INNOVATIONEN | Handeln statt warten

14.06.2023 Markus Leser

Markus Leser, Senior Consultant des Branchen­verbands CURAVIVA, wirbt in seinem Essay dafür, dass sich Organisationen der Langzeitpflege mit Neugier und Mut aktiv an der Lösungssuche der vielen nicht ganz einfachen Problemstellungen beteiligen.

Für diesen Artikel möchte ich zunächst der folgenden Frage nachgehen: Wie passen Innovationen und Alltag in den Alters- und Pflegeinstitutionen zusammen? Auf den ersten Blick scheint dies ein Widerspruch zu sein. Nach meinen inzwischen 20 Jahren in der Verbandsarbeit fällt mir auf, dass wir im Gesundheitsbereich – und hier vor allem in der Langzeitpflege – eine «Gemeinschaft der Wartenden» zu sein scheinen. Immer wieder sitze ich an Besprechungen, bei denen es um die Suche nach Lösungen für nicht immer einfache Problemstellungen geht, die der demografische Wandel bekannterweise mit sich bringt.

In diesen Besprechungen fallen dann oft Sätze wie: «Das sollen der Bund, der Kanton, die Gemeinde, die Versicherer tun oder lösen», «Dieser oder jener soll …» Oftmals – zum Glück nicht immer – taucht die Frage gar nicht auf, was wir als Organisation oder Institution selbst tun können. ­Innovationen, und dies sei schon zu Beginn meines Artikels behauptet, fängt immer bei der eigenen Institu­tion an. Es ist die intrinsische Moti­vation, aktiv an der Lösungssuche eines Problems beteiligt zu sein, und dies vor allem im Interesse der eigenen Bewohnerinnen und Bewohner wie auch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Neugier und positive Bilder

Innovationen und die damit zusammenhängenden Gedanken bedingen immer einen Wechsel weg von der Problemsicht, hin zur Lösungssicht. Das scheint selbstverständlich, ist es aber nicht. Der Gesundheitsdirektor des Kantons Uri hat an der Generalversammlung unseres dortigen Kollektivmitgliedes – ARTISET Uri – den Anwesenden ein eindrückliches Feedback gegeben. Er machte in seinem Referat darauf aufmerksam, dass wir als ­Branche mit der Wahl unserer Worte vorsichtig umgehen sollten, denn Worte produzieren beim Gegenüber immer Bilder und Vorstellungswelten. So fragte er, warum wir als Branche immer vom «Personalmangel» sprechen und nicht die positive Wortwahl des «Personalbedarfs» benutzen würden.

«Wer innovative und richtungsweisende Projekte startet, wartet nicht auf irgendjemanden, sondern handelt einfach. Dazu braucht es vor allem eines: Mut.»

Da hat er meines Erachtens recht. Mit den Begriffen wie «Mangel» oder «Notstand» bespielen wir die Schreckensszenarien unseres Alltags, mit neutralen und positiv besetzten Begriffen einen Zustand, den es weiterzuentwickeln und zu entdecken gilt. Innovationen beginnen immer mit Neugier und positiven Bildern, die es zu erreichen gilt und die dann die Basis innovativen Handelns ausmachen.

Und damit sind wir beim nächsten Punkt angekommen. Wer innovative und richtungsweisende Projekte startet, wartet nicht auf irgendjemanden, sondern handelt einfach. Dazu braucht es vor allem eines: Mut. Hierzu ein Beispiel. Auf seiner Website schreibt das Bürgerspital Basel (BSB) Folgendes: «Auf dem neuen Westfeld-Areal bietet das BSB eine innovative Art des Wohnens für Menschen im Alter: halb privat und halb gemeinschaftlich. Das ist ideal für Menschen, die nicht mehr allein wohnen möchten und sich den persönlichen Ansprüchen entsprechende Betreuung wünschen.» So gibt es dort im 3. Stockwerk des ehemaligen und heute umgebauten Felix-Platter-Spitals private Studios, kombiniert mit verschiedenen Gemeinschaftsräumen.

Natürlich benötigt es viele Diskussionen bis man in Institutionen neue oder auch nicht ganz übliche Wege gehen kann. Vor allem aber benötigt es auch den Mut, den Weg zu gehen und die bekannten Pfade zu verlassen. Innovationen gehen immer mit einem Restrisiko einher. Werden – um beim Beispiel des Basler Bürgerspitals zu bleiben – die vorhandenen Studios vermietet, wird sich die Nachfrage wie berechnet und geplant entwickeln? Das sind Fragen, welche die Verantwortlichen beschäftigen. Innovationen sind ohne ein gewisses Restrisiko nicht zu haben, wenn Letzteres auch – so gut wie möglich – berechnet und modelliert werden kann.

