«Gemeinsam ein neues ­Kapitel aufzuschlagen, ist eine Chance»

20.03.2024 Anne-Marie Nicole

Sie hat immer wieder neue Wege eingeschlagen – und fand dabei stets zu ihrem Lieblingsgebiet zurück: dem Alter. Christina Zweifel, seit 1. November Geschäftsführerin des Branchenverbands CURAVIVA, freut sich darauf, die strategische Ausrichtung der Branche für die kommenden Jahre mit einem breiten partizipativen Ansatz zu erarbeiten.

Frau Zweifel, laut der WHO gibt es heute in Europa mehr Menschen über 65 Jahren als unter 15 ­Jahren. Was bedeutet das für die Institutionen?

Zuerst muss gesagt werden, dass diese Entwicklung in der Schweiz bereits seit einigen Jahren Tatsache ist. 2020 machten die über 65-Jährigen 18,9 Prozent und die unter 15-Jährigen 15 Prozent der Bevölkerung aus. Nicht vergessen darf man dabei, dass in die Statistik der über 65-Jährigen gleich zwei Generationen einfliessen, das dritte und das vierte Lebensalter. Dem dritten Lebensalter gehören Menschen an, die allgemein noch sehr aktiv und gesund sind, während im vierten Lebensalter viele gebrechlich und auf Unterstützung in Alters- und Pflegeheimen angewiesen sind.  
 

Die demografische Alterung bringt grosse wirtschaftliche, gesellschaftliche und gesundheitliche Herausforderungen mit sich. Die WHO empfiehlt Massnahmen zur Gesundheitsprävention und -förderung. Welche Rolle nehmen dabei die Institutionen ein?

Manche Altersinstitutionen sind in diesem Sinne bereits aktiv, indem sie externe Beratungsdienstleistungen anbieten oder sich an Quartier- und Gemeindeprogrammen beteiligen. Die Hauptaufgabe der Altersinstitutionen besteht jedoch darin, für die in der Regel über 80-jährigen, gebrechlichen Heimbewohnerinnen und -bewohner ein Wohn- und Pflegeort zu sein. Aber gerade diese Bevölkerungsgruppe wird in den nächsten Jahren am stärksten wachsen. Gemäss Bundesamt für Statistik ist bis 2050 eine Verdoppelung der Zahl der über 80-Jährigen zu erwarten. Und hier sind unsere Institutionen gefordert. 
 

Das Angebot der Alters- und Pflegeheime umfasst zahlreiche Kompetenzen im Betreuungs- und Pflegebereich. Sie könnten zu einem Dienstleistungszentrum für den Sozialraum werden.

Diese Entwicklung ist unter bestimmten Umständen möglich, hängt aber vor allem vom Netzwerk der jeweiligen Institution ab. In gewissen Regionen ist dies nicht sinnvoll, weil bereits andere Anbieter etabliert sind. Angesichts der Zunahme der Multimorbidität und der kognitiven Beeinträchtigungen der zu betreuenden Menschen wird die traditionelle Aufgabe der Alters- und Pflegeheime auf jeden Fall fortbestehen. Die Heime werden sich natürlich ­verändern, anpassen und weiterent­wickeln müssen, aber sie werden nicht verschwinden.
 

Neben der demografischen Alterung spricht auch der Arbeitskräftemangel für eine Öffnung der Alters- und Pflegeheime ­ge­genüber ihrem Sozialraum.

Auf jeden Fall, aber über intermediäre Strukturen und unter der Voraussetzung, dass entsprechende Rahmenbedingungen gegeben sind, damit die Mitarbeitenden auch in diesen heimnahen Strukturen arbeiten können. Denn genau dies ist entscheidend: Wir wissen, dass die stationäre Betreuung effizienter und effektiver als die ambulante ist, weil das Personal keine langen Wege zwischen den zu versorgenden Menschen hat. Aus meiner Sicht werden sich die Alters- und Pflegeheime auch in ihrer Arbeitsweise weiterentwickeln, um einerseits die Lebensqualität der Betagten, insbesondere im sozialen Bereich, zu verbessern und andererseits ihre Berufe zu modernisieren und noch attraktiver zu gestalten. 
 

