ESSEN | Die Mahlzeit schmeckt

07.02.2024 Monika Bachmann

«Das Auge isst mit», heisst es so schön. Bei Menschen mit Schluckbeschwerden löst der Anblick von pürierter Kost aber häufig keine Freude aus. Im Begegnungszentrum St. Ulrich in Luthern BE hat man ein Projekt lanciert, um die pürierte Kost optisch aufzuwerten. Diese Innovation wirkt auf die Betroffenen appetitanregend und kommt auch bei der Belegschaft an. 

Luthern liegt am Fuss des Napfs. Umgeben von Wäldern und eingebettet in eine sanfte Hügellandschaft, ­scheinen sich Fuchs und Hase hier gute Nacht zu sagen. Die Gegend könnte idyllischer nicht sein. Ganz hinten im Tal führt eine Strasse ins Innermoos hinauf, einer sonnigen Anhöhe mit Blick auf den Hausberg. Dort befindet sich das Begegnungszentrum St. Ulrich. Nur die abgelegene Lage deutet heute noch darauf hin, dass an dieser Stelle im 19. Jahrhundert eine Armenanstalt mit Waisenhaus stand. Später diente das Gebäude als Bürgerheim, daraufhin als Altersheim. Seit 2009 wird es als Generationenhaus geführt – junge und alte Menschen teilen ihren Alltag. Sie werden betreut, gepflegt, beschäftigt oder arbeiten aktiv im Betrieb mit, zum Beispiel im Garten, in der Haus- und Landwirtschaft oder der Gastronomie. 

Die Dinge besser machen

Die Küche spielt im Begegnungszentrum eine wichtige ­Rolle. Die naturnahe Lage widerspiegelt sich auch im ­Verpflegungskonzept. Man setzt auf lokale und regionale Produkte, ein Teil davon stammt aus dem betriebseigenen Bauernhof, der Milch, Fleisch und Eier liefert. Auch ein Gewächshaus und ein Garten gehören zum Betrieb.

Der Menüplan richtet sich nach den Bewohnerinnen und ­Bewohnern, die unterschiedliche Bedürfnisse haben – ein anspruchsvolles Unterfangen, wie Küchenchef Iwan Kurmann zu bedenken gibt: «Man muss sich selbst immer wieder hinterfragen und überlegen, ob es Dinge gibt, die man besser machen könnte.» Beim Thema pürierte Kost sah er Handlungsbedarf: «Püriertes Essen sieht optisch häufig nicht ansprechend aus, in der Küche wird die Zubereitung dieser Mahlzeiten vernachlässigt», so seine Erfahrung. Obwohl im Begegnungszentrum von den insgesamt 62 Bewohnerinnen und Bewohnern nur vier auf Püriertes angewiesen sind, war es dem Küchenchef ein Anliegen, ihre Mahlzeiten zu optimieren. 

Ein Rezeptbuch für pürierte Kost

So absolviert er 2023 die Artiset-Weiterbildung «Koch in sozialen Institutionen» und lanciert im Rahmen dieses ­Lehrgangs ein Projekt, das auf Menschen mit Schluck­be­schwerden ausgerichtet ist. Das Ziel ist klar: Die pürier­ten ­Mahlzeiten sollen zukünftig an den allgemeinen Menüplan angeglichen und ansprechend angerichtet werden. Um ­dieses Vorhaben umzusetzen und in der Institution zu ver­ankern, nimmt er auch die Belegschaft ins Visier: «Ein solches Projekt kann nur gelingen, wenn die Mitarbeitenden sensibilisiert und geschult sind», so die Erkenntnis von Iwan Kurmann. Deshalb wird im Begegnungszentrum ein interdisziplinäres Projektteam eingesetzt, das der Idee zum Durchbruch verhilft. 

Das Ergebnis lässt sich sehen: Wenn heute beispiels­weise Pouletbrust, Pommes frites, Erbsli und Rüebli zum Mittag­essen serviert werden, sind die herkömmliche und die ­pürierte Variante optisch kaum voneinander zu unter­scheiden. Alle Personen, also auch jene mit Schluckbeschwerden, essen das gleiche Menü. Um dies zu ermöglichen, hat Iwan Kurmann eine ganze Reihe von neuen, verbesserten Rezepturen für pürierte Kost entwickelt und in einem digitalen Ordner zusammengefasst, auf dessen Grundlage die Produktion nun leichterfällt. Die Investi­tion hat sich gelohnt. Bei den Betroffenen kommt der schön angerichtete Teller gut an: «Wir stellen fest, dass Personen mit Schluckbeschwerden seither mehr essen», freut sich der Küchenchef. 

Alle Personen, also auch jene mit Schluckbeschwerden, essen das gleich Menü. Um dies zu ­ermöglichen, hat Küchenchef Iwan Kurmann eine ganze Reihe von neuen, verbesserten Rezepturen für pürierte Kost entwickelt.

