«In der Langzeitpflege steckt ein grosses ­Potenzial»

01.11.2023 Elisabeth Seifert

Der Branchenverband CURAVIVA ist eng verknüpft mit der «Vision Wohnen im Alter». Die zentralen Eckwerte definiert hat Markus Leser, Senior Consultant von CURAVIVA und ­zuvor Geschäftsführer des Verbands. Im Januar geht er in Pension. Der promovierte Gerontologe hat CURAVIVA während 20 Jahren mit seiner fachlichen Expertise geprägt.

Herr Leser, was bedeutet es für Sie ­als Profi für das Alter, selbst älter zu werden? Oder anders gefragt: Wie wird man professionell älter?

Kann man professionell älter werden? Ich glaube, das geht nicht. Seit rund 40 Jahren, ich war damals 27 Jahre alt, beschäftige ich mich mit Altersfragen. Etwas wissen über das Alter und das Alter selbst erleben, das ist aber nicht das Gleiche. Wissen kann man nicht in Emotionen übersetzen. Jetzt spüre ich den Abschied von dem, was mich Jahrzehnte lang begleitet hat. Es ist ein Einschnitt, den ich aber nicht als negativ empfinde. Der Abschied ist für mich eng mit dem Aufbruch in eine neue Lebensphase verbunden, was ich als sehr aufregend empfinde. Mit der Pensionierung bin ich erstmals seit meiner Studienzeit wieder völlig frei und kann die Zeit so gestalten, wie ich möchte.
 

Wie gehen Sie mit dem Krankwerden im Alter um, gerade auch dann im hohen Alter?

Ich hoffe, dass ich lange so gesund bleiben kann wie jetzt. In meinem Umfeld erlebe ich aber, dass dies nicht selbstverständlich ist. Wenn Bekannte in meinem Alter an einem Hirnschlag oder an Krebs sterben, dann gibt mir das zu denken. Die Gesundheit wird plötzlich zu einem sehr wichtigen Gut. Das hohe, multimorbide Alter ist nochmal etwas anderes. Ein ehemaliger Professor von mir, der jetzt 85 Jahre alt ist, sitzt im Rollstuhl und ist vollständig auf Hilfe angewiesen. Vor einer solchen Situation habe ich Respekt, auch eine gewisse Angst. Mein Wissen hilft mir aber, mich gut auf diese Zeit vor­zubereiten, zum Beispiel mit einer ­Patientenverfügung.
 

Während viele Menschen der Aus­­einandersetzung mit dem Alt­werden und dem Lebensende so lange wie möglich aus dem Weg gehen – beschäftigen Sie sich seit Ihrer Jugend mit diesen Themen. Weshalb das?

Nach dem Abschluss meines Studiums in Sozialarbeit bewarb ich mich eher zufällig auf die Stelle als Koordinator der Altershilfe in der Region Basel. Es gab gerade mal zwei Bewerber, niemand interessierte sich damals für das Thema. Ich bekam die Stelle, und das Thema Alter hat mich dann nicht mehr losgelassen. Das erklärt sich auch damit, dass ich eigentlich von meiner Grossmutter aufgezogen worden bin. Wir hatten einen Dreigenerationenhaushalt. Meine Grossmutter war meine psychologische Mutter. Das Thema Alter faszinierte mich beruflich immer mehr. Um mehr darüber zu wissen, habe ich dann Geronto­logie studiert.
 

Sie überblicken als Gerontologe mehrere Jahrzehnte: Wie hat sich der gesellschaftliche Umgang mit dem Alter und dem Altwerden verändert?

«Vom Naserümpfen bis zum Ernstnehmen», damit könnte man die Entwicklung seit den 70er-Jahren übertiteln. Die Gesellschaft machte mit der Wahrnehmung des Alters eine Entwicklung durch, die jeder Mensch in seiner eigenen Biografie erlebt. Bereits Mitte der 70er-Jahre wusste man, dass eine Zeit kommt, in der es sehr viele alte Menschen geben wird. Das wollte aber niemand wissen. In den 90er-Jahren dann, als immer mehr Gutverdienende in Pension gingen, entdeckte man die älteren Menschen als Konsumentinnen und Konsumenten und rümpfte die Nase nicht mehr.
 

