IDENTITÄT | Neue Wege zum Ich

20.03.2024 Tanja Aebli

Im Discherheim stehen die Zeichen auf Veränderung: ­begleiten statt betreuen, individuell statt uniform, experimentieren statt stagnieren heisst die Stossrichtung. Doch was bedeutet das ­Bekenntnis zu mehr Individualität und einer auf die Klientinnen und Klienten abgestimmten Begleitung im täglichen Zusammenleben? Wie schnell gelingt Veränderung, und wo stösst sie an Grenzen? Ein Besuch vor Ort.

Die Stimmung ist ausgelassen im Hauptgebäude des ­Discherheims, einer Institution unweit der Stadt Solothurn. Hier gehen 82 Personen mit geistiger und mehrfacher ­Beeinträchtigung ein und aus, die meisten wohnen und arbeiten im dreistöckigen Komplex aus dem Jahr 2009. Einige der Klientinnen und Klienten beobachten interessiert das Geschehen hinter der gläsernen Eingangstür, andere unterhalten sich, lachen, gestikulieren, spazieren durch die Gänge oder halten vor den Vitrinen inne, in denen die Produkte aus den Ateliers präsentiert werden. Schnell wird klar: Die Spannbreite ist gross, was Alter, Schweregrad der Beeinträchtigung wie auch individuelle Bedürfnisse und Ressourcen anbelangt. 

Welche Bedeutung hat die Frage nach der Identität für Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind? Ist sie lediglich ein theoretisches Konstrukt, oder gibt es Methoden und Ansätze, um dem Ergründen der eigenen Persönlichkeit im Alltag einer Institution mehr Raum und Gewicht zu geben? «Die Frage der Identität ist eng mit der Frage der eigenen Haltung verwoben», sagt Stephan Oberli, Gesamtleiter des Discherheims. «Unsere Haltung ist klar: Wir als Institution stehen in der Pflicht, unsere Angebote so rasch wie möglich in Einklang mit der UNO-Behindertenrechtskonvention zu bringen. Hierfür müssen wir alle – 190 Mitarbeitende und die gesamte Führungscrew – am gleichen Strick ziehen.» 

Umdenken auf sämtlichen Ebenen

Zwar hat das Discherheim im Leitbild, in der Strategie und im neuen Agogik-Konzept Prinzipien wie Selbstbestimmung, Autonomie, Inklusion und Partizipation verankert, doch der Transfer der UN-BRK-Vorgaben in die Praxis ist noch lange nicht zu Ende. Stephan Oberli spricht von einem laufenden Prozess und einem neuen «Mindset», das sich auf allen Ebenen etablieren muss – weg vom Betreuen hin zum Befähigen, weg von althergebrachten hin zu ungewohnten, mitunter unkonventionellen Angeboten. «Es geht darum, Türen zu öffnen und Möglichkeiten zu schaffen, damit ­unsere Klientinnen und Klienten herausfinden, wer sie sind, was ihnen wichtig ist und wie sie ihr Leben gestalten wollen.»

Menschen mit Unterstützungsbedarf sollen möglichst viele und neue Erfahrungen machen dürfen: bei der Arbeit, beim Essen, beim Wohnen oder bei Freizeitaktivitäten. Wie der Mann mit mehrfacher Beeinträchtigung, der es sich ­unlängst zum Ziel setzte, unbegleitet mit dem Rollator den rund 30-minütigen Fussweg Richtung Stadtzentrum anzutreten. Er begann sein Training mit kurzen Geheinheiten im Quartier, vergrösserte nach und nach den Bewegungsradius, bis er sich eines Tages für genug fit erklärte, um die gesamte Strecke im Alleingang in Angriff zu nehmen – zum ­Erstaunen eines Angehörigen, dem er in der Stadt zufällig begegnete und der sich über das Vorgehen des Heims ­zunächst befremdet zeigte. 

Doch gerade solche Experimente mit ungewissem Ausgang gehören zum Paradigmawechsel. Stephan Oberli: «Unsere Klientinnen und Klienten dürfen experimentieren, denn neue Erfahrungen geben dem Ich erst richtig Kontur. Das heisst für Personen aus dem Umfeld des Betroffenen, von Überbehütung und -betreuung Abstand bzw. in Kauf zu nehmen, dass Experimente gewisse Risiken mit sich bringen.» Denise Gurtner, Leiterin des Bereichs Wohnen, nickt. Jemandem etwas Neues zuzutrauen, sei oft eine höchst anspruchsvolle Gratwanderung. «In der Begleitung müssen wir einen Zustand manchmal einfach aushalten, statt subito zu intervenieren. Gleichzeitig können wir jemanden auch nicht x-mal scheitern lassen.» Achtsames Beobachten helfe, die richtige Balance zwischen Risiko und Sicherheit zu finden. 

Oli: flauschiger Zuhörer mit Superkräften

«In jeder Person ist ein Samen angelegt, dem wir einen guten Nährboden zum Wachsen bereitstellen können», ist Denise Gurtner überzeugt. Dafür ist ein Gegenüber notwendig, das zuhört und hinschaut; ganz besonders bei Menschen, deren Kommunikation erschwert ist und die mit Gesten, Geräuschen oder Tönen signalisieren, wie es ihnen geht. 

«Es geht darum, Türen zu öffnen und Möglichkeiten zu schaffen, ­damit unsere Klientinnen und ­Klien­ten herausfinden, wer sie sind, was ihnen wichtig ist und wie sie sich entscheiden wollen.» Stephan Oberli, Gesamtleiter

Die stetige Dokumentation dieser Ausdrucksformen hilft dem Team, Äusserungen richtig zu deuten und Finessen in der Kommunikation wahrzunehmen.