Gewinn ohne Mehraufwand

Die neue Praxis wird im Begegnungszentrum St. Urban seit Frühsommer 2023 angewandt. Der Mehraufwand hält sich in Grenzen, wie Iwan Kurmann ausführt: «Wir reservieren alle zwei Monate einen Arbeitstag für die Vorproduktion von pürierten Gerichten.» Das heisst: Lebensmittel kochen und pürieren, mit Verdickungsmitteln abbinden sowie mit Proteinen und Nährstoffen anreichern, in Formen abfüllen und einfrieren. Dank dieser Planung und den vorhandenen digitalen Rezepturen benötigt das Küchenteam keine zusätzlichen Ressourcen. Während der Projektphase hingegen war ein grosser Effort erforderlich: Die neuen Rezepturen mussten zuerst getestet werden, bevor sie auf den Menüplan ­kamen. «Wir haben im Haus einen Degustationsanlass durchgeführt, der auf breites Interesse gestossen ist», erzählt der Küchenchef. Alle geladenen Gäste seien gekommen, alle Abteilungen seien vertreten gewesen. «Die vielen positiven Feedbacks haben uns gezeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind», folgert er.

In einem weiteren Schritt galt es, die Mitarbeitenden für das Thema Schluckbeschwerden zu ­sensibilisieren. Anstoss dazu gab eine interne, interdisziplinäre Schulung unter der Leitung einer externen Logopädin. Danach folgte ein Perspektivenwechsel: Mitarbeitende der Küche absolvierten während einer Mahlzeit einen Arbeitseinsatz bei der Pflege und beschäftigen sich mit den Themen Essen und Schluckbeschwerden. 

Mitgestalten und mitreden

Der Einbezug aller Beteiligter war dem Projektteam wichtig. Deshalb wurde nach der Einführung des neuen Konzeptes im Haus eine Umfrage lanciert, die zwei Wochen lang ­dauerte. Die Mitarbeitenden der Pflege und Betreuung leisteten dabei wertvolle Unterstützung. Sie holten die Meinungen der Bewohnerinnen und Bewohner ab und degustierten die Menüs auch selbst. Die ausgefüllten Fragebogen ­brachte man umgehend zurück in die Küche. «Somit sahen wir ­zeitnah, ob die Gerichte gelungen oder Verbesserungen angezeigt waren», erklärt Iwan Kurmann.

Die Umfrage ist längst abgeschlossen, doch Partizipation wird im Begegnungszentrum weiterhin grossgeschrieben. So gibt es beispielsweise eine Kochgruppe, die einmal im Monat mit Unter­stützung des Aktivierungsteams ein Mittagessen zubereitet. Die Bewohnerinnen und Bewohner bringen ihre Wünsche ein und ­helfen beim Gestalten der Menüplanung. Eine wesen­tliche Neuerung gibt es seit 2024: Viermal im Jahr trifft man sich im Generationenhaus bei Kaffee und Kuchen zu einer ­Versammlung, um Anregungen und Feedbacks für die Küche entgegenzunehmen. Ein Trend zeichnet sich dabei ab: Die traditionelle Küche mit lokaler Verankerung ist im luzernischen Hinterland hoch im Kurs. Doch einige haben auch Lust auf Modernes und Exotisches. Tofu, Quinoa und ­Thai-Curry stehen jetzt auch auf dem Menüplan.

 

Fotos: Marco Zanoni 
 


Generationenhaus

Wo heute das Begegnungszentrum St. Ulrich steht, befand sich ab 1863 eine Armenanstalt, ab 1962 ein Bürgerheim und ab 1991 ein ­Alters- und Pflegeheim. Seit 2009 nennt sich die Institution Generationenhaus. Sie bietet Wohn-, Beschäftigungs- und Arbeitsplätze für Alt und Jung. Es leben 62 Menschen im Alter zwischen 20 und 95 Jahren an diesem Ort, das Durchschnittsalter liegt bei 70 Jahren. Mit dieser Generationenvielfalt soll laut den Verantwortlichen das «Gefühl einer Grossfamilie» entstehen. Bei den Bewohnerinnen und Bewohnern handelt es sich einerseits um Menschen, die eine Praktische Ausbildung (PrA) Schweiz abgeschlossen haben und im Betrieb mitarbeiten, oder um Personen mit einer psychischen Erkrankung, andererseits um ältere Menschen, die auf Betreuung und Pflege angewiesen sind. Das Begegnungszentrum besteht aus einem Haupthaus mit 46 Plätzen für Einzelpersonen oder Paare sowie umliegenden Aussenstationen mit weiteren 16 Plätzen, die aus Studios bestehen oder als WG geführt werden. Trägerschaft ist die Gemeinde Luthern.