Wie wird sich die Arbeitsweise verändern?

Änderungen werden sich vor allem im Einsatz von assistierenden Technologien und Robotik zur Arbeitserleichterung zeigen. Gerade das Pflegepersonal verrichtet zahlreiche Aufgaben ohne direkten menschlichen Kontakt und auf Kosten der sozialen Interaktion mit den Bewohnenden. Einige Alters- und Pflegeheime testen bereits Handlingroboter, die selbstständig Bettwäsche, Medikamente und andere Gegenstände holen können. In einer fernen Zukunft kann man sich sogar ein intelligentes tragbares Gerät vorstellen, das die Handlungen automatisch erkennt und dokumentiert. Dadurch hätten die Pflegefachkräfte mehr Zeit für jede einzelne Person. Es stellt sich dabei allerdings auch die Frage nach der Finanzierung dieser Beziehungsarbeit. Diverse Studien weisen auf den positiven Einfluss ­zwischenmenschlicher Beziehungen auf die Lebensqualität hin und ­empfehlen deshalb eine Professionalisierung dieser sozialen Begleitung.
 

Inwiefern beabsichtigt CURAVIVA, die Pflegeinstitutionen im Hinblick auf den demografischen Wandel zu unterstützen?

Der Branchenverband vertritt seit jeher die Interessen der Institutionen für Menschen im Alter, um ihnen Gehör zu verschaffen. Zu diesem Zweck beschäftigt er sich mit verschiedenen Themen und Dossiers, unter anderem mit der Digitalisierung. Andere Themen sind die Rahmenbedingungen, die Pflegequalität, die personenzentrierte Pflege und die integrierte Versorgung im Rahmen des Wohn- und Pflegemodells 2030. Doch die grösste Herausforderung stellt die Gesundheitsökonomie und -finanzierung dar. Hier werden wir sowohl beim Branchen­verband als auch bei der Föderation eine wichtige Rolle übenehmen. 
 

Sie sprechen die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen EFAS an?

Ja, EFAS ist mit Abstand das wichtigste politische Dossier, mit dem wir uns beschäftigen. Es geht dabei um eine grundlegende Reform der Gesundheitspolitik. Mit einer neuen Kostenaufteilung ­zwischen Kantonen und Krankenver­sicherern fördert EFAS die Übergänge ­zwischen ambulant und stationär, ­wodurch die Personen je nach Bedürfnis zwischen den verschiedenen Versorgungsstrukturen hin- und herwechseln können. Die Reform betont die Bedeutung der Pflege und gibt uns eine ­andere Verhandlungsposition. Sie geht klar in Richtung integrierte Versorgung. 
 

Welches sind die von CURAVIVA für die kommenden Jahre definierten Schwerpunkte der Branchenstrategie?

Die strategischen Leitlinien werden in einem partizipativen Prozess definiert. Wir beabsichtigen, die Mitglieder zu ihren Bedürfnissen zu befragen und darauf beruhend unsere strategische Ausrichtung zu formulieren. Im Februar kamen wir mit den Kollektivmitgliedern zusammen, das heisst mit den Kantonalverbänden der Institutionen für Menschen im Alter. Im Sommer werden wir Gespräche mit den Einzelmitgliedern über ihre Erwartungen an die Leistungen führen. Das Ziel ist es, dass wir uns im September auf eine Strategie mit einem Leistungskatalog festlegen können. Wir streben eine Strategie an, die offen genug ist, um zukünftigen Entwicklungen vorzugreifen und diese zu integrieren.
 

Der Startschuss für diesen partizipativen Prozess fiel am 28. Februar 2024 in Bern. Welches sind die ersten Erkenntnisse?

