SEELE PFLEGEN | Von der Patientin zur Expertin aus Erfahrung

01.11.2023 Tanja Aebli

Gesund, krank. In der Klinik, nach der Klinik. Warten, erwarten. Andrea Zwicknagl kennt den Zustand, wenn die Seele schreit, ringt, sich windet. Fast 20 Jahre nach der Diagnose Schizophrenie setzt sie sich für einen anderen, differenzierteren Umgang mit psychischen Erschütterungen ein und versucht Lücken in einem System zu füllen, das manchmal zu kurz greift. 

Jung ist sie und tatentschlossen. Bereit, ins Kloster einzutreten. In die Stille, die alten Mauern, die Welt von Heiligengeschichten und Psalmen. «Ich war fasziniert ­­von dieser anachronistischen Lebensweise», sagt Andrea ­Zwicknagl im Rückblick. Nach zwei Jahren regelmässiger Besuche soll eine fünfwöchige Probezeit zeigen, ob seitens der Gemeinschaft wie auch der Nonne in spe die Zeichen auf Grün stehen für eine lebenslange Bindung an den Orden. 

Der Einstieg ist steil, der Rahmen streng: Einmal wöchen­tlich findet ein Gespräch statt, ansonsten wird geschwiegen. Still ist es, sehr still. «Bei drängenden Fragen hatte ich kein Gegenüber», erinnert sich Andrea Zwicknagl. Da ist diese neue, andere Lebenswelt, da sind existenzielle Entschei­dungen, die getroffen werden wollen. Ganz zu schweigen von den Gedanken, die plötzlich drehen, rasen, nicht mehr zur Ruhe kommen. Ein Karussell im Kopf, das sich dem Off-Modus verwehrt. Die 31-Jährige schläft kaum noch, den täglichen Routinen, die das Klosterleben vorgibt, kann sie nur mit grösster Mühe nachkommen. In den Fürbitten überfluten sie Worte und Gefühle. 

Eine Zäsur, eine Diagnose, ein Schema 

Die Klosterfrauen bringen sie zum Hausarzt, später in die psychiatrische Klinik. Eine gänzlich neue Erfahrung für die studierte Chemikerin und PR-Beraterin, die bislang kaum mit gesundheitlichen, geschweige denn psychischen Problemen zu tun hatte. Zehn Tage dauert der stationäre Aufenthalt in der Klinik, die sie mit der Diagnose Psychose, hochdosierten Medikamenten und dem Gefühl, das Geschehe­ne nicht fassen zu können, verlässt. 

«Für meine veränderten Wahrnehmungszustände hatte ich damals schlichtweg keine Sprache», sagt die heute 51-Jährige nachdenklich. «Noch bevor ich diese Erfahrungen für mich einordnen konnte, wurde mir das psychiatrische Deutungsmodell übergestülpt. Von einem Tag auf den andern galt ich als krank, gestört, behandlungsbedürftig.» Symptome werden beim Eintritt zwar erfragt, um sie diagnostisch einzuordnen, doch ein echter Dialog bleibt aus. Erst viele Jahre später kann Andrea Zwicknagl einen anderen Blick auf das werfen, was geschehen ist, adäquate Worte dafür finden und Fragen formulieren – auch unangenehme.

Worte statt Pillen, Dialog statt Monolog

«Wieso interessierte sich damals niemand dafür, was mich beschäftigte und was ich in diesem Moment gebraucht hätte?» Da war kein vertiefter Austausch, kein Miteinander. Und auch bezüglich der psychiatrischen Versorgung, wie ­sie sie am eigenen Leib erlebt hat, stellt sie heute vieles grundsätzlich­­­ in Frage: «Mit Medikamenten wurde versucht, meine Psyche wieder auf Kurs zu bringen, mich vom ­kranken in den gesunden Zustand zu manövrieren.» Eine Möglichkeit, den dahinterliegenden Konflikt zu reflektieren, sei nicht geschaffen und damit auch die Chance vertan worden, die wahren Wurzeln des Geschehens besser zu verstehen. 

«Mit der Ausbildung bei Ex-In hat mein Genesungsprozess erst wirklich begonnen – mit der Erkenntnis, dass meine Erfahrungen etwas wert und wichtig sind.»

