ESSEN | «Einen physischen und seelischen Mehrwert schaffen»

07.02.2024 Elisabeth Seifert

Die Heimgastronomie folgt einer anderen Logik als die klassische Gastronomie. Davon ist Christoph Roos ­überzeugt; er ist Bildungsbeauftragter Gastronomie von ARTISET Bildung*. Das Wirkungsfeld der Küchen­verantwortlichen in einer Institution ist nicht nur die ­Küche, sondern geht weit darüber hinaus. Gefragt ist ein enger Austausch mit Bewohnenden und den ­verschiedenen Berufsgruppen.

Herr Roos, gutes, gesundes Essen ist für uns alle von grosser Bedeutung, auch für die Menschen in den vielen sozialen Institutionen im Land. Wie gut gelingt es den Institutionen, diesem Anspruch zu genügen?

In der Heimgastronomie arbeiten viele, die zuvor in der klassischen Gastronomie tätig waren. Sie beherrschen in aller Regel ihr Handwerk. Sie verwenden gute Produkte, erstellen einen abwechslungsreichen Menüplan, kaufen regional ein. Um in der Heimgastronomie einen guten Job zu machen, genügt es aber nicht, «nur» gut kochen zu können.
 

Wie meinen Sie das?

Ein guter Koch oder eine gute Köchin in einem Pflegeheim oder einer sozialen Institution darf sich nicht nur über sein oder ihr fachliches Können in der Küche definieren. ­Die Heimgastronomie fordert vielmehr die Person als Ganzes. Das ist vielen noch nicht so bewusst. Das Küchenpersonal darf sein Wirkungsfeld nicht nur auf die Küche ­beschränken, sondern muss die Küche auch verlassen. Ganz besonders die ­Küchenverantwortlichen sind gefordert, sich zum Beispiel mit Bewohnenden in der Cafeteria an einen Tisch zu setzen, um mit Ihnen über das Essen zu diskutieren, ihre Vorlieben kennenzulernen, ihre Essbiografien zu verstehen.


Man darf also nicht davon aus­gehen, dass man sowieso weiss, was die Bewohnerinnen und ­Bewohner gerne essen und was ihnen guttut?

Qualität in der Heimgastronomie ist stark von einer bewohnerzentrierten Haltung der Küche abhängig. Die ­Bedürfnisse der Bewohnenden von ­sozialen Institutionen sind nicht einfach identisch mit jenen der Gäste in der klassischen Gastronomie. Sie haben sehr spezifische und zum Teil auch sehr komplexe Bedürfnisse, die sich zudem auch immer wieder ändern. Jeder Tag bringt eine neue Situation, und die Küche ­sollte sich darauf einlassen. Dazu gehört etwa, sich immer wieder ein Bild davon zu machen, wie es den Bewohnenden auf den einzelnen Stationen geht. 
 

… das aber gelingt nur, wenn die Küchenverantwortlichen in einem engen Austausch mit den Stationen respektive den entsprechenden Mitarbeitenden stehen?

Die Verantwortlichen in der Küche brauchen ein Gespür für lebendige Prozesse. Die Produktion innerhalb von sozialen Institutionen ist eingebettet in verschiedene weitere Prozesse, die gerade in grossen Institutionen sehr umfangreich sein können. Hohe logisti­sche Anforderungen stellt etwa das Schicken der Mahlzeiten auf die Stationen. Besonders anspruchsvoll wird es dadurch, dass sich die Situation auf den Stationen jeden Tag verändert, aufseiten der Bewohnenden und auch aufseiten der Mitarbeitenden. Nur aufgrund einer guten Kommunikation mit allen involvierten Berufsgruppen und einer angemessenen Infrastruktur gelingt es, die Mahlzeiten zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Art und Weise auf die einzelnen Stationen zu schicken. 

«Spitzengastronomie im Heim ist ­Ernährungswissen vor dem Hintergrund einer bewohnerzentrierten
Haltung ­sowie ein interdisziplinäres Lösungs­verständnis.» Christoph Roos

Was dieses Bewusstsein für leben­dige Prozesse betrifft, da sehen Sie in den Institutionen noch Handlungsbedarf?

