INNOVATIONEN | Erzählen mit Bildern

14.06.2023 Anne-Marie Nicole

Um sich mit Piktogrammen in allen Situationen des Alltags und für alle verständlich ausdrücken zu können, hat die Fondation Clair Bois ein universelles Hilfsmittel entwickelt: den Kommunikations­fächer mit 24 Bildern.

Die Fondation Clair Bois wurde vor mehr als 45 Jahren im Kanton Genf gegründet. Ihre Hauptaufgabe liegt in der Begleitung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit mehrfacher und komplexer Behinderung und einem hohen Grad an Pflegebedürftigkeit sowie starken motorischen, sprachlichen, kommunikativen und Wahrnehmungseinschränkungen. 

Seit einigen Jahren besteht die Stiftung aus vier verschiedenen Zentren mit unterschiedlichen spezifischen Leistungsangeboten. Das Kinder- und Jugendzentrum bietet vorschulische und schulische Aktivitäten für Kinder und Jugendliche mit komplexer Behinderung an. Es zählt zwei Schulen und Schulheime, welche die Kinder flexibel und mit Rücksicht auf ihre Bedürfnisse, die sich laufend ändern können, quasi à la carte aufnehmen. 

Der Standort Chambésy betreut 30 Kinder mit komp­lexer Behinderung von ihrer Geburt bis zum Alter von 10 Jahren. Die Kinder bauen hier ihr Wissen und ihre Kompetenzen auf und entwickeln ihre kognitiven Funktionen und sozio-affektiven Fähigkeiten unter anderem durch sprachliche Aktivitäten, das Erkunden der Umwelt und die Sozialisierung. «Wir fördern die Entfaltung und Soziali­sierung der Kinder. Dies erfordert eine angepasste Schule, Begegnungen und den Kontakt mit der Umwelt. Wir fahren Ski, klettern, oder segeln. Wir leben aktive Inklusion», sagt Marc Gance, Geschäftsführer des Kinder- und Jugend­zentrums. «Unser Ziel ist eine möglichst gute Teilhabe, selbst bei schweren Behinderungen mit starken Einschränkungen in der mündlichen Kommunikation», ergänzt er und beruft sich dabei auf die Grundsätze der Behindertenrechts­konvention der Uno (UN-BRK) und insbesondere auf den Zugang zu Kommunikation gemäss Artikel 2: «Sprachen, Textdarstellung, Brailleschrift, taktile Kommunikation, Grossdruck, leicht zugängliches Multimedia sowie schrift­liche, auditive, in einfache Sprache übersetzte, durch Vor­leser zugänglich gemachte sowie ergänzende und alternative Formen und Mittel der Kommunikation, einschliesslich leicht zugänglicher Informations- und Kommunikationstechnologie.» Mit dem von ihr entwickelten Hilfsmittel für eine einfachere Kommunikation zwischen den Menschen mit Behinderung und ihren Begleitpersonen kann die Fondation Clair Bois fast alle Punkte abhaken.

Kommunikation ermöglichen

Der Kommunikationsfächer – so heisst das Hilfsmittel – ist nicht grösser als ein Handy und deutlich leichter. Er passt problemlos in die Tasche und ist so immer zur Hand. Er ist plastifiziert und darf also auch nass werden. Er öffnet sich wie ein Spiel von vierzehn Karten. Auf zwölf Karten findet man vorne und hinten Piktogramme und auf zwei Karten sind die zweimal zwölf Begriffe aufgelistet, die auf den beiden Seiten der Karten dargestellt sind, beispielsweise ja, nein, guten Tag, auf Wiedersehen, bravo, helfen, essen, zufrieden, verärgert, Angst oder Schmerzen. 

«Fast allen Kindern und der Mehrheit der Erwachsenen in Clair Bois ist die Kommunikation in Lautsprache verunmöglicht», erklärt Marc Gance. Infolgedessen ist es schwierig zu wissen, ob ein Kind noch Durst oder Hunger hat, ob es zur Toilette muss oder rausgehen möchte, ob es zufrieden ist oder Schmerzen hat. Für das Kind andererseits ist es schwierig zu sagen, was es will oder was es braucht. Dies kann zu Frustrationen führen. «Die Herausforderung ist deshalb, ihm die Kommunikation zu ermöglichen und die Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, beispielsweise eine Bewegung, Vokalisation, Berührung oder eben das Zeigen ­eines Piktogramms», führt er aus.

Jean-Michel Ripoli ist Ergotherapeut. Er arbeitet seit fast 25 Jahren bei Clair Bois, zuerst mit Erwachsenen, heute mit Kindern. In all dieser Zeit hat er mit den Bewohnerinnen und Bewohnern Bilder als Kommunikationsmittel verwendet. Das sticht auch sofort ins Auge, wenn man die Förderschule in Chambésy betritt: überall Piktogramme, an den Wänden, Türen, Schränken und Fensterscheiben. Sie dienen als Wegweiser für die Physiotherapie, das Schwimmbad, Sensorium, Esszimmer oder als Ankündigung des Wochenprogramms. Die langjährige Berufserfahrung kam Jean-Michel Ripoli bei der Entwicklung des Kommunikationsfächers – zusammen mit einer Logopädin, Fachlehrerinnen und einer interdisziplinären Arbeitsgruppe der Stiftung – entgegen. 

