SEELE PFLEGEN | Vernetzte Teams für guten Halt

01.11.2023 Claudia Weiss

Jugendliche mit grossen sozialen und psychischen Schwierig­keiten bringen sozialpädagogische Institutionen oft an die Grenzen. Die Modellstation Somosa Winterthur bietet eine Lösung: In dieser Kombi­nation aus sozialpädagogischer Einrichtung und jugendpsychia­trischer Klinik arbeiten Fachleute aus Sozialpädagogik, Arbeitsagogik und Psychiatrie in interdisziplinären Teams sehr eng zusammen.

Schwierige Situationen sind Fachleute in Institutionen gewöhnt. Manchmal allerdings stossen auch sie an ihre Grenzen: Wenn Jugendliche nebst den sozialen Schwierigkeiten eine psychiatrische Diagnose haben, die sich schwerwiegend auf den Alltag auswirkt. Solche Fälle von gravierenden psychischen Problemen bei Jugend­lichen nähmen generell seit Jahren zu, erklärt Jugendpsychiater Leonhard Funk: Stress aufgrund von Leistungs­orientierung, Schulsystem und sozialen Medien, gesundheitliche Sorgen und nie Pause von unzähligen Reizen – all das mache jungen Menschen immer mehr zu schaffen. Corona habe das Problem zwar nicht begründet, aber stark akzentuiert, besonders bei vulnerablen Jugendlichen.

Die Crux: «Es ist schwierig, einen passenden Platz zu finden, wenn die sozialen Probleme so gravierend sind, dass Jugendliche in der Jugendpsychiatrie nicht adäquat betreut werden können, und die psychischen Probleme so gravierend sind, dass sozialpädiatrische Institutionen die Jugendlichen nicht adäquat begleiten können.» Für junge Männer von 14 bis 18 Jahren – und demnächst auch für junge Frauen – gibt es in Winter­thur eine Lösung: Somosa, die sozial­pädagogisch-psychiatrische Station für schwere Adoleszenzstörungen. Funk ist dort seit vier Jahren ärztlicher Leiter, und er sagt, die tägliche enge Zusammenarbeit in den Teams mit Fachleuten aus Psychiatrie, Sozialpädagogik und Arbeitsagogik sei enorm wertvoll: «Der intensive Austausch hilft sehr beim Abwägen, welche pädagogischen oder therapeutischen Schritte zu einem bestimmten Zeitpunkt Sinn machen.»

Im Team unkonventionelle Lösungen finden

Wie bei jenem Jugendlichen, der nicht freiwillig in die Somosa kam und während Tagen nicht dazu zu bewegen war, morgens aufzustehen und den Tag in der Werkstätte zu verbringen. «In solchen Situationen hören alle vom Team gut hin», erklärt Benjo de Lange, Gesamtleiter Somosa. In diesem Fall habe sich der Sozialpädagoge mit der Thera­peutin und dem Arbeitsagogen ab­gesprochen, und schliesslich machten sie dem Jugendlichen gemeinsam einen Vorschlag: «Wenn du nicht einen Tag dort verbringen magst, dann magst du es vielleicht mit einem halben Tag versuchen. Oder zumindest mit einer Stunde.» Solche Einstiegs­hilfen oder gar Angebote à la: «Du magst nicht in die Werkstatt gehen? Okay, dann kommt die Werkstatt zu dir!» seien oft hilfreich, auch wenn ­sie viel Geduld brauchen, erklärt de ­Lange: Es gehe darum, Vertrauen aufzubauen. «Vor allem aber wollen wir ­­die vereinbarten Ziele zwingend erreichbar und ­realistisch formulieren, ­damit die Jugendlichen nicht immer wieder scheitern, sondern damit wir sie loben können.»

Zu niedrige Ziele seien nicht hilfreich, weil sie kränkend oder abwertend wirken, aber nieder­schwellige Unterstützung helfe oft beim Stabilisieren und Weiterkommen: «Die interdisziplinäre Zu­sam­menarbeit von allen Seiten fördert erste Erfolgserlebnisse, und diese wiederum helfen den Jugend­lichen, ihren Platz in der Gesellschaft wieder zu finden.»

