POLITISCHE PARTIZIPATION | «Das Leben endet nicht an der Tür zum Pflegeheim»

21.09.2022 Anne-Marie Nicole

Die aktive Teilnahme am politischen Leben kann zur Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität von Menschen im Alter beitragen. Zu diesem Schluss kommt eine neue Studie, an der insbesondere Westschweizer Pflegeheime teilgenommen haben. Sie schliesst an andere Studien und Projekte zum Thema Stimmrecht für Betagte in Pflegeheimen an. Diese liegen jedoch bereits rund 15 Jahre zurück.

«Wir haben regelmässig Abstimmungsmaterial im Abfall gefunden. Die einen wollten es nicht, andere legten es mit der Erklärung zur Seite, dass ihre Angehörigen für sie abstimmten», erinnert sich Sabine Udry Dumoulin, Aktivierungsfachfrau Gerontologie in der Résidence Mandement im Herzen des Dorfes Satigny GE. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen stellen fest, dass Betagte nach dem Heimeintritt oft keine Lust mehr haben, sich mit Kandidierenden zu befassen oder Entscheidungen zu treffen. Die Bewohnerinnen und -bewohner selbst zweifeln manchmal an der Legitimität ihrer Stimmabgabe.

«Wozu abstimmen, die Welt dreht sich auch ohne mich weiter.» Diese von Sabine Udry Dumoulin rapportierten Worte bringen ein Gefühl zum Ausdruck, das vielen Heimbewohnenden gemeinsam ist.

Angst vor dem Vorwurf der Beeinflussung

Hinzu kommt die Rechtsunsicherheit, die rund um das Stimmrecht von Betagten im Heim herrscht und oft auch die Pflegeteams in Verlegenheit bringt. Diese machen sich Gedanken über den Sinn, Personen mit kognitiven Störungen das Abstimmungsmaterial auszuhändigen. Aus Angst vor dem Vorwurf der Beeinflussung zögern sie, den Betagten beim Ausfüllen des Stimmzettels zu helfen, oder sie fühlen sich nicht kompetent genug, um die Abstimmungsvorlagen zu erklären.

«Es braucht also unparteiische Personen, welche die Anliegen klar und objektiv erklären können.»

Auch Sabine Udry Dumoulin selbst fühlte sich nicht in der Lage, alle Fragen zum Abstimmungsverfahren oder zu den Abstimmungsthemen zu beantworten. «Zudem ist es sehr schwierig, bei den Erklärungen neutral zu bleiben. Und Neutralität ist aus ethischer Sicht unabdingbar. Es braucht also unparteiische Personen, welche die Anliegen klar und objektiv erklären können.»

Die Aktivierungsfachfrau teilte ihre Besorgnis mit einer befreundeten Politologin der Universität Genf, Barbara Lucas. Auch sie stellte fest, dass Pflegeheime keine Aktivierungsangebote zum Thema Staatsbürgerschaft haben.

Innert kurzer Zeit organisierten die beiden Frauen in der Résidence Mandement ein erstes Gespräch am Runden Tisch. Barbara Lucas stellte ein Team von Politologinnen und Politologen zusammen, die sich in die Heime begaben und dort die wichtigsten Punkte der Abstimmungsvorlagen erklärten. Dieses Vorgehen wiederholten sie mehrmals. Von insgesamt 45 Heimbewohnenden nahmen jedes Mal rund zehn Personen am Austausch teil. Einige davon waren immer dabei, andere kamen neu dazu. Nicht selten schlossen sich auch Mitarbeitende an.

«Die Teilnehmenden der Gesprächsrunden fühlten sich wertgeschätzt und als Bürgerinnen und Bürger mit wertvoller Erfahrung anerkannt.»

So ist schliesslich das Projekt «Voter en EMS» (Abstimmen im Pflegeheim) entstanden. Das war im Jahr 2005. Sabine Udry Dumoulin schätzte vor allem die Fähigkeit der Politologinnen, die Themen allgemein zugänglich zu machen, aber auch ihr offenes Ohr und ihre wohlwollende Haltung. «Die Teilnehmenden der Gesprächsrunden fühlten sich wertgeschätzt und als Bürgerinnen und Bürger mit wertvoller Erfahrung anerkannt», so die Aktivierungsfachfrau.

Es geht darum zu unterstützen, nicht zu überreden

Die eher informelle Vorgehensweise der Résidence Mandement machte Schule und führte im Departement für Politikwissenschaften der Universität Genf zu einem Pilotprojekt unter der Leitung von Barbara Lucas. Eine erste gründliche Bilanz berichtete über die ab 2005 in der Résidence Mandement informell gesammelten Erfahrungen sowie die zwischen 2007 und 2008 in sechs Genfer Pflegeheimen durchgeführten Gespräche am runden Tisch.

