INNOVATIONEN | «Die Richtlinien des künftigen Hauses der sozialen ­Innovationen und Solidarität erarbeiten.»

14.06.2023 Anne Vallelian

Am Ufer des Flusses Asse, nur fünf Minuten vom Bahnhof Nyon entfernt, erstreckt sich die Fondation Esp’Asse über eine Fläche von 14 000 Quadratmetern. Seit mehr als zwanzig Jahren stellt die Stiftung Selbsthilfe- und Eingliederungsorganisationen sowie Kunstschaffenden bezahlbare Flächen zur Verfügung. So findet man ein paar Meter neben dem Eingang der Hilfsorganisation Caritas im «Künstlergässchen» Maler und Fotografen. Die mit Glas überdachten, lichtdurchfluteten Pavillons sind der ideale Ort für Kreativität. In einem Gebäude ein Stück weiter oben belegt die Fondation Profa, die sich im Bereich der sexuellen Gesundheit engagiert, die obersten Stockwerke, während in den unteren Etagen Künstlerinnen und Künstler eingemietet sind. Unterhalb der Künstlergasse ist das leise Murmeln der Asse zu hören. Direkt oberhalb des Flussufers vermutet man ungenutzte Räumlichkeiten mit grossem Potenzial.

«Es gibt noch viel zu tun», sagt Fabienne Freymond ­Cantone mit einem Lächeln im Gesicht. Die Geschäftsführerin der Fondation Esp’Asse koordiniert das Bauprojekt des Hauses der sozialen Innovationen und Solidarität (MISS). «Der Ort ist einzigartig und birgt unendlich viele Möglichkeiten.» Weiter hinten entsteht in einem freien Lokal schon bald ein selbstverwaltetes Café. 

In den Räumlichkeiten auf zwei Stockwerken mit Sicht auf eine grosse Grünfläche kann man sich das gemütliche Ambiente der zukünftigen Buvette gut vorstellen. «Dies wird ein für alle zugänglicher Ausstellungsraum und ein Ort der Kulturvermittlung, um den Industriestandort aufzuwerten», erklärt unsere Gesprächspartnerin. Das Café markiert einen Projektmeilenstein, denn es steht für den Anfang des Hauses der sozialen Innovationen und Solidarität. Als Inbegriff eines Ortes der Begegnung bringt das Café Menschen zusammen und fördert neue Projekte. Im daran angrenzenden Lokal wird sich die Reparaturwerkstatt Ecrou einrichten. «In meinen Augen verkörpert der Standort als Ganzes bereits das Haus der sozialen Innovationen und Solidarität. Die Erbauer dieser Räumlichkeiten schufen soziale Innovation, ohne es zu wissen.»

Den sozialen Zusammenhalt fördern

Der visionäre Pädagoge Jean-Michel Rey eröffnete 1996 im Kanton Waadt eine erste Einrichtung, um arbeitslosen, aber arbeitsmarktfähigen Jugendlichen wieder auf die Beine zu helfen, die sogenannten Motivationssemester. Dieser erste Versuch war ein Erfolg. Schon bald war mehr Raum für feste Kurse und für die Aufnahme von weiteren Jugend­lichen nötig. So wurde die Fondation Esp’Asse gegründet, um ein Industrieareal zu kaufen. Den Erwerb des Standorts Route de l’Etraz in Nyon finanzierten die UBS und die Loterie Romande. 

Der Verein Pro-Jet war geboren und nahm Fahrt auf. Pro-Jet belegte eines der Industriegebäude, doch das riesige Grundstück lud zur Unterbringung weiterer Mieter ein. So bezogen Organisationen und Kunstschaffende ihr Quartier, und der Branchenmix entstand von selbst. 

Gleich neben Pro-Jet befindet sich auch ein grosser Parkplatz. In vier Jahren wird dort das Haus der sozialen Innovationen und Solidarität entstehen. Wie kam es zu diesem Projekt? «Einerseits natürlich durch das Bebauungs­potenzial des Parkplatzes. Das Bauvorhaben wurde aber auch durch die geplante Passerelle zwischen der Strasse und der Schule hinter der Asse auf der Stadtseite begünstigt», sagt die Geschäftsführerin der Fondation Esp’Asse. Die Passerelle beruht auf einer Initiative der Stadt Nyon und wird gemäss ihrer Vision auf einem noch zu bauenden Gebäude aufliegen. Durch das Vermieten ihrer Flächen kann die Fondation Esp’Asse die Darlehen zurückzahlen und die Kosten decken. Gewinn erzielt sie aber keinen. Für ein Gelingen des Projekts braucht es deshalb Partner. «Die Stadt Nyon hat uns ihre Unterstützung zugesagt, jedoch geknüpft an die Bedingung, dass der zukünftige Bau im Zeichen der Innovation steht und weiterhin den sozialen Zusammenhalt fördert», präzisiert die Geschäftsführerin. Die Plattform Lives Social ­Innovation der Westschweizer ­Fachhochschule HES-SO und die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung, Innosuisse, zählen ebenfalls zu ihren Partnern. 