Nach zahlreichen Versuchen veranschaulichen die Piktogramme nun die wichtigsten und im Alltag der Kinder am häufigsten verwendeten Wörter. Für die Vervollstän­digung des Basiswortschatzes zog das Team die Eltern und Angehörigen bei. Zudem stützte es sich auf die Arbeiten von Isaac Francophone, einer international tätigen und auf unterstützte Kommunikation spezialisierten Organisation. «Es ist unglaublich, was man mit 24 Bildern alles erzählen kann!», sagt Jean-Michel Ripoli begeistert. 

Ein Basiswortschatz plus Aktivitäten

Die Piktogramme des Fächers findet man auch auf zwei A4-Blättern zu je zwölf Piktogrammen, die auf den Tischen im Esssaal und auf den Rollstuhltabletts kleben. Neben dem Basiswortschatz gibt es weitere Piktogramme, die sich für spezifische Aktivitäten wie Musik, Guetsli backen, Gartenarbeit oder für Spiele eignen oder auf die individuelle Situa­tion der einzelnen Kinder zugeschnitten sind. 

Damit dieser Bilderwortschatz unabhängig von den motorischen, kognitiven oder sensitiven Fähigkeiten jederzeit für alle zugänglich ist, bestimmt das pädagogische Team für jedes Kind seine bevorzugte Kommunikationsform. ­Anschliessend definiert es, welches Material für das Kind ständig in Griffnähe sein muss. «Die Vokalisation und Handzeichen sind die einfachsten Formen, man hat sie ­immer dabei. Braucht ein Kind aber die Piktogramme, um sich ausdrücken zu können, müssen wir darauf achten, dass es diese immer zur Hand hat», erklärt der Ergotherapeut. 

Der Mann, den Marc Gance «Géo Trouvetou» nennt, hat immer für jede Situation eine Lösung. Er ist verantwortlich für die elektronischen Hilfsmittel und verwaltet und programmiert diese auch. So hat jedes Kind sein eigenes ­taktiles Tablet mit dem Basiswortschatz, spezifischen Piktogrammen und Sprachsynthese. Einige haben auch einen Computer mit visueller Kontrolle. «Man muss kreativ sein und die Kinder gut kennen. Aber vor allem schafft man es nicht allein. Es ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit.» 

Der Schlüssel: lernen am Modell

Trotz des grossen und langjährigen Engagements hat sich die Sprache im Alltag noch nicht durchgesetzt. «Seit Jahren stellen wir den Kindern Hilfsmittel zur Entwicklung einer neuen Sprache zur Verfügung. Aber in ihrem Umfeld spricht diese kaum jemand.» Im Jahr 2018 nahm Jean-Michel ­Ripoli an einem Kongress von Isaac Francophone in Freiburg teil. Und hier offenbarte sich ihm die Lösung: lernen am Modell! «In der Regel entwickeln sich Kinder von ­Geburt an durch Nachahmung. Sie warten nicht bis zur Schule, um eine Sprache zu lernen. Hier müssen wir unabhängig von der Auffassungsgabe der Kinder genau das Gleiche tun», sagt Jean-Michel Ripoli. Es soll ein gemeinsames «Kommuni­kationsbad» entstehen, indem man alle, die mit den Kindern kommunizieren, zur täglichen Verwendung der Piktogramme als gemeinsame Sprache verleitet. «Man muss mit dem Beispiel vorangehen und systematisch auf die Piktogramme als Untertitel unserer gesprochenen Sprache zeigen. Die ­Resultate stellen sich nicht sofort ein, es kann Monate dauern, aber man darf sich nicht entmutigen lassen.»

Für den Einsatz der Piktogramme gibt es strategisch gute Momente: während der Betreuungszeit am Morgen oder am Abend; wenn das Kind Wahlmöglichkeiten hat, wie zum Beispiel beim Essen oder Musikhören. Damit die Kinder eine Chance bekommen, die für sie verwendbaren Wörter zu erkennen, muss man diese ständig zeigen. Es muss zur Alltagsroutine werden. Das ist noch nicht ganz geschafft, sagen Marc Gance und Jean-Michel Ripoli. Aber der Kommunikationsfächer wird mehr und mehr ein Arbeitsmittel der Stiftung, und die Teams der verschiedenen Zentren ­arbeiten vermehrt bereichsübergreifend. Sie fördern die Kontinuität des Hilfsmittels während der Entwicklung der Kinder von ihrer Kindheit bis zum Erwachsenenalter. 

Auch ausserhalb von Clair Bois stösst der Kommunika­tionsfächer auf Interesse. Andere Institutionen für Menschen mit Behinderung verwenden ihn, Elternvereinigungen in Förderschulen und einige Alterspflegeheime für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Für Spitäler wurde eine spezielle Ausführung mit 14 Piktogrammen entwickelt, um die Kommunikation mit dem Pflegepersonal und der Ärzteschaft zu erleichtern. 
 


Foto: amn