Die Verantwortlichen müssen verstehen, dass die Verpflegungsqualität für die Bewohnenden über die reine ­Produktion hinaus von einer Reihe weiterer Faktoren abhängt, die die ­Küche berücksichtigen muss. Die ­Heranführung an ein systemisches Denken spielt deshalb im Lehrgang von Artiset Weiterbildung zum Koch oder zur Köchin in sozialen Institu­tionen eine wichtige Rolle. Es gilt sich bewusst zu machen, dass alles, was in der Küche geschieht, in einer Wechselwirkung mit etwas anderem steht. Wir müssen wegkommen von einem reinen Input-Output-­Denken und offen sein für verschiedene Szenarien, die mit ­einer gewissen Wahrscheinlichkeit ­eintreten werden.


Sie betonen die Notwendigkeit, ­in steter Kommunikation mit allen involvierten Berufsgruppen auf die täglich sich ändernden Bedürf­nisse zu reagieren. Wo sehen Sie weitere wichtige Erfolgsfaktoren?

Ganz zentral ist eine Angebotsplanung, die sich an den spezifischen Bedürfnissen der Bewohnenden orientiert. Zum einen ist hier die Versorgung mit den richtigen Nährstoffen zu erwähnen. Bei Menschen im Alter und ganz besonders bei Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen gibt es hier immer wieder andere Anforderungen. Zum anderen muss auch die Angebotsauswahl stimmen, hinzu kommen auf die Bedürfnisse ausgerichtete Essenszeiten und die Art und Weise, wie das Essen serviert wird. Um eine solche auf die individuellen Bedürfnisse ausgerichtete Angebotsplanung machen zu können, braucht es zudem eine professionalisierte und rationelle Produktion der Mahlzeiten. Die Technologie in diesem Bereich schreitet rasant voran.


All diese Anforderungen zu ­erfüllen, stelle ich mir sehr anspruchsvoll vor …

Wenn man den Beruf als Koch oder Köchin einer sozialen Institution ernst nimmt, dann hat das viel mit Spitzengastronomie zu tun. Im Unterschied zur klassischen Gastronomie zeichnet sich die Spitzengastronomie in einer Institution aber nicht durch ein von Konkurrenz geprägtes Leistungs­denken und hierarchische Strukturen aus. Für die Spitzengastronomie im Heim braucht es vielmehr Herz, Kopf und Lebensfreude.
 

Spitzengastronomie in einer ­­sozialen Institution: Können Sie das noch etwas konkretisieren?

In der Heimgastronomie geht es nicht um exzentrische Konzepte, möglichst teure Produkte oder ausgeklügelte ­Sensorikerlebnisse. Spitzengastronomie im Heim ist Ernährungswissen vor dem Hintergrund einer bewohner­zentrierten Haltung sowie ein inter­disziplinäres Lösungsverständnis. Der ­Kochberuf in einer sozialen Institu­tion fordert überdurchschnittlich viel ­Herzenskompetenzen. Damit die Qualität für die Bewohnenden stimmt, braucht es Tag für Tag ein Suchen und Finden, viel Austausch und Gespür. Good-Gastronomie-Practice in einer sozialen Institution setzt also ein ­hohes Mass an fachlichen und menschlichen Fähigkeiten voraus. Ein um­fassenderes und sinnstiftenderes Entwicklungsfeld für Köchinnen und Köche gibt es nicht.


Eine so verstandene Küche trägt dann auch entsprechend viel zur Gesundheit und Wohlbefinden der Bewohnenden bei?

Wenn Köchinnen und Köche ihre ­Arbeit richtigmachen, haben sie einen grossen Einfluss auf die Lebensqualität der Bewohnenden. Oder umgekehrt formuliert: Wenn ich das Essen so gestalten kann, dass es einen physischen und seelischen Mehrwert hat, dann habe ich das Kochen auf die Spitze getrieben. Und um das zu erreichen, braucht es nicht einmal viel Geld. ­Gefragt sind, wie gesagt, eine gute Fachlichkeit und dann vor allem viel Offenheit, Flexibilität und Empathie.