Über das hohe Alter rümpft man heute immer noch die Nase …

Wir sind mit dem Naserümpfen eine Altersstufe hinaufgerutscht. Es wird aber heute viel mehr über das hohe Alter geredet als noch in den 90er-Jahren, auch über den Tod spricht man. Das zeigen etwa die Diskussionen über Exit. Gerade in der Wissenschaft ist das hohe Alter sehr präsent. Die gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit hinkt meistens etwas hinterher. Wenn es immer mehr alte Menschen in der Gesellschaft gibt, müssen wir uns dem Thema stellen. 
 

Einen grossen Teil Ihrer beruflichen Tätigkeit haben Sie im ­Bereich der stationären Langzeitpflege verbracht, zuerst ­­­bei der Tertianum AG und seit 2003 bei CURAVIVA. Was fasziniert Sie daran, obwohl niemand wirklich ins Heim will?

Wenn niemand ins Heim will, dann vor allem deshalb, weil die Menschen Angst haben vor dem Lebensende und dem Sterben. Im Bereich der Langzeitpflege steckt dabei ein grosses Poten­zial. Und zwar dann, wenn wir die Heime nicht mehr primär als Institution für die Pflege verstehen, sondern vor allem als Wohn- und Lebensort, der die Pflege integriert.

«In der Wissenschaft ist das hohe Alter sehr präsent. Die gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit hinkt meistens etwas hinterher. Wenn es immer mehr alte Menschen gibt, müssen wir uns dem Thema stellen.»

Im Jahr 2015 haben Sie mit einer ersten Version des Wohn- und Pflegemodells (WOPM) 2030 die stationäre Langzeitpflege in eine ganzheitlich verstandene Betreu­ung und Pflege eingebettet. Wie kam es dazu?

Die Grundlagen für das Modell hat die Gerontologie bereits in den 80er-Jahren geschaffen, und zwar mit der Entwicklung weg von einem ­defizitorientierten Blick auf das Alter hin zu einem Blick, der sich an den Kompetenzen und Ressourcen orientiert. Pflege und Betreuung sollen sich am effektiven Bedarf orientieren, und die betagten Menschen sollen dazu ermuntert werden, ihre vorhandenen Ressourcen einzusetzen. In meinen ersten Jahren bei CURAVIVA diskutierten wir immer wieder darüber, dass wir endlich wegkommen müssen von einem defizitorientierten Blick. 

… es vergingen dann aber noch einige Jahre bis zur Entwicklung des WOPM?

Um den Jahreswechsel 2014 /2015 wurde mir so richtig bewusst, dass wir immer die gleichen Fragen stellen. Anlässlich eines Treffens am 23. Dezember 2014 mit dem damaligen Präsi­denten von CURAVIVA Basel-Stadt wurde die Idee des WOPM geboren. Wir kamen zum Schluss, dass wir die Heime innerhalb ihres Sozialraums denken müssen. Die Eckwerte definierten wir dann im Verlauf des Jahres 2015. Damals dachten wir noch stark vom Gebäude her. Konsequent setzten wir den sozialräumlichen Ansatz im Jahr 2020 mit der «Vision Wohnen im Alter» um.
 

An welchen Vorbildern orientierten Sie sich?

Wir konnten mit unserem Konzept an die Entwicklungsarbeit des Kurato­riums der deutschen Altershilfe ­anknüpfen und diese fortschreiben. Deutschland ist generell in der Theorie immer sehr weit, aber es fehlen dann häufig die Ressourcen, um diese Ideen umzusetzen. 
 

Welches sind die zentralen Botschaften des Modells? 