Somosa ist anerkannt vom Bundesamt für Justiz und vom Amt für Jugend- und Berufsberatung ZH, steht aber zugleich als Jugendpsychiatrische Klinik auf der Spitalliste des Kantons Zürich. Rund die Hälfte der Jugend­lichen wird von Sozialbehörden, teils auch von der Kesb oder Jugendanwaltschaft überwiesen, die andere Hälfte kommt aus einer jugendpsychia­trischen Klinik. Wer in die Somosa eintritt, hat also nebst einer Zuweisung zwingend eine behandelbare psychiatrische Diagnose, die einen stationären Aufenthalt nötig macht. Benjo de Lange ist stolz auf seine Station, die nächstes Jahr das 30-Jahr-Jubiläum feiert, aber immer noch einen Modellcharakter aufweist: «Diese enge Zusammenarbeit von Sozialpädagogik und Psychiatrie ist in der Schweiz – und übrigens auch in den umliegenden Ländern – ein einzigartiges Angebot», sagt er. «Das gibt es in dieser konsequenten Verflechtung, die uns auch in sehr komplexen Fällen trag­fähig macht, sonst nirgends.»

«Die Fachleute funktionieren intensiv und auf Augenhöhe und unkompliziert miteinander.» Benjo de Lange

Wer also kommt in die Somosa? «Es sind multifaktoriell belastete Jugend­liche», erklärt Jugendpsychiater Leonhard Funk. Ganz unterschiedliche Faktoren können eine gesunde Entwicklung erschweren und zu chronischen psychischen Belastung führen. Unter anderem können das Erkrankungen oder Suchtthematik bei den Eltern, Scheitern in der Schule, fehlender sozialer Anschluss oder generell viele Wechsel und Abbrüche sein: «Wer zu uns kommt, hat in der Regel schon sechs bis acht Abbrüche hinter sich.»

Halt bekommen, um das Leben meistern zu können

Das Ziel der Teams ist daher, einen so stabilen Halt zu bieten, dass es genau dazu nicht mehr kommt. «Wir wollen nicht der nächste Abbruch sein», betont Funk. Vielmehr sollen die Jugendlichen zum ersten Mal ein tragfähiges Umfeld erleben, das den vielen Herausforderungen auf allen Ebenen gewachsen ist. Rund 6 bis 12 Monate dauert ein Aufenthalt in der Somosa, länger als oft bei Aufenthalten in der Jugendpsychiatrie üblich. In dieser Zeit erhalten die Jugendlichen zweimal pro Woche intensive Einzeltherapie, daneben besuchen sie oft eine Gruppentherapie, gearbeitet wird mit integrativen psychotherapeutischen Methoden.

Das in der Therapie Erfahrene können die Jugendlichen in der Wohngruppe gemeinsam mit den Fachleuten aus der Sozialpädagogik reflektieren. «In dieser Zeit lernen sie basale ­Themen wie Selbststeuerungsfähigkeit, Impulskontrolle, Affektregulation, Gefühle verstehen und aushalten können und sie im Alltag steuern», erklärt Funk. «Für manche Jugendliche kann es schon ein Fortschritt sein, wenn sie keine weiteren Rückschritte machen.» Aus­serdem sollen sich die Jugendlichen grundlegende Fragen zu ihrer Identität stellen: Wer bin ich, wer möchte ich sein, wer darf ich sein in der Gesellschaft? «Viele stehen an einem Punkt, an dem sie die Hoffnung aufgegeben haben und denken, sie bringen das nicht mehr auf die Reihe.»

Das Ziel der kombinierten Unterstützung besteht darin, dass Jugendliche so viel Halt bekommen, dass sie nach dem Austritt – sei dies nach Hause, in eine andere Institution oder in die selbstständigere Wohnform – den Heraus­­­­­­­­­­­­­­­­­for­­­­derungen des Lebens, auch des Berufslebens, gewachsen sind.

Beispiele könnten de Lange und Funk viele aufzählen, und in den Jahresberichten erzählen die Teams, wie die Zusammenarbeit funktioniert: im Bericht von 2020 beispielsweise bei «Sven», der schon früh eine schwere psychische Erkrankung der Mutter, Paarkonflikte der Eltern und unberechenbares Verhalten von Bezugspersonen unter Alkoholeinfluss miterlebt hatte. In der Pubertät entdeckte er Suchtmittel für sich und rutschte in die Kriminalität ab, und als er mit knapp 16 Jahren in die Somosa kam, hatte er bereits fünf abgebrochene Platzierungen und einen Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie hinter sich. «Sven reagierte meistens mit Wut auf alle möglichen Situationen», beschrieb Jens Konejung, Abteilungsleiter Sozialpädagogik. Auch Sozialpädagoge Stefan ­Lienhard erlebte ihn in der Arbeits­agogik als wenig kooperativ: «Diskussionen und Entwertungen gab es fast täglich.» Wie dann die Sozialpädagogen gemeinsam mit dem Psychotherapeuten Patrick Leemann, der Musiktherapeutin Verena Barbera und dem Kunsttherapeuten Manuel Boesch alle auf ihre Weise einen Zugang zum verschlossenen Jugendlichen fanden, ist eindrücklich auf untenstehendem Link zu lesen.