In diesem ersten Strategieworkshop haben wir unseren Mitgliedern zwei Fragen gestellt: Welche Themen sind für Sie in den nächsten acht Jahren wichtig? Und wie kann CURAVIVA Sie dabei unterstützen? Eine erste Analyse ergab einige Schwerpunkte, wie die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung, die Finanzierung der Pflege und Betreuung von Institutionen, Personalfragen, Digitalisierung und künstliche Intelligenz, Kooperationen und Vernetzung. Was die erwartete Unterstützung betrifft, so bezieht sie sich auf die Vertretung der Interessen der Branche auf politischer Ebene, auf Kommunikationsmassnahmen zur Verbesserung des Images der Pflegeheime und auf ein Monitoring, um zukünftige Trends zu erkennen und zu antizipieren. Es kann auch hervorgehoben werden, dass die Grundlagenarbeit von CURAVIVA zu den thematischen Dossiers von den Mitgliedern besonders geschätzt wird.
 

Der Branchenverband CURAVIVA ist in der Westschweiz noch wenig bekannt. Wie kann diese Region samt ihren Bedürfnissen besser berücksichtigt werden?

Es scheint tatsächlich noch viel Arbeit für mehr Sichtbarkeit vor uns zu liegen. Ich habe bereits Kontakt zu den verschiedenen Westschweizer Kantonalverbänden aufgenommen und bin bei einigen von ihnen schon vorstellig geworden. Zudem warte ich den Abschluss des partizipativen Strategieprozesses ab, um ein besseres Verständnis der Situation zu erhalten und bei Bedarf die Art der Zusammenarbeit zu überdenken. Ein heikler Punkt wird die Governance sein, insbesondere was die gute Vertretung der Regionen in den Gremien von CURAVIVA betrifft. Zurzeit beschränkt sich unsere Zusammenarbeit auf die Koordination und den Austausch. Dieses Jahr werden wir uns damit beschäftigen, wie sich die Regionen einbeziehen lassen und welches Entscheidungsgewicht sie erhalten.
 

Kann man von einer kulturellen Barriere zwischen den Sprach­regionen sprechen?

Man muss aufpassen, nicht zu pauschalisieren. In der Berufspraxis und bei der Arbeitsorganisation könnten wir mehr voneinander lernen. Eine gute Idee, die in der Westschweiz entwickelt wurde, kann sehr wohl in der Deutschschweiz umgesetzt werden und umgekehrt. Man darf sich auf keinen Fall durch Sprachbarrieren einschränken lassen. In allen Instanzen, in denen ich mitwirken durfte, war Sprache ein Thema. Bei CURAVIVA sind die Sitzungen des Branchenrats heute zweisprachig. Der Sprachwechsel von einer Sitzung zur anderen ändert die Perspektive und gewährleistet eine bessere Beteiligung aller Anwesenden.

 

«Was bringt uns CURAVIVA?» Diese Frage hört man zuweilen in den Institutionen. Was ist Ihre Antwort darauf?

Ja, die Institutionen kennen unseren Namen, wissen aber nicht wirklich, was wir tun. Dies ist die Kehrseite der politischen Arbeit. Wir arbeiten weit im Voraus an den Dossiers, also lange bevor die Auswirkungen in den Alters- und Pflegeheimen spürbar werden. Nehmen wir zum Beispiel EFAS: Die Motion wurde vor rund 15 Jahren eingereicht. CURAVIVA nahm vor sieben oder acht Jahren zum ersten Mal dazu Stellung. Wir setzen uns weiterhin aktiv für die Umsetzung von EFAS ein, aber es wird noch einige Jahre dauern, bis die Reform in Kraft tritt und sich auf die alltägliche Arbeit in den Institutionen auswirkt. Zudem hängt alles vom Referendum ab. Es ist nicht immer einfach, die Bedeutung dieser politischen Arbeit zu vermitteln. Die Fahrpläne der institutionellen, kantonalen und nationalen Ebene sind unterschiedlich. Die geleistete Arbeit ist unsichtbar, was aber auch bedeutet, dass sie gut gemacht wird. 