Wohnen bildet immer die Grundlage, und dann gibt es ein Plus: Wohnen plus Pflege und Betreuung, plus Dienstleistungen, plus Alltagsgestaltung. Und das alles muss im Sozialraum verankert sein, also im Quartier, im Dorf, in der Region, in der Stadt. Die Ausgestaltung der einzelnen Elemente orientiert sich daran, wo diese erbracht werden. Das kann im angestammten Zuhause sein, im intermediären ­Bereich, in einem Wohn­ensemble mit Pflegewohn- und Demenzwohngruppen oder auch in einer klassischen Institution. 
 

Die Rezeption des ­Modells kann nur vor dem Hintergrund der ­integrierten Versorgung funktionieren. Wie erleben Sie den Fortschritt in diesem Bereich?

Heute gibt es ganz tolle Beispiele der integrierten respektive der koordinierten Versorgung, aber es gibt auch Regionen, wo diese noch praktisch nicht umgesetzt wird. Gut funktio­­­niert es immer dort, wo die ­koordinierte Versorgung ­strategisch verankert ist. Etwa bei den Trägerschaften der stationären und ambulanten Leistungserbringer oder aufseiten der kommunalen oder kantonalen Behörden. Viele Trägerschaften, gerade jene, die keine spezialisierten Fachleute haben, sind sich ihrer Verantwortung noch zu wenig bewusst. 
 

Schon heute fehlt vielfach Personal und Geld für eine adäquate Pflege und Betreuung. Wie wird das erst sein, wenn Ihre Generation in gut 20 Jahren auf professionelle Unterstützung angewiesen ist? 

Gerade im Bereich der Betreuung müssen wir alle mithelfen und können diese nicht einfach den Profis überlassen. Unser «Vision Wohnen im Alter» benennt neben den Profis ganz konkret Nachbarn, Angehörige und Freiwillige. Zu Letzteren gehören auch Rentnerinnen und Rentner. All diese Gruppen der Zivilgesellschaft sind aber noch viel zu wenig im Blick der Verantwort­lichen. Wir sollten gerade auch für diese attraktive Arbeits- und Einsatzmöglichkeiten in der Begleitung und Betreuung betagter Menschen finden. Sie dürfen und können aber nicht einfach «Lückenbüsser» von fehlendem Fachpersonal sein.
 

Welche Verantwortung sehen Sie aufseiten von Bund, Kantonen und Gemeinden?

Wir müssen endlich damit aufhören zu meinen, die Langzeitpflege und -betreu­ung darf nichts kosten. Das hohe Alter kostet einfach etwas, das können wir drehen und wenden, wie wir wollen. Wenn wir die Ebene der Gemeinde nehmen: Es wäre zum Beispiel ehrlich, wenn eine Gemeinde den Bedarf definiert und dafür dann auch die nötigen Finanzierungen bereitstellt. Es ist klar, dass die Gemeinde nicht jeden Luxuswunsch finanzieren kann, aber es geht darum, dass man in Rahmen eines politischen Prozesses den Bedarf festlegt. 

«Wir müssen endlich damit aufhören zu meinen, die Langzeitpflege und -betreu­ung darf nichts kosten. Das hohe Alter kostet einfach etwas, das können wir drehen und wenden, wie wir wollen.»

Die Facharbeit hat mich immer sehr interessiert. Und ich denke, dass wir hier auch einiges erreicht haben. Neben der «Vision Wohnen im Alter» haben wir gemeinsam mit anderen Akteuren das Vier-Stufen-Modell für das Betreute Wohnen entwickelt. Und innerhalb unseres Teams bei CURAVIVA haben wir zwecks Unterstützung der Branche unzählige Themendossiers erarbeitet. Immer wenn eine Frage aus der Praxis aufgetaucht ist, haben wir Antworten gesucht und praktische Anleitungen entwickelt. Erwähnen möchte ich besonders unsere Dossiers in den Bereichen Palliative Care und Demenz. Diese fachliche Arbeit für die Branche und die Kontakte mit den Pflegeheimen haben mir immer sehr viel Freude bereitet. 
 