Wie beurteilen Sie die Ausbildung der Köchinnen und Köche, die in der Heimgastronomie arbeiten?

Die Grundausbildung Koch / Köchin EFZ oder die Berufsprüfung zum Chefkoch fokussieren auf die klassischen Gastronomiebedürfnisse. Das Bewusstsein für die Anforderungen des Kochberufs in sozialen Institutionen, so wie ich sie beschrieben habe, ist in den Berufsverbänden marginal vorhanden. Häufig ist dort fachliches Wett­bewerbs- und Leistungsdenken in unter­schiedlicher Intensität das Mass der Dinge. Dies ist auch der Grund, warum Fachkräfte das Branchenzertifikat Koch / Köchin in sozialen Institutionen von Artiset absolvieren. Diese Fachvertiefung macht die Berufsleute fit, damit sie ihre anspruchsvolle und vielschichtige Rolle aktiv gestalten können.
 

Gibt es nicht auch unterschied­liche Anforderungen an die ­Küche, je nachdem, ob eine soziale ­Institution Menschen im Alter, Menschen mit Behinderung oder Kinder und Jugendliche begleitet?

In den Pflegeheimen kann man als Koch oder Köchin direkter wirken, weil in der Regel alle Mahlzeiten aus der Küche heraus gesteuert werden. In Institutionen für Menschen mit Behinderung und auch für Kinder und ­Jugendliche produziert die Küche oft nur einen Teil der Verpflegung. Neben der Küche spielen bei der Zubereitung des Essens auch Betreuungspersonen der Pflege oder Sozialpädagogik auf den Wohngruppen eine zentrale Rolle.
 

Und anders als im Pflegeheim ­essen die begleiteten Menschen oft auch nicht nur in der Institution?

Sie verbringen den Tag oft in einer Tages­struktur oder einer Schule. In der Institution gibt es dann nur das Frühstück, und am Abend kochen in den Wohngruppen die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen oft selbst mit den Bewohnenden. Wenn es um die Quali­tät der Ernährung in Institutionen für Menschen mit Behinderung und für Kinder und Jugendliche geht, spielt deshalb ganz besonders das Empowerment des Umfelds, also die Befähigung der Betreuungs- und Fachpersonen, eine zentrale Rolle.
 

Sind vor allem in den Pflegeheimküchen die absoluten Kochprofis gefordert, um auf die verschie­den­s­­­ten gesundheitlichen Probleme eine gute Antwort zu finden?

Ein zielgruppengerechtes Ernährungswissen ist in Institutionen aller Unterstützungsbereiche von Bedeutung, ganz besonders in grossen Einrichtungen mit entsprechend vielen unterschiedlichen Bedürfnissen. Im Alters­bereich ist die Situation dabei sogar noch recht übersichtlich: Hier muss die Küche die verschiedenen Konsistenzstufen bis hin zur pürierten Kost beherrschen und mit Diabetes, Mangelernährung, salzarmer Kost sowie der Lactose- und Glutenunverträg­lichkeit umgehen können. In Institu­tionen für Menschen mit schweren mehrfachen Behinderungen muss die Küche auf zum Teil sehr spezifische und hochkomplexe Ernährungsbedürfnisse eingehen können.


Sie haben betreffend ­Behinderten- sowie Kinder- und Jugend­institutionen das Empowerment des Umfelds genannt. Was ­meinen Sie damit genau?

Für die Betreuungspersonen in einer sozialen Institution ist das Thema Ernährung weniger zentral, ja manchmal auch mit Frust verbunden. Dies deshalb, weil sie zum einen darauf achten sollen, dass sich die Bewohnenden gesund ­ernähren, und zum anderen ihnen aber auch die Freiheit lassen wollen, selbst bestimmen zu können, was sie essen möchten. Als Sozialpädagoge oder ­Sozialpädagogin steht man da in einem Spannungsfeld. Hinzu kommt, dass sie selber vielleicht auch nicht gut kochen können, dabei aber immer wieder Kochaufgaben übernehmen müssen.


