IDENTITÄT | Auch die Kinder der «Versorgten» sind lebenslang geprägt

20.03.2024 Salomé Zimmermann

Zehntausende Menschen erlebten in der Schweiz durch fürsorge­rische Zwangsmassnahmen und Fremd­platzierungen biografisch einschneidende Eingriffe, die auch das Leben der nächsten Generationen prägen. Eine Forschungsgruppe untersuchte die Auswirkungen der Brüche auf die zweite Generation und zeigt den Umgang der Kinder mit den Erfahrungen der Eltern auf.

Jugendliche in der Schweiz auf Bauernhöfen als ­billige Arbeitskräfte verdingt, in Erziehungsanstalten und anderweitige Einrichtungen eingewiesen oder in Pflegefamilien untergebracht. Unter diesen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen der Behörden erlitten viele Betroffene grosses Leid, Unrecht und Stigmatisierung, und sie kämpfen mit den Folgen bis heute. Was bedeutet es, wenn diese Menschen Eltern werden? Wie sieht es aus mit den Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen? Das Forschungsprojekt «Von Generation zu Generation: Familiennarrative im Kontext von Fürsorge und Zwang» beschäftigte sich mit den ­Folgen für die zweite Generation. Verantwortlich für die Studie ist Professorin Andrea Abraham zusammen mit weiteren Kolleginnen und Kollegen von der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit. 

Vom Erleben und Überleben

«Wir haben 27 Betroffene mit Jahrgängen zwischen 1940 und 1990 befragt, also Personen, deren Väter oder Mütter oder gleich beide Verdingkinder, administrativ Versorgte und Heimkinder waren», erzählt Andrea Abraham. Sehr belastete Kindheitserfahrungen verbindet diese Menschen unterschiedlichen Alters. «Wir wollten wissen, wie die Kinder die Zusammenhänge zwischen der elterlichen Vergangenheit und dem eigenen Leben deuten und wie sie damit umgehen», fasst Andrea Abraham das Anliegen der qualitativen Studie mit biografisch-narrativen Interviews zusammen, die in das Nationale Forschungsprogramm NFP 76 zu Fürsorge und Zwang eingebettet ist. 

In den vergangenen zehn Jahren zeigten zahlreiche Forschungen, wie die Direktbetroffenen von fürsorge­rischen Zwangsmassnahmen diese Erfahrungen er- und überlebten, welche Auswirkungen rigide Bestrafungssysteme, Abwertung und Übergriffe, Isolation, Einsamkeit und Angst hatten. Die betroffenen Menschen verschafften sich Gehör und erzählten in verschiedenster Form ihre Geschichte, etwa durch Autobiografien, Porträts, Dokumentarfilme, Fotos, Theaterstücke oder Kunstwerke. Die breite Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen begann 2013, nach der offiziellen Entschul­digung des Bundesrats. «Die Stimme der zweiten Genera­tion fehlte aber bisher, diese Lücke wollten wir angehen mit unserer Arbeit», sagt Andrea Abraham. Sie erläutert, dass der Begriff «zweite Generation» und die Erforschung dazu aus den Erfahrungen und Aufarbeitungen von ­Holocaust-Opfern stammt. Deren Nachfahren hätten vermehrt Therapien gemacht, und so wurde nach und nach deutlich, dass auch sie von den Schrecken, die ihre Eltern erfahren mussten, stark geprägt sind. 

Identifikation mit Elternerfahrungen 

Andrea Abraham und ihre Kolleginnen und Kollegen liessen sich in langen biografischen Interviews erschütternde ­Lebensgeschichten erzählen. Was ist das Hauptergebnis der Studie zu der zweiten Generation von Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen? Die Töchter und Söhne, die zu reden bereit waren, erlitten wie ihre Eltern auch schwierige bis schädigende Kindheiten. Sie konnten aber auch Stärken von ihren Eltern übernehmen. 

Andrea Abraham führt aus: «In unseren Interviews wurde deutlich, dass die Kinder Belastungen erlebt haben, die sie in einen Zusammenhang setzen mit den Erfahrungen der Eltern.» So erzählten die Nachkommen von konflikt­reichen und gewaltvollen Elternbeziehungen, von Grenz­überschreitungen, von fehlender Liebe und von grossen Tabus. Sechs der 27 Befragten wurden sogar selber wieder in Familien oder Heimen fremdplatziert. Besonders belastend empfinden viele Personen der zweiten Generation das grosse Schweigen, obwohl die Vergangenheit der Eltern stets präsent war – die Kinder konnten es aber nicht einordnen. Die Kinder hätten gemerkt, dass die Eltern unter der Vergangenheit litten, und hätten sich für ihre Eltern verantwortlich gefühlt. In vielen Fällen habe eine starke Identifikation mit der elterlichen Geschichte stattgefunden und die Kinder hätten Gefühle von Schuld, Angst und Mitleid verspürt. Es wird also deutlich, dass sich bestimmte Muster innerhalb der Familien fortsetzen. Zudem zeigen sich die Auswirkungen der Erfahrungen der Eltern über die ganze Lebensspanne der Nachkommen hinweg. «Die Töchter und Söhne, die mit uns redeten, ­befassen sich sowohl in der Kindheit wie auch als Erwachsene mit den Auswirkungen der elterlichen Biografie auf ihre Identität und ihr Leben», sagt Andrea Abraham. Es ist ihr dabei wichtig, zu betonen, dass die Identität keine feste Grösse ist, sondern eine ständige Suche und Entwicklung, die nie abgeschlossen ist. 