Genaues Hinschauen und Hinhören, da ist sich Andrea Zwicknagl sicher, wäre in ihrem Fall zielführender gewesen, auch auf lange Sicht: «Im Kloster hat meine Psyche eigentlich nur versucht, einen inneren Konflikt auf einer anderen Realitätsebene zu lösen», sinniert sie. Das psychiatrische Erklärungsmodell, wonach es sich bei einer Schizophrenie um eine Stoffwechselstörung im Gehirn handelt, die sich medikamentös beilegen lässt, greift laut Zwicknagl zu kurz. «Es ist keine Erkrankung, die einfach so vom Himmel fällt; die Vorgeschichte und der Kontext sind immer relevant.» Ein offener Dialog mit ihr wie auch mit den Schwestern der religiösen Gemeinschaft – das hätte sie sich während ihres stationären Aufenthalts in der Psychiatrie innigst gewünscht.

Der Wendepunkt 

Dazu kommt es nicht. Türen öffnen sich, andere gehen zu. Letztere beim Kloster, dessen Vorsteherin die Aufnahme davon abhängig macht, dass die junge Frau wieder gesund wird. Denn es fehlen – aufgrund des hohen Alters der Nonnen – die Ressourcen für eine adäquate Betreuung bei einer erneuten psychischen Erschütterung. Doch gerade solche diffizilen, instabilen Episoden prägen die nächsten vier Jahren. Eine rundum gesunde Andrea, wie sie der Orden zur Eintritts­voraussetzung macht, gibt es bis heute nicht. «Wer mit mir leben will, muss mit der Eventualität einer erneuten Erschütterung zurechtkommen», stellt Andrea Zwicknagl klar. 

Dennoch: Von diesen fixen Begrifflichkeiten wie «krank, gestört» beziehungsweise ihrem positiven Pendant «gesund, normal» hält die krisenerprobte Frau wenig. Passender findet sie das Bild von Möglichkeiten, die die Psyche wählt, wenn sie nicht mehr weiter weiss. Von einem bestimmten Seinszustand, wenn die Seele Klartext spricht. Zu diesem differenzierteren Blick auf psychische Erschütterungen gelangt sie während ihrer Ausbildung zur Genesungsbegleiterin beim Verein Ex-In im Jahr 2012. Ein eigentlicher Wendepunkt auf ihrem Recovery-Weg: «Hier hat mein Genesungsprozess erst wirklich begonnen – mit der Erkenntnis, dass meine Erfahrungen etwas wert und wichtig sind.»

Die Kraft der Vernetzung

Eine solch intensive Reflexion über die eigene Geschichte wird bei der Peer-Ausbildung als elementar angesehen, um zu einem späteren Zeitpunkt andere Menschen bei einer psychischen Erschütterung zu begleiten. Für Andrea ­Zwicknagl­­ beginnt ein neues Kapitel in ihrer bewegten Geschichte: «Ich sah mich nicht länger als Patientin, die gegen eine bedrohliche Erkrankung ankämpfen muss, und begann stattdessen, mein Innenleben genauer ­anzuschauen, mich meiner Verletzlichkeit zuzuwenden.» Zur Angst ­gesellt sich die Neugierde, zur Sprachlosigkeit eine Stimme. Auch die Vernetzung mit der weltweiten Community von Menschen mit Psychiatrieerfahrung bestärkt sie in ihrer Sichtweise, wonach sich psychische Erkrankungen nicht nach einem starren Schema beilegen lassen. «Es ist für mich ebenso befreiend wie bereichernd zu sehen, dass da viele Menschen über den ganzen Planeten verteilt sind, die ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht haben und nach neuen Wegen suchen.»

«Recovery ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.»

Open Dialogue: anders kommunizieren

Was Recovery für sie bedeutet? Andrea Zwicknagl wandelt in diesem Zusammenhang gerne ein Zitat von Vaclav Havel leicht um: «Recovery ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.» Eine Haltung, die sie auch in ihren heutigen Funktionen trägt und bestärkt. Etwa wenn sie ihre Erfahrungen bei der Begleitung von Patientinnen und Patienten einbringt und ihnen als Peer Zeit, Wertschätzung und unvoreingenommene Neugier schenkt. Und ihnen Hoffnung gibt, dass eine psychische Erschütterung durchgestanden werden kann. «Am wichtigsten ist es für viele, dass sie sich mit einer Person unterhalten können, die ähnliche Erfahrungen gemacht hat und mit den dunklen Seiten der Existenz vertraut ist», sagt Andrea Zwicknagl.