Strategisch verankern

Gerade innovative Wohnmodelle für ältere Menschen richten sich immer und konsequent an den Bedürfnissen der Kundengruppe aus. Wenn sich ­diese wandeln, sind Innovationen gefragt. Wir wissen seit längerer Zeit, dass wir künftig sozialräumlich ausgerichtete Wohnformen benötigen, um auch dem integrierten Ansatz für Betreuung, Begleitung und Pflege älterer und hochbetagter Menschen gerecht werden zu können. Ohne eine Integration von Wohnen und Pflege werden wir den künftigen Herausforderungen als Branche nicht standhalten können.

«Für Innovationen brauchen wir Zeit. Und diese fehlt oft im engen Korsett des Arbeitsalltags.»

Die Vision Wohnen 2030 von CURAVIVA und auch das Instrument Elia ­verfolgen diesen Gedanken. Unzählige Betriebe aus dem Pflegeheimsektor sind diesen Entwicklungen gefolgt und haben innovative, sozialräumliche Angebote geschaffen und damit den gesamten Sozialraum von wartenden Akteuren zu gemeinsam handelnden Akteuren neu gestaltet.

Noch etwas benötigen wir dringend – und damit wären wir wieder bei der eingangs erwähnten Fragestellung: Für Innovationen brauchen wir Zeit. Und diese fehlt oft im engen Korsett des Arbeitsalltags. Es wird heute – zu Recht – von Betriebsführenden immer mehr beklagt, dass der administrative Aufwand in den Heimbetrieben immer stärker zunimmt, die alltägliche Arbeit erschwert und vielfach auch erdrückt. Der Branchenveband CURAVIVA hat zusammen mit Senesuisse eine erste Übersicht erstellt, wie viele Gesetze es auf nationaler Ebene gibt, die Vorgaben und administrative Folgearbeiten für die Betriebe verursachen. Es sind allein auf nationaler Ebene 30 Gesetze und Verordnungen, kantonale oder gemeindeeigene Vorgaben nicht mitgerechnet. Eine solche Überregulierung ist der Innovationskiller per se.

Dennoch gibt es Hoffnung. Jede Trägerschaft braucht mindestens eine Fachperson, die Zeit und auch die ­Fähigkeiten hat, innovative Lösungsansätze auf strategischer Ebene zu suchen, idealerweise zusammen mit interessierten Partnerorganisationen. Die Umsetzung innovativer Lösungsansätze gelingt nur, wenn diese auch strategisch verankert sind.

Neue Denkmethoden

Noch ein Beispiel zum Schluss: Kürzlich war ich Gast bei einem Workshop mit Innenarchitekten. Der Workshop wurde nach der Methode des «Design Thinking» moderiert und durchgeführt. Es ging dabei darum, ein innovatives und sozialräumliches Wohnmodell zu entwickeln. So erhielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Aufgabe, ein Bild dieses Modells mittels Lego- und Playmobil-Bausteinen zu entwickeln.

Es war einer der interessantesten Workshops, die ich je besucht habe. Da war eine Gruppe erwachsener Frauen und Männer zusammen und baute ein Modell aus Lego. Der eine oder die andere mag nun denken, dass man für Legospiele keine Zeit habe. Ich rate allen, sich genau für einen solchen Prozess Zeit zu nehmen. Innovative Gedanken werden auf diese Weise in konkrete und fassbare Bilder übersetzt. An langweiligen Sitzungen entstehen nach meinen Erfahrungen die wenigsten Innovationen. Mit Bildern kommen wir in der Umsetzung deutlich weiter als mit Worten. Ohne gemeinsame Bilder gibt es keine Innovationen. Probieren Sie’s aus.
 


Elia – Enable Living In Autonomy

Die integrierte und sozialraumorientierte Versorgung ist einer der erfolgversprechendsten Ansätze, um die Lebensqualität von älteren Menschen und Menschen mit chronischer Erkrankung zu verbessern. Damit die Institutionen von den Erfahrungen anderer profitieren können, haben der Branchenverband CURAVIVA, das Institut et Haute Ecole de la Santé La Source sowie das Senior-Lab im Rahmen eines von Gesundheits­förderung Schweiz mitfinanzierten Projekts für die Planung und Durchführung einer solchen Umstrukturierung unter anderem das Online-Instrument zur Selbstevaluierung, Elia, entwickelt. Mit diesem Instrument können alle am Thema der integrierten und sozialraumorientierten Versorgung interessierten Organisationen ihr Weiterentwicklungspotenzial bestimmen. Die Ergebnisse werden in einem Netzdiagramm dargestellt, was den Vergleich mit anderen Organisationen (Benchmarking) und eine zeitliche Nachverfolgung ermöglicht (regelmässige Neubewertungen). Das Elia-Instrument schlägt zudem konkrete und individuelle Empfehlungen entsprechend dem jeweiligen Organisationsprofil vor. Die Nutzung des Instruments ist kostenlos.

elia-assessment.ch
 


Foto: Esf