Im Blick: Eine Verbesserung der Qualität

20.03.2024 Elisabeth Seifert

Qualitätsindikatoren sollen einen ersten Anhaltspunkt zur ­Qualität der in den gemessenen Bereichen erbrachten Leistungen geben und den Vergleich zwischen den Heimen ermöglichen. Damit beschreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) Sinn und Zweck des Ende Februar veröffentlichten Berichts. Wir ­ordnen die Daten ein – im Gespräch mit Franziska Zúñiga, Professorin am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel.

Stolze 1374 Seiten umfasst das Dokument «Medizinische Qualitätsindikatoren im Bereich der Pflegeheime. 2021», das vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) Ende Februar publiziert worden ist. Erstmals rapportiert damit das BAG national und öffentlich die Daten der Pflegein­stitutionen zu sechs nationalen Qualitätsindikatoren im Bereich der vier Messthemen Mangelernährung, bewegungseinschränkende Massnahmen, Polymedikation und Schmerzen. Geordnet nach Kantonen, werden die Daten der Heime auf je einer Seite in einer jeweils numerischen und grafischen Darstellung ausgewiesen. Die Prozentwerte geben jeweils den Anteil der Bewohnenden an, auf die der Indikator zutrifft. Je geringer dieser Anteil ausfällt, desto besser. Das Dokument enthält die Daten von 1302 Institutionen, gut 200 Heime fehlen in der Statistik, weil sie entweder zu klein sind oder nicht alle erforderlichen Daten liefern konnten. 

Neben dem Wert pro Indikator für jedes Heim wird der kantonale Wert ausgewiesen, der das arithmetische Mittel der Werte des Indikators von jedem Pflegeheim des entsprechenden Kantons darstellt. Bei einem ersten Blick auf dieses riesige Zahlenmaterial fällt zunächst etwa auf, dass über sämtliche Heime und Kantone hinweg der Indikator Polymedikation mit um die 42 Prozent den höchsten Wert aufweist. Es folgen – auf einem klar tieferen Niveau – die beiden Schmerzindikatoren (Selbst- und Fremdeinschätzung). In einem mittleren einstelligen Bereich bewegt sich der prozentuale Anteil der Bewohnenden, bei denen eine Mangel­ernährung festgestellt wurde. Am geringsten sind die Werte bei den bewegungseinschränkenden Massnahmen: In einem tiefen bis mittleren einstelligen Bereich liegt der Anteil der Bewohnenden, die Bettgitter haben, und am geringsten (oft unter einem Prozent) ist der prozentuale Anteil bei ­Bewohnerinnen und Bewohnern mit einer Sitzgelegenheit, die sie am Aufstehen hindert. 

Vergleiche innerhalb eines Kantons

«Wenn man die Daten grob überblickt, fällt auf, dass es ­wenige Heime gibt, die bei allen Indikatoren deutlich über dem Durchschnitt ihres Kantons liegen», beobachtet Franziska Zúñiga, Professorin am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel. Sie hat das Projekt zur Einführung nationaler medizinischer Qualitätsindikatoren von Beginn weg auf wissenschaftlicher Seite begleitet. Die einzelnen Institutionen haben, so Zúñiga, vielmehr bei gewissen Indikatoren höhere, bei anderen Indikatoren dafür tiefere Werte und es gibt auch Heime, die überall Durchschnittswerte haben. 

«Die medizinischen Qualitätsindikatoren geben einen ­ersten Anhaltspunkt zur Qualität der nach dem Krankenversicherungsgesetz (KVG) von einem Pflegeheim in den gemessenen Bereichen erbrachten Pflegeleistungen und ermöglichen den Vergleich zwischen den Pflegeheimen auf dieser Ebene.» Damit beschreibt das BAG in der Einleitung zum Bericht die Ziele der Publikation. Hervorgehoben wird zudem, dass den Pflegeheimen aufgrund der ausgewiesenen kantonalen Durchschnittswerte ermöglicht wird, «sich im Vergleich zu den Werten des verantwortlichen Kantons zu positionieren». 