Ein gemeinschaftlicher Prozess

Mit der Initialzahlung von Innosuisse im Rahmen des Innovation Boosters «Co-Designing Human Services» (siehe Seite 16) konnte Esp’Asse eine Firma entschädigen, welche die Stiftung in den verschiedenen Phasen eines innovativen Gemeinschaftsvorhabens begleitete. In der ersten Phase trafen sich die verschiedenen Mieterinnen und Mieter. In ­einem zweiten Schritt wurden Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen eingeladen, darunter Seniorinnen und Senioren, Obdachlose oder Langzeitarbeitslose. Während dreier Tage diskutierten rund hundert Fachpersonen aus dem Hochschulbereich, dem Sozialwesen, aus Kultur, Wissenschaft und Politik, Leistungsbeziehende unterschiedlicher Art sowie Mieterinnen und Mieter in Workshops über das Projekt.«Die Inspiration war hoch und dank des kollektiven Wissens konnten wir die Richtlinien des künftigen Hauses der sozialen Innovationen erarbeiten», freut sich die Geschäftsführerin. 

Das Haus soll ein Restaurant mit einer Gemeinschaftsküche, solidarische Unternehmen, Coworking Spaces und Gemeinschaftsbüros beherbergen. Auch Aussenstehende sollen dazugehören. Das Gebäude soll allen offen stehen. «Die vor Ort schon jetzt vorhandene soziale Durchmischung muss auch im Haus der sozialen Innovationen gelebt werden», unterstreicht Fabienne Freymond Cantone. Die ­Passerelle soll eine direkte Verbindung zum zukünftigen Bau und den Lokalitäten schaffen, die durch regelmässige Veranstaltungen von einer hohen Dynamik geprägt sein werden. «Unser Ziel ist die Formalisierung der sozialen Innovation, weshalb die Hochschulen auch ihren Platz haben müssen.» Insgesamt entstehen auf dem Parkplatz zwei Gebäude. Das zweite Haus ist als Mietobjekt vorgesehen, auch wenn das Konzept dafür noch erarbeitet werden muss. 

Eine neue Art zu bauen entwickeln

Zurzeit arbeitet Esp’Asse mit verschiedenen Hochschulen zusammen: der Haute école de travail social et de la santé Lausanne, der Haute école de travail social Genf sowie der Hochschule für Technik und Architektur Freiburg. Das Ziel ist die gemeinsame Arbeit an einem innovativen Ansatz zur Entwicklung des Architekturprojekts MISS. Diese Zusammenarbeit mit den Westschweizer Hochschulen ist ein weiterer Meilenstein des Gemeinschaftsvorhabens. Die ­HES-SO und die Fondation Esp‘Asse haben von Innosuisse über die Förderung im Rahmen des Innovation Boosters hinaus einen zusätzlichen Kredit erhalten. Damit kann eine Forscherin entschädigt werden, die verschiedene neue Lösungsstrate­gien für Planung und Bau des zukünftigen MISS-Gebäudes und des Mietobjekts untersucht. «Im Moment wissen wir noch nicht genau, in welche Richtung es geht, da sie noch daran arbeitet», erklärt Fabienne Freymond Cantone. «Das Gemeinschaftsvorhaben werden wir aber auf jeden Fall ­weiterverfolgen, ohne jedoch das Ziel aus den Augen zu verlieren.» Ein weiterer Schlüsselfaktor ist der Architekturwettbewerb. Für die innovative Leistungsbeschreibung des Wettbewerbs zählt die Fondation Esp’Asse auf die Unterstützung der Forscherin. «Die Architektur muss mit den Normen brechen», unterstreicht die Geschäftsführerin. «Die soziale Innovation muss in erster Linie in der Bauweise ­liegen. Wir möchten mit unseren Partnern zusätzlich eine andere Bauart entwickeln.» Aufgrund der besonderen Gestaltung der Räumlichkeiten sollen – gemeinsam mit Mietendenden und Leistungsbeziehenden – neue, solidarische Unterstützungsmodelle möglich werden. 

Soziale Durchmischung als tragendes Konzept

Obwohl die Geschichte in Nyon beginnt, dürfte das Haus der sozialen Innovationen und Solidarität über die Stadt- und Kantonsgrenzen hinaus Bekanntheit erlangen. «Das Projekt hat eine Vorbildfunktion», bekräftigt die Geschäftsführerin. «Wir wollen zeigen, dass das Konzept der sozialen Durchmischung auf längere Sicht nachhaltig, tragbar und übertragbar ist. Das ist sehr ambitioniert, aber wir glauben daran. Für die Entwicklung von richtungsweisenden Modellen haben wir Forschende beigezogen.» Das Ziel der Fondation Esp’Asse ist das Wiederherstellen der Interdisziplinarität im zukünftigen Haus der sozialen Innovationen und Solidarität. «Die soziale Innovation steht in direkter Verbindung zur Interdisziplinarität, aber diese Kenntnis ist seit sechzig Jahren in Vergessenheit geraten.» Fabienne Freymond Cantone glaubt an das Raumplanungsprojekt und die Kooperation mit Kulturschaffenden, dem Sozialbereich sowie der Wirtschaft und der Politik. «Das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Bereichen wird uns in Sozialprojekten einen Schritt weiterbringen.» 
 


Fabienne Freymond Cantone ist Geschäftsführerin der Fondation Esp’Asse
 


Foto: Esp’Asse