: So entscheiden sie immer frei, ob sie einen Auftrag annehmen oder nicht, niemand muss ein Mandat übernehmen, um Sollzeiten zu füllen. Umgekehrt hat Kontext Mensch auch keine Verpflichtung, Mandate einzuholen, die nicht ideal zu den angebotenen Kompetenzen passen.

Eine Beschäftigungsgarantie gibt es nicht, dafür viel Freiheit und Selbstbestimmung, um in einem lebendigen und fachlich diversen Ökosystem Projekte zu realisieren. «So kann Innovation und persönliche Entwicklung alltäglich stattfinden», sagt Ramona Bischoff.

«Effizient und erfolgreich»

Kontext Mensch zog rasch interessierte Fachpersonen aus diversen Ausbildungs- und Arbeitsbereichen an und entwickelte sich weiter. Und zwar blitzschnell: Innert Jahresfrist verdoppelte sich die Crew, inzwischen gehören 37 Fachpersonen zur Organisation. Ob denn die Organisation nicht je grösser, desto schwerfälliger werde? Samuel Steiger nickt, diese Frage hört er immer wieder.

Aber er sieht das genau anders: «In der soziokratisch organisierten Organisation werden nicht alle zu jedem Punkt befragt, sondern nur die jeweils betreffenden Rolleninhaberinnen des jeweils zuständigen Kreises.»

«Wer einen Einwand gegen einen Vorschlag vorbringen will, muss diesen sinnvoll begründen, erklären und einen neuen Lösungsansatz präsentieren.»

Beim Entscheidungsprozess müssen nicht alle ihre Meinung kundtun: «Wir führen keine endlosen Diskussionen, sondern wer einen Einwand gegen einen Vorschlag vorbringen will, muss diesen sinnvoll begründen, erklären und einen neuen Lösungsansatz präsentieren.»

In ihren Buddy-Gesprächen passiere ein Austausch auf Augenhöhe, wie sie in Mitarbeitergesprächen in top-down hierarchischen Strukturen oft nicht stattfänden. Lang müsse das allerdings nicht dauern, «denn wir müssen effizient und erfolgreich sein». Das gelinge auch, wenn die Themenkreise gut aufgestellt seien: «Dann fliessen die Abläufe ohne Verzögerung, das ist eine reine Frage der Organisation und Rollenklarheit.» In dringenden Fällen, beispielsweise wenn es um das Kindeswohl geht, liegen dann zwischen Auftragserteilung und Absprachen nur wenige Stunden.

Auch Kundinnen und Kunden aus dem internationalen und Wirtschafts- Umfeld benötigen zunehmend massgeschneiderte Lösungen. «Dabei ist Kontext Mensch mit ihrem Pool von Fachleuten eine starke Partnerin», sagt Ramona Bischoff. Unter anderem in einem UN-Mandat, wo Kontextologinnen und Kontextologen in der betrieblichen Sozialarbeit agieren. «Dort werden Fragestellungen aus verschiedensten Lebens- und Berufsbereichen kompetent und ad hoc begleitet.»

«Wir leben eine Kultur des ‹Ja, und!› und nicht des ‹Ja, aber?›.»

Fragt jemand, wer denn bei Kontext Mensch Chef oder Chefin sei, lautet die Antwort klar: «Das kommt darauf an.» Die Verantwortung hängt mit der Fragestellung zusammen und nicht mit der klassischen Vorstellung der Begrifflichkeit Chef oder Chefin.

Das jedoch bedeute keineswegs, dass niemand Verantwortung übernehme, stellt Bischoff klar: «Alle sind mitverantwortlich gemäss ihren Rollen: Alle in ihrem Gebiet, mit ihrem Fachwissen und ihren Stärken.» Bischoff und Steiger sind sich aber sehr bewusst, dass noch grosses Entwicklungspotenzial vorhanden ist. «Kontextologinnen müssen Fehler machen dürfen, egal in welchen Rollen sie aktiv sind», betont Steiger. Wichtig dabei sei, die richtigen Schlüsse für zukünftige Lernchancen zu ziehen. «Wir leben eine Kultur des ‹Ja, und!› und nicht des ‹Ja, aber?› ».