Psychotherapeut Patrick ­Leemann fasste zusammen: «Die enge Zusammenarbeit zwischen den Bereichen der ­Somosa erlaubte es, auch mit den Bezugspersonen der anderen Berufsgruppen gewisse Erklärungen für Svens Verhaltensweisen auszutauschen, sodass es allen zunehmend besser gelang, mit Svens nervendem und manchmal aggressivem Verhalten umzugehen.»

«In dieser Zeit lernen Jugend­­­liche basale Themen wie ­Impulskontrolle, Affektregulation, Gefühle ­verstehen und ­aushalten können.» Leonhard Funk

Die Zusammenarbeit an dieser Schnittstelle von Sozialpädagogik und Jugendpsychiatrie ist allerdings auch für die Teammitglieder intensiv. Gesamtleiter de Lange sagt halb im Scherz: «Wir betreiben quasi systemische Arbeit auch zwischen den verschiedenen Berufsgruppen.»

Gegenseitiges Lernen, innovative Prozesse, Offenheit und Transparenz, effizientes Arbeiten und eine lösungsorientierte Fehlerkultur, all das seien die Stärken der interdisziplinären Teams, sagt er: «Die Fachleute funktionieren intensiv und auf Augenhöhe und unkompliziert miteinander.» Und: «Sie wissen, was an anderen Orten nicht funktioniert hat, und können darauf aufbauen.»

Bedürfnisse rasch erfassen und gemeinsam handeln

Das intensive gemeinsame Vorortsein erlaube auch, schnell, situativ und ­flexibel Bedürfnisse zu erfassen und zu erfüllen. Aber einfach, Gesamtleiter de Lange und Jugendpsychiater Funk lächeln gleichzeitig breit, nein, einfach sei das beileibe nicht. De Lange sagt unumwunden: «Fachlichen Disput gibt es täglich!» Laufend werde debattiert, wo man ansetzen solle, ob die psychiatrischen oder die sozialen Auffälligkeiten zuerst angegangen werden sollen oder wie man in diesem oder jenem besonderen Fall vorgehen wolle. Und das sei gut so: «Solche Auffälligkeiten sind nicht stabil, einmal macht es mehr Sinn, sie pädagogisch anzugehen, manchmal psychiatrisch – das muss immer wieder neu bewertet werden.»

Wäre die Lösung für viele Probleme also simpel, und es braucht ganz einfach «mehr Somosa»? Funk und de Lange schütteln einhellig den Kopf. Nein, eine Einrichtung wie Somosa sei dort unterstützend, wo es sehr komplex sei. Aber bei allen Vorteilen sei das ­Modell doch nur für jene Jugendlichen anwendbar, bei denen tatsächlich ein Klinikaufenthalt angezeigt sei. Was aber schon längst klar ist: Es braucht Somosa auch für junge Frauen. Angedacht sei das Thema seit über zehn Jahren, jetzt ergab sich ein idealer Standort, auf dem die neue Wohneinheit gebaut werden konnte. «Das war längst notwendig, jetzt wird es endlich Realität», freut sich Benjo de Lange.

Damit komme eine neue fachliche Herausforderung auf die Somosa zu: «Das Prinzip bleibt gleich, die Themen werden ein bisschen anders», sagt de Lange. Er ist glücklich, dass er trotz der angespannten Situation das notwendige Personal aus den Bereichen Psychiatrie, Sozialpädagogik und Arbeitsagogik anstellen konnte. Nebst einer zusätzlichen Leitenden Ärztin werden auch weitere Mitarbeitende zum Team stossen, um die neuen Bedürfnisse abzu­decken. Somosa wird also modern – und bleibt beim Bewährten: bei der engen interdisziplinären Zusammenarbeit.
 


Sozialpädagogisch-­­­­­psychia­trische Modellstation

«Somosa» steht für «sozialpädagogisch-­­psychiatrische Modellstation für schwere Adoleszentenzstörungen». Die Modellstation wurde 1994 gegründet. Sie bietet Platz für 20 Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren, bisher ausschliesslich für junge Männer. Zum 30-jährigen Bestehen öffnet im Januar 2024 eine Station mit 8 Betten für ­junge Frauen.

somosa.ch

 

 

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