Gemäss Franziska Zúñiga macht es Sinn, dass das BAG die Werte eines Heims in Beziehung zu den kantonalen Durchschnittsdaten rapportiert und damit insbesondere den innerkantonalen Vergleich in Blick hat. Innerhalb eines ­Kantons bestehe ein ähnlicher regulatorischer Kontext, ­betont die Expertin. Die Kantone haben gegenüber den ­Heimen eine Aufsichtsfunktion und knüpfen die Be­triebs­bewilligungen an diverse, auch qualitätsrelevante Vorgaben. Hinzu kommen kulturelle Unterschiede zwischen den Landesteilen oder auch die verschiedenen Prägungen von eher ländlich oder städtisch geprägten Kantonen. 

Vergleich dank Risikoadjustierung möglich

Zusätzlich zu der vom BAG gewählten Darstellung und den damit verbundenen Ziele würde die Pflegewissenschaftlerin eine Übersicht über die Kantone sowie eine nationale Gesamtübersicht als sinnvoll erachten. Eine Zusammenfassung auf schweizerischer Ebene ermögliche, so Zúñiga, einen Vergleich mit anderen Ländern und eine Kantonsübersicht den interkantonalen Vergleich.

Unabhängig davon, auf welchen Ebenen der Vergleich stattfindet, ist für die Wissenschaftlerin von entscheidender Bedeutung, dass der Vergleich weder mit positiven noch mit negativen Bewertungen verbunden wird. Sie nimmt damit darauf Bezug, dass man versucht sein könnte, aus dem ­Zahlenmaterial Ranglisten zu erstellen. «Der Zweck des ­Vergleichs ist nicht ein Ranking, sondern die Qualitätsverbesserung», hält Zúñiga dezidiert fest. 

Damit ein fairer Vergleich mit dem Ziel der Qualitäts­verbesserung ermöglicht wird, wurden die medizinischen ­Qualitätsindikatoren mit Risikoadjustierung berechnet. ­Damit sollen Einflussfaktoren, die nicht mit der Qualität der erbrachten Leistungen zusammenhängen, eliminiert werden. Aufgrund von Analysen am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel sind in die Berechnung aller sechs Indikatoren die Pflegestufe sowie die kognitive Leistungsfähigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner einge­flossen. Bei einzelnen Indikatoren wurden zusätzlich das Alter, das Geschlecht sowie Anzeichen von emotionaler Instabilität berücksichtigt.

«Aufgrund dieser Risikoadjustierung kann ein Heim seine Daten nicht damit begründen, dass es sehr viele pflege­intensive Bewohnerinnen und Bewohner hat oder solche mit kognitiven Einschränkungen», erläutert Franziska ­Zúñiga. Mit solchen Variablen zur Risikoadjustierung können aber nie alle Faktoren eliminiert werden. Einen Einfluss auf die Indikatorwerte könnte zum Beispiel auch haben, dass ein Heim besonders viel Bewohnende hat, die mit Palliative Care gepflegt werden. «Solche spezifischen Einflussfaktoren sind nicht risikoadjustiert», betont Zúñiga.

Dies aber bedeutet, dass man sehr sorgfältig damit sein müsse, wie man die Ergebnisse interpretiert. Hohe Indika­torwerte müssen nicht zwingend auf ein Problem hin­deuten – und gerade auch deshalb machen Ranglisten keinen Sinn. 

Von Ranglisten innerhalb eines Kantons oder auf schweizerischer Ebene sei zudem schon allein deshalb abzusehen, «weil aus den ausgewiesenen Prozentzahlen nicht sichtbar wird, ab wann ein signifikanter Unterschied vorliegt». Hierfür seien genauere statische Analysen erforderlich, sagt die Pflegewissenschaftlerin. Erst ein solch «signifikanter Unterschied» sei aber ein Hinweis darauf, dass ein Problem vorliegen könnte oder eben nicht. Hinzu komme, dass die im Bericht verarbeiteten Daten aus dem Jahr 2021 stammten. Die Heime stehen heute womöglich an einem anderen Ort. «Was aber bringt es, Schlussfolgerungen zur aktuellen Qualität zu ziehen, die auf zwei Jahre alten Daten beruhen?», gibt Zúñiga zu bedenken. 

«Wenn eine Institution bei einem ­Indikator deutlich über dem ­kantonalen Durchschnittswert liegt, ist es sicher sinnvoll, die eigenen Daten zu hinterfragen und nach ­Erklärungen zu suchen.» Franziska Zúñiga, Professorin am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel.

Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Pflegeheime im soeben publizierten Bericht ihre Daten ein erstes Mal im öffentlichen Vergleich einsehen können. Um die Daten der einzelnen Pflegeeinrichtungen einordnen und Rückschlüsse auf die Qualität machen zu können, müsse man die Datenentwicklung über mehrere Jahre hinweg verfolgen. Die veröffentlichten Zahlen zeigen zunächst einfach, wie Franziska Zúñiga unterstreicht, dass die Werte einer Institution höher oder tiefer liegen als jene einer anderen Institution, oder als der Mittelwert des betreffenden Kantons. «Was ­diese Werte aber im Detail bedeuten, dass muss in einer fundierten Analyse und im Austausch geklärt werden.» Dabei gilt auch zu beachten, dass die Indikatoren spezifische Aspekte der Qualitätserbringung widerspiegeln, jedoch nicht die Gesamtqualität einer Institution.

«Können wir jede Situation erklären?»

Die Pflegewissenschaftlerin bezeichnet den Bericht als «den ersten Schritt auf einer Reise». «Jetzt geht es darum, dass die Heime, aber auch die Kantone und auch die Verbände auf kantonaler Ebene die Daten in aller Ruhen anschauen, sich fragen, wo sie im Vergleich stehen und in welchen Bereichen sie an ihrer Qualität arbeiten wollen.» Denn: Auch wenn die Zahlen keine eindeutigen Schlüsse zulassen, lohne es sich auf alle Fälle, hinzuschauen. «Wenn eine Institution bei einem Indikator deutlich über dem kantonalen Durchschnittswert liegt, dann ist es sicher sinnvoll, die eigenen Daten zu hinterfragen und nach Erklärungen zu suchen.» 

Aufgrund ihrer Aufsichtsfunktion könnten zum Beispiel die Kantone mit den Institutionen zusammenkommen und die Daten gemeinsam diskutieren, auch unter Zuzug von Qualitätsexperten und -expertinnen – «und zwar ohne ­irgendwelche Schuldzuweisungen vorzunehmen». In ­solchen Diskussionen gehe es darum, die Daten zu erläutern. «Möglicherweise lassen sich Beispiele guter Praxis identifizieren, von denen andere lernen können.» Weiter zeige sich vielleicht, dass gewisse Themen auf kantonaler Ebene angegangen werden müssen. Franziska Zúñiga erwähnt etwa das Thema Polymedikation. Da die Heime zuweilen mit vielen Hausärztinnen und Hausärzten zusammenarbeiten, die für die Verschreibung von Medikamenten verantwortlich sind, können sie diesen Indikator nur bedingt selbst beeinflussen. 

Die Institutionen seien jetzt gefragt, die Werte jedes einzelnen Indikators im kantonalen Vergleich zu überprüfen – und nach Erklärungen und Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen. «Können wir bei jeder Schmerzsituation sagen, was zu der hohen Einschätzung geführt hat, welche weitere Behandlungsoptionen bestehen?», könnte eine mögliche Frage lauten. Entscheidend für einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess sei dabei, dass die Institutionen rasch Zugang zu ihren aktuellen Daten erhalten, wie das manche Erhebungsinstrumente erlauben, und dass die Institutionen ihre Daten immer besser analysieren und interpretieren können. 

In der Kommunikation über die Indikatorwerte mit Bewohnenden und Angehörigen rät die Wissenschaftlerin zu einem proaktiven Vorgehen. «Sie können zum Beispiel eine Informationsveranstaltung organisieren, an der sie den Zweck der Publikation aufzeigen, ihre spezifischen Daten erläutern und festhalten, wo sie Verbesserungsmöglichkeiten orten. Die Grundidee der Indikatoren ist eine datenbasierte Qualitätsverbesserung.» Ein Satz, den die Pflegewissenschaftlerin im Gespräch mehrfach wiederholt. Hier setzt auch das nationale Implementierungsprogramm NIP-Q-Upgrade an, ein Programm, das die eidgenössische Qualitätskommission an die Föderation ARTISET mit dem Branchenverband CURAVIVA und an Senesuisse übertragen hat. Ein zentrales Anliegen des ­Programms ist die Unterstützung der Pflegeinstitutionen bei der Umsetzung der Qualitätsverbesserung. 

Bericht des BAG lesen