«Es ist noch völlig unklar, wie wir den Bedarf stemmen»

21.09.2022 Elisabeth Seifert

Eine Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums legt den Bedarf an Langzeitpflege bis ins Jahr 2040 offen. ARTISET-Geschäftsführer Daniel Höchli und Markus Leser, Geschäftsführer des Branchenverbands CURAVIVA, erachten Zusatzfinanzierungen für dringend nötig. Zudem gelte es den Aufbau intermediärer Strukturen voranzutreiben.

Die Zahl der Personen ab 80 Jahren steigt zwischen 2020 und 2040 um 83 Prozent an, wie der Obsan-Bericht zeigt. Entspricht dies Ihren Erwartungen?

Markus Leser: Bereits seit Mitte der 70er-Jahre wissen wir, dass es aus demografischen Gründen zu einem Anstieg der älteren Bevölkerung kommt. Die Zahlen sind also nicht überraschend. Die Generation der Babyboomer ist ein wichtiger Grund dafür. Ein weiterer wichtiger Grund ist die steigende Lebenserwartung.



Das ist eine gute Entwicklung und nicht, wie es immer wieder dargestellt wird, ein besorgniserregendes Szenario.

Daniel Höchli: Demografische Prognosen sind sehr verlässlich und deshalb wenig erstaunlich. Spannend ist indes, welchen Bedarf in der Langzeitpflege der Obsan- Bericht aufgrund dieser demografischen Entwicklung offenlegt.
 

Bei einer unveränderten Versorgungspolitik errechnet der Bericht bis 2040 einen Bedarf von 921 zusätzlichen Pflegeheimen. Selbst bei einer Verlagerung in den ambulanten und intermediären Bereich geht der Bericht immer noch von 683 neuen Heimen aus. Was sagen Sie dazu?

Leser: Der Bedarf wächst in allen Bereichen der Langzeitpflege und auch der Langzeitbetreuung. Neben der demografischen Entwicklung sind dafür spezielle Pflegebedürfnisse verantwortlich: Die Gerontopsychiatrie ist stark gefordert, psychische Störungen nehmen zu, auch Suchtprobleme und natürlich Demenz. Auch der Bedarf im Bereich Palliative Care steigt. Hinzu kommen spezifische Bedürfnisse von alten Menschen mit Migrationshintergrund oder auch von alten Menschen mit Behinderung. In all diesen Bereichen ist der Aufwand pro Person hoch, sowohl bei der Pflege als auch bei der Betreuung.

Höchli: Bei einer unveränderten Versorgungspolitik ist der Bedarf an zusätzlichen Langzeitbetten in Pflegeheimen vor allem in der Deutschschweiz sehr hoch. In der Westschweiz, wo schon heute betagte Menschen mit tiefen Pflegestufen ambulant begleitet werden, wächst die Spitex stark. Am meisten überrascht mich beim Bericht die prognostizierte Entwicklung bei den betreuten Wohnformen. Der Bericht geht davon aus, dass die Nachfrage in den kommenden Jahren wahrscheinlich höher ist als heute. Ich bin überzeugt, dass das Betreute Wohnen bedeutend mehr an Bedeutung gewinnen wird, als dies im Bericht zum Ausdruck kommt.
 

Ihrer Meinung nach unterschätzt der Obsan-Bericht die künftige Nachfrage nach betreuten Wohnformen?

Höchli: Der Bericht zeigt ja auf, welche Folgen unterschiedliche politische Szenarien für die Langzeitpflege haben. Überraschend ist für mich, dass die künftig zu erwartende Entwicklung beim Betreuten Wohnen nicht sehr differenziert ausgearbeitet worden ist.
 

Sie gehen also nicht davon aus, dass künftig selbst bei einer Verlagerung in den ambulanten und intermediären Bereich noch 683 zusätzliche Heime nötig sind?

Leser: Diese Zahlen stelle ich in Frage. Wenn wir die integrierte Versorgung, zu der wesentlich auch intermediäre Strukturen wie das Betreute Wohnen gehören, endlich umsetzen, braucht es nicht so viele neue Heime. Wir müssen uns von einem Denken verabschieden, das die Langzeitpflege in Sektoren einteilt, die nebeneinander und nicht miteinander funktionieren. Wir müssen uns auch von der Grundhaltung verabschieden, das Alter als Krankheit zu betrachten. Die Langzeitpflege fusst heute immer noch viel zu stark im Verständnis des Krankenversicherungsgesetzes. Das Alter ist aber keine Krankheit, sondern ein Lebensabschnitt.
 