«Das Ziel des Projekts ‹Voter en EMS› besteht nicht darin, die eimbewohnenden zum Abstimmen zu bringen. Vielmehr geht es darum, sie im Hinblick auf eine deliberative Demokratie bei der Teilnahme an der Debatte selbst zu unterstützen», erklärten Barbara Lucas und ihre Kollegin Anouk Lloren 2009 in einem Artikel. Dieser trägt den schönen Titel «La vieille dame et le politique» und ist eine Hommage an eine inzwischen verstorbene Heimbewohnerin, die mit fast 90 Jahren zum ersten Mal an einer Abstimmung teilnahm.

Im gleichen Artikel verweisen die Autorinnen auf diverse Studien, die zeigen, dass die Heime für Betagte bei der Erhaltung einer aktiven Teilnahme am politischen Leben eine entscheidende Rolle spielen können. Dazu brauche es jedoch einen geeigneten Rahmen und spezifische Ressourcen.

Sabine Udry Dumoulin sieht dies auch so. Für sie geht es neben der wiederholten Sensibilisierung der Menschen für Abstimmungen und Wahlen aber in erster Linie darum, das Selbstbestimmungsrecht der Betagten sicherzustellen, ihren Einbezug in das Heimleben sowie ihre Kontakte zu den Mitmenschen zu fördern. Vor allem sollen sie immer selbst entscheiden können, zum Beispiel in Bezug auf die Aktivitäten, die Einteilung des Tages, Ausflüge, Mahlzeiten usw.

«Wir nutzen diesen Moment, um mit Menschen zu sprechen, die selten an den Gemeinschaftsaktivitäten des Heims teilnehmen.»

Obwohl das Pilotprojekt «Voter en EMS» nach einigen Jahren anderen Projekten wich, hat es zweifellos das Bewusstsein der Pflegeteams für Fragen zur Selbstbestimmung gestärkt und die Kommunikation mit den Heimbewohnenden verändert. «Wir nutzen jede Gelegenheit, um sie nach ihren Wünschen zu fragen, sei es im Rahmen von individuellen Treffen, Gesprächsgruppen oder Umfragen. Staatsbürgerin zu sein, beginnt damit, die eigene Meinung äussern zu können.»

Heute werden die Stimmcouverts den Heimbewohnenden zusammen mit ihrer Post persönlich überreicht. «Wir nutzen diesen Moment, um mit Menschen zu sprechen, die selten an den Gemeinschaftsaktivitäten des Heims teilnehmen. So weisen wir sie auf kommende Abstimmungen hin und erinnern sie daran, dass sie ihre Stimme abgeben können, dass sie Bürgerinnen mit Rechten, aber auch mit Pflichten sind, dass die Welt sie braucht …», sagt Sabine Udry Dumoulin abschliessend.

Umfrage in sechs Westschweizer Pflegeheimen

Gemeinsam mit anderen Forschenden hat Barbara Lucas ihre Arbeiten rund um das Stimmrecht und allgemein zur aktiven Teilnahme von Heimbewohnenden am politischen Leben weitergeführt.

Das jüngste und von der Fondation Leenaards unterstützte Forschungsprojekt trägt den Titel «La citoyenneté politique comme dimension de la qualité de vie» («Die aktive Teilnahme am politischen Leben als Dimension der Lebensqualität»). Es basiert unter anderem auf einer Umfrage in sechs Westschweizer Pflegeheimen.

Die Studie beruht auf der Hypothese, «dass die aktive Teilnahme am politischen Leben zur Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität von Menschen im Alter beitragen kann und die Lebensqualitätskonzepte Bürgerrechtsfragen mehr Platz einräumen sollten». Den Schlussfolgerungen zufolge bestätigte sich die Hypothese im Laufe des Projekts.

 


Im Interview mit dem Magazin ARTISET ziehen Barbara Lucas, assoziierte Forscherin am Institut für Staatsbürgerschaft der Universität Genf, und Lea Sgier, ein Mitglied des Forschungsteams, Bilanz aus der Forschung und formulieren Empfehlungen. Lea Sgier ist Lehrbeauftragte im Departement für Politikwissenschaft und assoziierte Forscherin am Institut für Staatsbürgerschaft der Universität Genf.

Interview


Barbara Lucas, Ihre ersten Arbeiten zum Stimmrecht in Pflegeheimen begannen vor zirka 15 Jahren. Wie haben sich die Fragen zur politischen Partizipation in Pflegeheimen entwickelt?

Barbara Lucas: Sie sind noch genauso aktuell wie zu Beginn der Gespräche am runden Tisch. Die Artikel und Präsentationen zum Projekt «Voter en EMS» haben sicherlich da und dort das Bewusstsein gestärkt. Einige Heimleitungen haben jedoch erst vor Kurzem begonnen, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Auslöser war ein Treffen im Rahmen unseres Forschungsprojekts.


Wie erklären Sie sich dieses geringe Interesse an der Frage der politischen Rechte von Betagten in Pflegeheimen?