«Besonders aufgefallen ist das Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Eltern und Kindern – häufig ins eine oder andere Extrem fallend, entweder zu nahe oder zu distanziert: in ­Worten, in Taten, in Stimmungen. Andrea Abraham,
Professorin Soziale Arbeit, BFH

Besonders aufgefallen sei im Lauf der Studie das Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Eltern und Kindern – häufig ins eine oder andere Extrem fallend, entweder zu nahe oder zu distanziert: in Worten, in Taten, in Stimmungen. «Die erste Generation Betroffener erlebte verschiedene Formen von Brüchen, die sich auf ihr Selbstbild auswirkten», so Andrea Abraham. Häufig verinnerlichten sie negative Sätze wie «du bist nichts, du kannst nichts, aus dir wird nichts», die über eine Generation ­hinweg fortbestehen und prägen. Denn die mit den ­schwierigen Erfahrungen verbundene Selbstdefinition wirkt sich wiederum im Wechselspiel zwischen Eltern und Kindern auf die Identität und das Zugehörigkeitsgefühl beider Generationen aus. 

Soziale Berufe der zweiten Generation 

Der Umgang der Menschen der zweiten Generation mit ihren spezifischen Erfahrungen ist unterschiedlich, wie Andrea Abraham erläutert. Die zweite Generation wehrt sich auf verschiedene Art und Weise gegen die eigenen negativen Erfahrungen und die Folgen der schwierigen Kindheit ihrer Mutter oder ihres Vaters. Einige verliessen bereits als Minderjährige ihre Herkunftsfamilien und verzichteten auf gewünschte Bildungswege, um früher ausziehen zu können – mit dem Risiko von neuen Belastungen. Einige Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen ­sahen die eigene Familiengründung als Möglichkeit für einen Neuanfang, verbunden mit dem Wunsch nach einer intakten Familie. Andere entschieden sich wiederum gegen eine Familie und Kinder, vor allem, wenn sie sich in schwierigen Partnerschaften befanden. 

Zahlreiche Interviewte der zweiten Generation wählten einen sozialen Beruf und erkennen in ihrem Einsatz für ­belastete Menschen einen Zusammenhang mit der Traumatisierung ihrer Eltern. «Ihre Arbeit sehen sie als Vergangenheitsbewältigung und als Prävention, um zukünftiges Leiden möglichst zu verhindern», so Andrea Abraham. Als weiterer zentraler Punkt kristallisierte sich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Eltern heraus, im direkten Gespräch oder durch eigene Recherchen. «In einigen Familien trägt sicher auch die öffentliche Aufarbeitung dazu bei, dass einfacher darüber geredet und das Schweigen gebrochen werden kann», sagt Abraham. Die Forscherin hebt hervor, dass neben allen schwierigen Aspekten und Abgründen, die in den Lebensgeschichten zum Vorschein kamen, auch von positiven Eigenschaften und Strategien der Eltern berichtet wurde – etwa von Gerechtigkeitssinn, hohem Arbeitsethos, politischem Engagement oder Tierliebe. Dies sei dem ­gros­sen Effort der ersten Generation in der Verarbeitung des Erlebten zu verdanken. 

Vermeidung einer betroffenen Drittgeneration

Ein wichtiges Anliegen der zweiten Generation wie auch der Forschenden ist die Frage, wie mit den negativen ­Folgen der fürsorgerischen Massnahmen umgegangen werden soll und wie eine belastete Drittgeneration verhindert werden kann. «Wir sind als ganze Gesellschaft betroffen und herausgefordert, über das Einzelschicksal hinaus, denn die existenziellen Folgen sind gravierend und reichen weit, etwa in Form von psychischen Erkrankungen, körperlichen Leiden, Langzeitarbeitslosigkeit und Abhängigkeit von Sozialhilfe und IV», verdeutlicht Andrea Abraham. Seit einiger Zeit gibt es die Erzählbistros, Begegnungsorte, um sich auszutauschen und die eigene Geschichte aufzuarbeiten zusammen mit anderen und mit Input von Fachpersonen. «Solche Gruppen, in denen sich Menschen mit ähnlichem Schicksal treffen können und es zur Gemeinschaftsbildung kommt, erachte ich als ebenso wichtig wie individuelle Therapien und andere Formen der Unterstützung», so Andrea Abraham. 

Unbestritten ist, dass die Drittgeneration einen Vorteil hat, wenn die vorherigen Generationen mit passender Unterstützung und den je eigenen Möglichkeiten einen Teil zur Aufarbeitung beitragen. So kann es gelingen, die generationenübergreifenden Langzeitfolgen der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zu verhindern oder abzumindern. 
 



Betroffenen-Treff fürsorgerischer Zwangsmassnahmen: erzahlbistro.ch

Zusätzliche Informationen zum ­Forschungsprojekt

Das (als E-Book kostenlose) Buch «Von Generation zu Generation. Wie biografische Brüche in Familien weiterwirken»