Mit dieser Aussage sprechen Sie die Vision «Wohnen im Alter» des Branchenverbands CURAVIVA an?

Leser: Mit der Vision «Wohnen im Alter» bringen wir zum Ausdruck, dass die betagten Menschen in erster Linie ein für sie gutes Wohnumfeld möchten. Zusätzlich benötigen sie entsprechend ihren individuellen Bedürfnissen Pflege, Betreuung und weitere Dienstleistungen. All dies erfordert den Aufbau vielfältiger, miteinander vernetzter und durchlässiger Angebote. Pflegeheime sind ein Teil davon, zum Beispiel spezialisierte Heime für Demenz. Von zentraler Bedeutung sind allerdings auch das Betreute Wohnen, die verschiedenen Tages- und Nachtstrukturen und natürlich die Spitex.

Weshalb sind Sie so überzeugt davon, dass das Betreute Wohnen stark an Bedeutung gewinnen wird?

Höchli: Die Vision «Wohnen in Alter» von CURAVIVA orientiert sich an der Nachfrage. Die Menschen wollen so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden bleiben. Und das Betreute Wohnen hat hier oft einen Vorteil gegenüber dem angestammten Wohnen. So haben die Betagten einen raschen, unkomplizierten Zugang zu allen Dienstleistungen, auch zur Pflege. Zudem gibt es Kostenvorteile: Im Betreuten Wohnen fallen tiefere fixe Infrastrukturkosten an als in einem Heim. Und gegenüber der regulären Spitex sind beim Betreuten Wohnen die Personalkosten tiefer. So sind die Wegkosten kleiner, und zudem können häufiger Pflegeteams mit unterschiedlich qualifiziertem Personal aufgeboten werden.

Leser: Das möchte ich unterstützen. Entscheidend ist, dass die Politik aufgrund solcher Vorteile die Weichen richtig stellt. Dazu gehören unter anderem entsprechend angepasste Ergänzungsleistungen, damit auch weniger begüterte Menschen sich das Betreute Wohnen leisten können. Der Bundesrat wird ja demnächst einen Gesetzesentwurf vorlegen.

Höchli: Im Unterschied zu einer Pflegeheimstruktur lassen sich Überbauungen mit betreuten Wohnformen bei Bedarf auch wieder anders nutzen. Die Langzeitpflege wird vor allem in den nächsten 20 bis 30 Jahren ein grosses Mengenwachstum erfahren, danach wird die Kurve wieder abflachen. Es macht wenig Sinn, für diese Zeit Hunderte neuer Heime zu bauen.
 

Wie zuversichtlich sind Sie, dass die nötigen Strukturen entsprechend rasch aufgebaut werden können?

Leser: Ich bin sehr skeptisch. Es gibt erste Kantone, welche die integrierte Versorgung in ihren Planungen berücksichtigen. Der Kanton Baselland etwa, auch St. Gallen und das Tessin. Die Romandie ist häufig weiter als die Deutschschweiz, vor allem der Kanton Waadt. Oft fehlt aber noch der politische Wille.

Höchli: Auch ich sehe riesige Herausforderungen. Und zwar unabhängig vom Föderalismus und auch unabhängig davon, für welche Art von Strukturen sich die Verantwortlichen letztlich entscheiden. Wir haben vor allem zwei limitierende Faktoren: die Fachkräfte und die Finanzen. Es ist zurzeit noch völlig unklar, wie wir den Bedarf stemmen.
 

Der Obsan-Bericht geht davon aus, dass der Bereich der Alters- und Langzeitpflege im Jahr 2045 knapp ein Viertel der Gesundheitskosten beanspruchen wird, derzeit sind es rund 15 Prozent. Was ist zu tun?