Lea Sgier: Die zwei meistgenannten Gründe sind Zeit- und Geldmangel. Die Prioritäten der Heime liegen hauptsächlich bei Pflege- und Gesundheitsproblematiken. Die Betagten selbst halten sich oft im Hintergrund. Sie sind zunehmend geschwächt, haben kognitive Störungen. Deshalb verstehen sie ihre soziale und staatsbürgerliche Identität anders.

Lucas: So lange Pflegeheime als Ort für den medizinisch begleiteten Lebensabend wahrgenommen werden, ändert sich dies wahrscheinlich auch nicht. Der institutionelle Kontext leistet – wenn auch ungewollt – selbst einen Beitrag zur Einschränkung des Zugangs zu den Rechten, in diesem Fall den politischen Rechten. 
Dies beginnt schon beim Umgang mit den Stimmcouverts. Die Pflegefachleute fragen sich: Was ist mit diesen Couverts zu tun? Muss ich sie an alle verteilen? In diesem Zusammenhang besteht eindeutig Unkenntnis der Bundes- und Kantonsgesetzgebung.
Allerdings herrscht in Bezug auf diese Fragen auch Rechtsunsicherheit. Sogar wir Politologinnen mussten uns an einen Juristen wenden.

«Die rund 80 befragten Betagten gaben an, sich durch die Ausübung des Stimmrechts als Teil der Gesellschaft zu fühlen. Dies trägt zu ihrer Lebensqualität bei.»

Sie haben die Dimension der Lebensqualität in Ihre Forschung integriert.

Sgier: Ja, wir wollten eine Verbindung zwischen der politischen Partizipation und der Lebensqualität herstellen. Die rund 80 betagten Befragten gaben an, durch die Ausübung des Stimmrechts eine Entscheidungsbefugnis zu erhalten und sich als Teil der Gesellschaft zu fühlen.
Dies trägt zu ihrer Lebensqualität bei. Das Gleiche gilt für den Besuch von neutralen Aussenstehenden, mit denen die Betagten über Themen sprechen können, die sie beschäftigen und sonst selten zur Debatte stehen. Da war zum Beispiel ein ehemaliger Chefbuchhalter einer grossen Versicherungsgesellschaft, der eine Leidenschaft für AHV-Fragen hatte und die Problematik besser verstand als alle Politologen zusammen. Oder dieser andere Heimbewohner, ein ehemaliger Offizier, mit einer ganz klaren Meinung zum Kauf von Kampfflugzeugen. Man darf nicht vergessen, dass in Pflegeheimen Menschen leben, die sich nach wie vor für die politische Debatte interessieren. Das Leben endet nicht an der Tür zum Pflegeheim.
Könnte die Verbindung mit der Lebensqualität ein Argument dafür sein sein, dass Pflegeheime der politischen Partizipation von Heimbewohnenden mehr Aufmerksamkeit schenken?

Lucas: Es wäre tatsächlich sinnvoll, wenn einer der Indikatoren für die Lebensqualität in Pflegeheimen dieses Konzept der politischen Rechte und der Ausübung der Staatsbürgerschaft im weiteren Sinne beinhalten würde. Das wäre ein wichtiges Instrument zur Veränderung der Heimpraxis.
Die Integration der politischen Partizipation in die Lebensqualität ist übrigens auch eine Empfehlung des Forschungsprojekts.
 

Welche weiteren Empfehlungen ziehen Sie in Betracht?

Sgier: Eine erste Empfehlung wäre die Klärung des gesetzlichen und normativen Rahmens in einfachen Worten, damit man weiss, was erlaubt ist und was nicht.

Lucas: Wir können unsere eigene juristische Analyse heranziehen, aber auch unsere eigene Erfahrung und jene diverser Institutionen. So soll ein Best-Practice-Leitfaden für die Schaffung von Workshops entstehen, um die Diskussionen in einem geschützten Rahmen zu fördern, es sollen Bildungsangebote entwickelt und Ratschläge für die Erklärung politischer Vorlagen oder zum Rhythmus und zur Art der Kommunikation erteilt werden. Es geht nicht darum, jemanden zum Abstimmen zu zwingen, sondern die Meinungsäusserung zu vereinfachen und Gesprächsaufhänger zu finden. Unabhängig davon, ob sie abstimmen oder nicht: Betagte haben eine Meinung, die ihre bisherigen Erfahrungen und Kenntnisse widerspiegeln. Auch das wollen wir wertschätzen.
 

Was ist das Ziel der Studie?

Lucas: Das Bewusstsein für das Anliegen der aktiven Teilnahme am politischen Leben zu schärfen, über die politischen Rechte zu informieren und diese zugänglich zu machen, zu respektieren und zu leben. Dabei können Pflegeheime die notwendigen Massnahmen ergreifen, damit diese Rechte ernst genommen werden und die Heimbewohnerinnen und die Heimbewohner diese (erneut) entdecken können.

 


Studie online zugänglich

«La citoyenneté politique comme dimension de la qualité de vie», B. Lucas, L. Sgier, M. Meigniez, Y. Delessert. Ab 3. Oktober 2022 auf der Website der HETS Genf online verfügbar: www.hesge.ch/hets