«Eine gute Idee, die in der Westschweiz entwickelt wurde, kann sehr wohl in der Deutschschweiz umgesetzt werden und umgekehrt. Man darf sich auf ­keinen Fall durch Sprachbarrieren einschränken lassen.» Christina Zweifel

Sie haben die ersten 100 Tage in Ihrer neuen Funktion hinter sich. Was haben Sie erfahren? Was hat Sie überrascht?

Alles ist neu. Mit der Föderation ARTISET habe ich eine aufstrebende Organisation kennengelernt. ARTISET ist agil und verfügt über ein hochmotiviertes Team, das nach vorne schaut. Auch die strategischen Gremien engagieren sich stark für die Branche. Ich nahm an den kantonalen Tagungen der Kollektivmitglieder teil, ich habe Alters- und Pflegeheime in Appenzell besucht und Praktika in Waadtländer Alters- und Pflegeheimen absolviert, um mich mit der Praxis vertraut zu machen. Überall erfuhr ich eine wundervolle Dynamik. Natürlich ist mir auch Kritik zu Ohren gekommen: Unsichtbarkeit, kein offenes Ohr oder schlechte Kommunikation. Verbesserungspotenzial ist also vorhanden. Aber ich fühle mich dennoch sehr wohl und freue mich darauf, den Strategieprozess in die Wege zu leiten.
 

Was bringen Sie für die Arbeit im Branchenverband CURAVIVA mit?

Ich spreche Französisch, bin sowohl mit der Westschweizer als auch mit der Deutschschweizer Kultur vertraut, und das Alter gehört zu meinen Lieblingsgebieten. Ich weiss zwar nicht weshalb, aber es ist das einzige Fachgebiet, in dem ich auch in meiner Freizeit Artikel lese. Es fasziniert mich einfach. Meine Schwachstelle ist die Tatsache, dass ich nie in einem Alters- und Pflegeheim gearbeitet habe. Wie soll ich mich denn für die Institutionen einsetzen, wenn ich sie nicht von innen kenne? Aus diesem Grund habe ich Praktika absolviert und Besuche gemacht. Ich weiss aber auch, dass ich nicht allein bin und mich auf ein Team an Fachleuten stützen kann, die über das wissenschaftliche und methodische Know-how verfügen, sowie auf Fachkräfte aus der Praxis, die wir in alle unsere Projekte einbeziehen.
 

Wird 2024 ein Schlüsseljahr?

Wenn alles nach Plan verläuft, ja, auf jeden Fall. Im September dürften wir über unsere zukünftige strategische Ausrichtung verfügen. Ich bin dankbar, dass ich diesen Prozess einleiten darf. So springe ich nicht einfach auf den fahrenden Zug auf, sondern bestimme die Zusammensetzung des Zuges. Dies versetzt mich in eine komfortable Ausgangslage. Ein neues Kapitel zur Weiterentwicklung und zu anstehenden Veränderungen aufzuschlagen, ist eine Chance, aber natürlich auch mit viel Arbeit verbunden! Es ist spannend, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. 
 


Christina Zweifel

Seit dem 1. November 2023 ist Christina Zweifel Geschäftsführerin von CURAVIVA und Mitglied der Geschäftsleitung der Födera­tion ARTISET. Zuvor leitete sie während sieben Jahren die Fachstelle Alter und Familie des Kantons Aargau, wo sie politische Geschäfte vorbereitete und Gemeinden und Institutionen in alterspolitischen Fragen beriet. Das Thema Alter prägte bereits ihre akademische Laufbahn an der Universität Freiburg, wo sie in Humangeografie ihre Dissertation über die Alterspolitik in Schweizer Gemeinden schrieb. Die 38-jährige Christina Zweifel ist perfekt zweisprachig in Französisch und Deutsch und verfügt auch über gute Italienischkenntnisse. Nebenamtlich lehrt sie an zwei Bildungsinstitutionen zu den Themen Alterspolitik in Gemeinden sowie Sozialraum/Wohnformen im Alter.

 

 

Foto: esf