Höchli: Bereits ein Bericht des Bundesrats von 2016 hat aufgezeigt, dass im Bereich der Langzeitpflege grosse finanzielle Herausforderungen auf uns zukommen.
Die Obsan-Studie enthält jetzt die Basis, um den Finanzierungsbedarf genauer zu schärfen. Aufgrund der Studie fragt der Urner FDP-Ständerat Josef Dittli in einer Interpellation nach, bis wann der Bundesrat den entsprechenden Bericht vorlegt. Wichtig ist zudem, Fehlanreize zu eliminieren, die durch unterschiedliche Finanzierungen im ambulanten und stationären Bereich entstehen, was die Entwicklung eines ganzheitlichen Systems der integrierten Versorgung verhindert. Hier existiert bereits eine entsprechende Vorlage, bei welcher der Ständerat hoffentlich demnächst entscheidet, auch die Finanzierung der Pflegeleistungen einzubeziehen. Das alles genügt aber sicher noch nicht.
 

Wo sehen Sie die zentralen Probleme?

Höchli: Ein grosses Problem besteht darin, dass sich der Bund respektive die Krankenversicherer einerseits und die Kantone andererseits die Verantwortung hin- und herschieben, besonders in den Bereichen Demenz und Palliative Care. Neben der Pflege im engeren Sinn erfordern diese Bereiche auch viel Betreuungsarbeit. Bei der Pflege ist die Finanzierung aufgeteilt auf Krankenversicherer und Kantone, bei der Betreuung hingegen ist diese den Kantonen überlassen. Berechnungen des Bund es aus dem Jahr 2016 zeigen, dass die Kantone die Steuern um 10 Prozent erhöhen müssten, um die künftigen Kosten der Langzeitpflege und -betreuung zu stemmen.
 

Was schlagen Sie vor?

Höchli: Wir müssen auch Zusatzfinanzierungen prüfen. Zum Beispiel mit einer befristeten Erhöhung der Mehrwertsteuer. Ich sage bewusst befristet: Das Wachstum der pflegebedürftigen Menschen wird uns vor allem in den nächsten 20 bis 30 Jahren beschäftigen. Wenn man eine breit abgestützte Einnahmequelle sucht, erachte ich eine solche Erhöhung der Mehrwertsteuer für eine gute Option.

Leser: Bei der Beurteilung der Kosten braucht es aus meiner Sicht auch eine volkswirtschaftliche Betrachtungsweise. Die Generation ab 65 Jahren trägt mittels Steuern viel zum Gemeinwesen bei. Die Kosten, die ja erst im hohen Alter anfallen, muss man diesen Einnahmen gegenüberstellen. Damit relativiert sich die Kostenfrage.
 

Die Verteilkämpfe um öffentliche Gelder werden sich in den nächsten Jahren akzentuieren. Zudem hat die Langzeitpflege gegenüber der Akutmedizin einen schweren Stand. Was ist zu tun?

Höchli: Die Akutmedizin hat es einfacher. Sie nützt der ganzen Bevölkerung, vom Säugling bis zum alten Menschen. Zahlreiche Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter setzen sich dafür ein, dass diese Anliegen erfüllt werden. Verschiedene Branchen, allen voran die Pharmabranche, können hier zudem viel Geld investieren. Was ich sagen möchte: Eine Überversorgung besteht sicher nicht in der Langzeitpflege, sondern anderswo, und diese sollte man reduzieren.

Leser: Zudem brauchen wir eine gesellschaftliche Wertedebatte. Jeder und jede muss wissen, was passiert, wenn sie im hohen Alter multimorbid werden. Das Problem besteht darin, dass die Politik und die Gesellschaft den multimorbiden Menschen nicht ernst nehmen, weil er für die Gesellschaft nicht mehr produktiv ist und es auch nie mehr sein wird. Wir verdrängen das Alter. Dagegen müssen wir ankämpfen.

Höchli: Es gibt kein Patentrezept. Wir müssen immer wieder sensibilisieren. Die Klimadebatte macht das deutlich. Es braucht enorm viel, um politische Einstellungen und das Verhalten zu ändern. 
 

Nicht zuletzt aus finanziellen Gründen wird auch immer wieder der Einbezug der Zivilgesellschaft gefordert. Was sagen Sie dazu?