Und diese Herausforderungen lassen sich mit der Befähigung des Umfelds lösen … 

Ja, und zwar geht es darum, sowohl die Fachpersonen also auch die Bewohnenden für eine gesunde Ernährung zu sensi­bilisieren. Dies gelingt, wenn Betreuungspersonen das Thema Essen und Ernährung in einem spielerischen und lustvollen Sinn in die Alltags­aktivitäten einbauen. Das können Blinddegustationen mit Früchten sein oder die gemeinsam Menüplanung, wo durchaus auch Junkfood-Tage Platz haben können. Ganz wichtig ist auch die Vorbildwirkung. Wer zur Pause ein Red Bull trinkt, kann den Klientinnen und ­Klienten nicht gleichzeitig Äpfel verteilen.


Wo sehen Sie die besonderen Anforderungen an Institutionen im Kinder- und Jugendbereich?

Bei Kindern haben wir unter anderem die Aufgabe, das Geschmacksempfinden zu prägen. Essen soll eine Forschungsreise sein, beim Geschmack, bei der Konsistenz und beim Aussehen. Es geht darum, das Interesse über ein vielfältiges, ausgewogenes und dem jeweiligen Alter der Kinder entsprechendes Angebot zu wecken. Ganz wichtig: Die Menüs und Gerichte werden vorge­geben, was probiert wird, entscheiden die Kinder selbst. Sie sollen aber auch Chicken Nuggets und Pommes frites essen können. Ganz wichtig ist weiter die Gestaltung des Essens: Eine ruhige und achtsame Atmosphäre kann ­gerade bei Kindern und Jugendlichen viel zur Stabilisierung in schwierigen ­Lebenssituationen beitragen. Auch in diesem Kontext ist die Vorbildfunktion der Betreuungspersonen zentral, da Kinder viel über Nachahmung lernen. 
 

Wie ist es möglich in Zeiten des Fach- und Arbeitskräftemangels, der Pflegeheime und soziale ­Institutionen generell stark fordert, all den Ansprüchen gerecht zu werden?

Für eine gute Verpflegung zu sorgen, das liegt letztlich in der Verantwortung der Institutionsleitung. Sie muss alle am Verpflegungsprozess Beteiligten an einen Tisch bringen, auch die Verantwortlichen in der Küche, und den Austausch unter all den verschiedenen Berufsgruppen fördern. Und zwar unabhängig von einer bestimmten Personal­situation. Nur wenn die Küche, die Pflege und auch die Hauswirtschaft eingebunden sind, lässt sich eine hohe Lebensqualität für die Bewohnerinnen und Bewohner erzielen. 

 


In sozialen Institutionen

Der Lehrgang von Artiset Bildung ist eine Fachvertiefung für Verpflegungsspezialisten aus sozialen Institutionen. Er sensibilisiert für ein differenziertes Verständnis der Bedürfnisse von Bewohnenden. Kenntnisse über deren Lebenssituationen sind von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, mit Essen und Trinken einen Ausgleich zum oft beschwerlichen Alltag zu schaffen. Die Schwerpunkte des Branchenzertifikats Koch / Köchin in sozialen Institutionen erweitern das klassische Berufsbild. Vertieft werden Kompetenzen in Ernährungsfragen sowie Themen aus sozialer und kommunikativer Perspektive. Ferner spielen die ökonomischen Parameter im Rahmen der vernetzten Betriebsor­gani­sation eine bedeutende Rolle. Der Lehrgang richtet sich an ausge­bildete Köchinnen und Köche. Er dauert 21 Tage und wird wiederum vom August 2024 bis Juli 2025 durchgeführt. 

 


Unser Gesprächspartner

Christoph Roos ist Bildungsbeauftragter Gastronomie / Selbst- und Sozialkompetenz bei Artiset Bildung.

 

 

Foto: Privat