Verbandsarbeit bedeutet auch, die Brancheninteressen gegenüber Politik und Behörden zu vertreten. Konnten Sie hier Pflöcke einschlagen?

CURAVIVA und damit auch die Branche ist heute in der Öffentlichkeit präsent und wird wahrgenommen. Zudem ­stehen wir in einem Austausch mit ande­ren Akteuren der Branche, unter anderem mit der Spitex und mit Senesuisse, und wir pflegen regelmässige Kontakte zu Politikerinnen und Politikern sowie Behörden der unterschiedlichen Staatsebenen. Ich denke, dass die politische Seite der Verbandsarbeit aber künftig noch stärker gewichtet werden muss. Das Politische, ganz ­besonders auch die Bündelung der vielfältigen, manchmal auch widersprüchlichen Brancheninteressen, war nie meine grosse Stärke. Meine Pensionierung kommt deshalb jetzt zu einem guten Zeitpunkt.
 

Sie selbst und auch der Philosoph und Publizist Ludwig Hasler ­werben dafür, dass sich gerade die jüngeren Rentnerinnen und Rentner weiterhin für die Gemein­schaft engagieren sollen. Wie halten Sie es damit?

Sobald ich CURAVIVA im Januar 2024 verlassen habe, werde ich eine Beratungsfirma eröffnen. Auf dieses Weise möchte ich mein Wissen einbringen, so lange dies für mich möglich ist. Gemeinsam mit anderen arbeite ich auch an einem Buchprojekt zur Babyboomer-­Generation. Daneben aber soll genügend Platz bleiben für den Ausbau meiner sportlichen Aktivitäten. ­Zudem planen meine Frau und ich eine ­längere Australienreise. 
 

Und wie steht es mit der ­nationalen Sensibilisierungskampagne für die Bedürfnisse des Alters, die Sie 2019 angedacht haben? ­­Jetzt hätten Sie Zeit dafür …

Eine solche Sensibilisierungskampagne zu organisieren, hat sich als sehr schwierig erwiesen. Schwierig ist es vor allem, die verschiedenen Altersorganisationen für gemeinsame Anlässe und Kund­gebungen zu gewinnen. Geplant war unter anderem eine Aktion auf dem Bundesplatz. Ich habe entschieden, mich aus der politischen Arbeit zurückzuziehen und mich auf die Weitergabe meines Fachwissens zu konzentrieren.


CURAVIVA-Kongress 2024

Unter dem Titel «AH! statt Ach. Wie wir mit Ideen und Tatkraft die Branche weiterentwickeln» findet am 24. und 25. Januar im Congress Center Basel der CURAVIVA-Kongress 2024 statt. Namhafte Referentinnen und Referenten diskutieren mit den Teilnehmenden über den Wandel der Branchenstruktur und deren Einflussfaktoren. Wei­tere Schwerpunkte betreffen die Altersentwicklung in der Gesellschaft, den Wandel der Arbeitswelt, die Individualisierungstrends und die Digitalisierung. Angesprochen sind Führungs­kräfte der Dienstleister für Menschen im Alter, Vertreterinnen und Vertreter der Branche, von Behörden, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft sowie Vertretende von Partnerorganisationen und weitere Interessierte. Anmeldung bis zum 3. Januar.
CURAVIVA-Kongress

 


Unser Gesprächspartner

Markus Leser, Dr., Jg. 1959, hat Soziale Arbeit studiert und dann ein Gerontologie-­Studium absolviert. Seit 2003 ist er für CURAVIVA tätig, zunächst als Leiter des Fachbereichs Alter von CURAVIVA Schweiz, von Januar 2022 bis Ende Januar 2023 als Geschäftsführer des Branchenverbands CURAVIVA und Mitglied der Geschäftsleitung von ARTISET und seither als Senior Consultant von CURAVIVA. Ende Januar 2024 geht er ­in Pension.

Christina Zweifel ist seit dem 1. November neue Geschäftsführerin des Branchen­ver­bands CURAVIVA und Mitglied der Geschäftsleitung von ARTISET.