Auch die Unterstützte Kommunikation (UK), die im ­Discherheim in den letzten Jahren ausgebaut und professionalisiert worden ist, leistet im Alltag wertvolle Dienste. Eine multimodale Kommunikation mit Piktogrammen, ­Visualisierungen, Gesten, Gebärden und technischen Kommunikationsmitteln gehört laut Nicole Danis, UK-Fach­verantwortliche, heute zum Standard. Sie ermöglicht es Menschen ohne Lautsprache, aktiv am Leben teilzunehmen, und unterstützt sie auf ihrem Weg zum Ich.

Ein Ziel, das auch die Basale Stimulation verfolgt; sie findet in der Pflege, der Betreuung und sämtlichen Angeboten des Discherheims Anwendung und ermöglicht es, das Innen und Aussen bewusst wahrzunehmen. Und auch beim Snoezelen werden die Angebote ganz spezifisch auf die jeweilige Person abgestimmt, damit sie ein Gefühl für den eigenen Körper entwickelt. «Nichts muss, alles kann» lautet die Devise hinter diesem Angebot, welches Entspannung durch gezielte Sinnesreize herbeiführt. 

Und da wäre noch Oli, ein gern gesehener Gast im ­Discherheim. Ob im Einzelsetting oder bei Besuchen auf den Gruppen: Oli öffnet Herzen, löst Zungen, lässt Tränen fliessen und Träume greifbar machen. Die einfühlsame Schosspuppe, die Helga Willimann beim therapeutischen Figurenspiel zum Leben erweckt, schafft auch für schwierige Themen eine Bühne. Etwa, wenn sich jemand innigst wünscht, eine Familie zu gründen. «Oli kann helfen, Dinge von einer anderen Seite zu beleuchten, Trost spenden und das Gegenüber befähigen, sich selbst Lösungen auszudenken», so Helga Willimann.

Gefässe für Partizipation schaffen

Neue Tools und Ideen, um der eigenen Identität auf die Spur zu kommen – das wird bei der Tour d’horizon zum Thema klar –, stossen im Discherheim auf offene Ohren. Tanja Zimmermann, die den Bereich Agogik leitet, nimmt zwei Bücher in unterschiedlichen Formaten zur Hand: Die sogenannten Ich-Bücher und die Biografiearbeit sind weitere Mittel, um darzustellen, was einer Person wichtig ist. Die aufwendig gestalteten Werke dokumentieren wichtige ­Lebensstationen und Erfahrungen. «Unsere Klientinnen und Klienten können so auch später im Leben auf das ­zurückblicken, was bisher passiert ist, und entwickeln ein Bewusstsein für die eigene Biografie.»

Eine weitere Möglichkeit, um neue Erfahrungen zu ­machen, ist der im Jahr 2022 gegründete «Klient*innen-Rat». Dieser trifft sich einmal im Monat, entscheidet über Inhalte des Jahresberichts oder Themen aus der Geschäftsleitung, holt Meinungen aus den Wohngruppen ein, übernimmt Teilaufgaben für Events und bringt sich punktuell ins Tagesgeschäft ein. «Wenn wir als Institution Türen fürs Mitbestimmen öffnen, passiert immer wieder Überraschendes», freut sich Tanja Zimmermann. 

Keine Carte blanche

Die Bereichsverantwortlichen im Discherheim sind sich ­einig: Je mehr Wahl- und Partizipationsmöglichkeiten die Klientinnen und Klienten erhalten, desto leichter wird es für sie, die eigene Identität zu entdecken. Hinzu kommt: Wenn der Fokus auf deren Bedürfnissen statt auf starren Abläufen liegt, wird auch für die Mitarbeitenden die Arbeit lebendiger und bedeutsamer, so der Tenor unter den Anwesenden am Sitzungstisch. 

Doch was passiert, wenn ein Anliegen nicht umsetzbar ist? «Gewisse Wünsche lassen sich aufgrund personeller oder finanzieller Ressourcen nicht erfüllen. In solchen Situationen versuchen wir, dem Gegenüber zu signalisieren, dass wir das Bedürfnis ernst nehmen, suchen nach Alternativen und begründen den Entscheid», hält Stephan Oberli fest. Doch es bleibt selten beim Nein: «Die Bewegungsfreiheit in den bestehenden Strukturen ist meist viel grösser als angenommen; etliche Grenzen sind selbstauferlegt und lassen sich verrücken. An uns ist es, den Klientinnen und Klienten laufend neue Übungsfelder zugänglich zu machen.» Eine Flexibilität, auf die auch die nächste Generation pocht: ­Gerade jüngere Klientinnen und Klienten treten heute selbstbewusster auf und können ihre Anliegen gut artikulieren, so die Erfahrung der Mitarbeitenden. 

Taten statt Worte

Türen öffnen, Angebote schaffen, ermutigen, zuhören: Das Discherheim hat es zur obersten Priorität erklärt, die Klientinnen und Klienten in den Mittelpunkt zu stellen. «Wir sind heute weiter als gestern», bilanziert Stephan Oberli. Um den Vorgaben der UNO-BRK in den eigenen Mauern gerecht zu werden, wünscht er sich aber ein noch höheres Tempo und die Bereitschaft des gesamten Personals, neue Erfahrungsräume zu öffnen. «Selbstbestimmung und Partizipation dürfen nicht nur Lippenbekenntnisse sein. Wir alle sind angehalten, neue Wege einzuschlagen.» Ein Votum, das auch auf der letzten Seite des neuen Agogikkonzepts mit einem Zitat von Benjamin Franklin in grossen Lettern Niederschlag gefunden hat: «Gut gemacht ist besser als gut gesagt.» 
 

 



Einsatz. Foto: Discherheim