Um Kommunikation geht es auch bei ihrem Job in der psychiatrischen Abteilung des Spitals Interlaken, mit dessen mobiler Krisenbegleitung sie seit 2018 unterwegs ist. Hier arbeitet sie mit dem Open-Dialogue-Modell, also genau mit jenen Ansätzen, die sie sich in der eigenen ­Krise gewünscht hätte. Zusammen mit einer weiteren Person sucht sie Menschen in akuten Krisenzuständen zuhause oder in ihrem gewohnten Umfeld auf. Zum zehnköpfigen Team gehören Fachleute aus den Bereichen Psychologie, Psychiatrie, Pflege, Sozialarbeit und Peers. Open Dialogue setzt – wie es der Name bereits impliziert – auf Gespräche und das Netzwerk der Betroffenen.

«Wir servieren keine fixfertigen Behandlungsprogramme, sondern vermitteln den Leuten, dass wir für sie da sind», bringt es Zwicknagl auf den Punkt. Im besten Fall lassen sich so Einweisungen in eine Klinik verhindern und Lösungen im nächsten Umfeld des Betroffenen finden. Oder wie es Jaakko Seikkula, einer der Mitbegründer von Open Dialogue, formuliert: «Wenn jeder das Gefühl hat, gehört zu werden, brauchen wir keine Lösungen anzubieten. Sie ergeben sich von selbst.»

Verrückte Zugehörigkeit

Andrea Zwicknagl ist heute an vielen Ecken und Enden tätig, bringt ihre Erfahrungen ein, tauscht sich aus, kämpft für Veränderung: als Peer, Betroffenenvertreterin im Stiftungsrat von Pro Mente Sana, Co-Leiterin einer Gruppe zum Stimmenhören, Referentin an Fachhochschulen oder als Kursleiterin im Recovery College Bern. Sie besucht internationale Tagungen, vernetzt sich und will als Aktivistin aufzeigen, dass Krankheit und Genesung letztlich ein Konstrukt sind. 

«Ich führe ein spannendes, vielseitiges Leben, fühle mich mit vielen Leuten verbunden und habe die Deutungshoheit über mich und meine Geschichte zurückerobert», bilanziert Zwicknagl. Die Trennschärfe zwischen Sinn und Wahnsinn, zwischen Genesen und Kranksein gibt es in ihrem Curriculum bis heute nicht: «Einmal halte ich eine Rede vor 300 Leuten, ein andermal verkrieche ich mich für drei Tage unter der Bettdecke. Aber ich führe ein gutes Leben – nicht trotz, sondern wegen meiner Erfahrungen. Ich habe unter den Menschen, die wie ich für verrückt erklärt worden sind, jene Zugehörigkeit gefunden, die ich immer gesucht habe. Vielfältiger und unkonventioneller, als es im Kloster je ­hätte sein können.» 
 


Genesung gestalten

Infobroschüre von Pro Mente Sana: «Recovery. Wieder gesund werden, Rat und Informationen» 

Recovery Colleges, die es in Bern, Genf, der Ostschweiz, St. Gallen und Zürich gibt, schaffen Lern- und Austauschmöglichkeiten zu Themen rund um psychische Gesundheit. Infos

Ex-In Schweiz bildet Menschen mit psychischen Krankheits- und Genesungserfahrungen zu Peers weiter: ex-in-schweiz.ch

Netzwerk Stimmenhören.ch - ein Zusammenschluss von Stimmenhörenden, Fachpersonen und weiteren Interessierten: netzwerk-stimmenhoeren.ch

 


Unsere Gesprächsparterin

Andrea Zwicknagl vor der Johanneskirche im Berner Quartier Breitsch. Sie bringt ihre Erfahrung unter anderem als Betroffenenvertreterin im Stiftungsrat von Pro Mente Sana ein. 


Foto: Adrian Moser