Absprache innert zwei Stunden

Mitten im Gespräch klingelt das Telefon: Die Anfrage eines Amts für Erwachsenen- und Kindesschutz, eine Familie benötigt Unterstützung. Innert zwei Stunden werden sich die Buddys abgesprochen haben und wissen, welche zwei, drei Kontextologinnen und Kontextologen sich am besten eignen und noch Kapazitäten haben. Anschliessend fragt der verantwortliche Buddy die gemeinsam bestimmten Fachpersonen der Reihe nach an. Sobald eine von ihnen den Fall annimmt, übergibt er dieser Person alle Vorinformationen sowie die gesamte Fallführung, diese verhandelt von da an direkt mit der Auftraggeberin.

Die Rolle «Admin» übernimmt das Erstellen von Offerte und die Abrechnungen, der oder die Buddy steht regelmässig als Coach und Supervisor zur Seite, ansonsten bearbeitet die jeweilige Kontextologin oder der Kontextologe den Fall mit den eigenen Methoden. Vieles funktioniert fliessend, mit klaren Absprachen und mit kurzen Wegen.

«Wir arbeiten produktiv, kreativ, qualitativ», erklärt Ramona Bischoff. «Partizipativ und doch wirkungsvoll», ergänzt Samuel Steiger. «Offen und lebendig sein», sagen sie, und «immer handlungsfähig und verantwortungsvoll.» Und vor allem: «Menschlich.»


Foto: Claudia Weiss

www.kontextmensch.ch



Fotostory:
Kontext Mensch im Bild

Text und Fotos: Jenny Nerlich

Bei der Anbieterin für ambulante Unterstützung «Kontext Mensch» arbeiten alle selbstbestimmt und doch gemeinsam für die gesamte Organisation. Die Angebote sind so breit und facettenreichen wie die Fachpersonen, die sie bei Kontext Mensch anbieten. Jede und jeder arbeitet eigenverantwortlich und mit grossem Gestaltungsspielraum.

4 Porträts

Wir haben 5 Fachpersonen aus einzelnen zentralen Bereichen von Kontext Mensch bei ihrer Arbeit begleitet:

  1. Jobcoach Michael Liechti
  2. Maltherapeut David Capdevila
  3. Therapeuten für Sexualberatung und systemische Beratung Michael Walser und Michael Lehmann
  4. Konzeptentwicklerin Martina Valentin

1. Arbeitsintegration mit Michael Liechti

Michael Liechti bietet den Fachbereich «Berufliche Integration» bei Kontext Mensch an. Dazu gehört nicht nur das Job Coaching, sondern auch die Begleitung und Beratung von Migrant:innen während der Stellensuche und Bewerbung sowie während des Stellenantritts und der Arbeit.


2. Das Kreativcoaching von David Capdevila

Im KreativRaum vom Maltherapeuten David Capdevila können sich Kinder und Jugendliche gestalterisch so ausdrücken wie sie wollen. Ohne Wertung, aber mit Gespräch. Denn das ist ein wichtiger Teil der Therapie.


3. Sexualberatung und systemische Beratung von Michael Walser und Michael Lehmann

Michael Walser und Michael Lehmann begleiten und beraten Klienten bei ihren Anliegen rund um Sexualität, Beziehungen oder (Gender-)Identität. Ihr therapeutisches Angebot richtet sich vor allem an Männer in Lebensübergängen und belasteten Lebenssituationen.


4. Die Entwicklung von Social Dynamics und New Work durch Martina Valentin

Für den Bereich «Social Dynamics / New Work» entwickelt Martina Valentin die konzeptionellen und strategischen Ideen. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie die Betriebliche Sozialarbeit sozial nachhaltiger werden kann. Ein Ansatz dabei ist eine neue Form des Arbeitens: New Work.