Höchli: Es wird sehr teuer, wenn die Begleit- und Betreuungsarbeit fast ausschliesslich durch Fachpersonen geleistet wird. Es braucht hier Angehörige, Nachbarn und Freiwillige. Der Einbezug der Zivilgesellschaft trägt darüber hinaus aber auch zur Lebensqualität bei. Das wird ja auch in CURAVIVA-Modell «Wohnen im Alter» deutlich. Der Einbezug der Zivilgesellschaft stellt die Integration in die Gesellschaft sicher. Und schliesslich kann dadurch auch der Fachkräftemangel etwas entschärft werden. Damit sich aber genügend Freiwillige finden, müssen wir ein Anreizsystem schaffen.

Leser: Ja, das sehe ich auch so. Freiwilligenarbeit ist kein Selbstläufer. Anreize könnten zum Beispiel in Weiterbildungen bestehen. Es braucht auch eine Moderation, um die verschiedenen Teile der Zivilgesellschaft, also Angehörige, Nachbarn und Freiwillige, zusammenzubringen. Darüber hinaus müssen alle Akteure, professionelle und nicht-professionelle, in einem Gesamtsystem zusammengeführt werden. Auch die interprofessionelle Zusammenarbeit, also die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Berufsgruppen, ist von zentraler Bedeutung.
 

Neben der Finanzierung ist der Fachkräftemangel eine grosse Herausforderung…

Leser: Es muss uns als Branche gelingen, das Image der Langzeitpflege zu erbessern. Zudem arbeiten wir derzeit an einem Projekt, wo wir gemeinsam mit jungen Menschen neue Arbeitszeitmodelle entwickeln. Wichtig scheint mir aber auch ganz besonders, dass wir finanzielle Anreize schaffen, zum Beispiel im Rahmen von Weiterbildungen. Grössere Pflegeheime, die über einen bestimmten finanziellen Spielraum verfügen, machen das bereits.

Höchli: Gerade in Zeiten einer guten Konjunktur, wo der Arbeitsmarkt generell ausgetrocknet ist, braucht es finanzielle Anreize, um konkurrenzfähig zu sein. Ohne einen finanziellen Spielraum können die Arbeitgeber die Attraktivität nur minimal erhöhen. Wichtige Faktoren sind aber auch eine gute Arbeitsorganisation oder das Betriebsklima. Dazu gehört etwa auch das Anbieten einer Kita.
 

Was unternehmen die Föderation ARTISET und der Branchenverband CURAVIVA, damit die Langzeitpflege und -betreuung langfristig gesichert ist?

Höchli: ARTISET unterstützt den Branchenverband in allen Anliegen. Zurzeit sind wir stark engagiert beim Thema Fachkräfte, konkret bei der Umsetzung der Pflegeinitiative. Damit werden wir aber längst nicht alle Probleme lösen. Das Problem ist umfassend und betrifft neben der Pflege auch den Sozialbereich. Weiter setzen wir uns für den Einbezug der Pflege in die Vorlage zur einheitlichen Finanzierung des ambulanten und stationären Bereichs ein. Und was die Zusatzfinanzierung zum Beispiel mittels einer Erhöhung der Mehrwertsteuer betrifft: Hier suchen wir mögliche Partner, um dieses Anliegen in der Politik einzubringen.

Leser: Der Branchenverband ist in all die politischen Projekte stark eingebunden. Zudem präzisieren und konkretisieren wir unsere Vision «Wohnen im Alter». Mittels Medien- und Öffentlichkeitsarbeit wollen wir die Gesellschaft dafür sensibilisieren, die integrierte Versorgung im Bereich der Langzeitpflege auch tatsächlich umzusetzen.


 


Unsere Gesprächspartner

Markus Leser ist Mitglied der Geschäftsleitung ARTISET und Geschäftsführer des Branchenverbands CURAVIVA. CURAVIVA setzt sich für die Anliegen der Dienstleister für Menschen im Alter ein.

Daniel Höchli ist Geschäftsführer der Föderation ARTISET mit ihren drei Branchenverbänden CURAVIVA, INSOS und YOUVITA. ARTISET unterstützt alle Branchenverbände der Föderation in zentralen Themen wie zum Beispiel Fachkräfte oder Finanzierung der Dienstleistungen.
 


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Der Obsan-Bericht 03/22: Bedarf an Alters- und Langzeitpflege in der Schweiz. Prognosen bis 2040.
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Foto: Elisabeth Seifert